Diabetologie und Stoffwechsel 2006; 1(2): 101-102
DOI: 10.1055/s-2006-931532
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ist die klinische Erfahrung ein Relikt aus der Vergangenheit oder ist sie notwendiger denn je?

W. Kerner1
  • 1Klinik für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten, Karlsburg
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Publication Date:
22 March 2006 (online)

Wie kommen Entscheidungen in der Medizin zustande, oder besser gesagt, wie sollten sie zustande kommen? Eigenartigerweise beschäftigt man sich als Arzt, der täglich Patienten sieht und zahllose solcher Entscheidungen zu treffen hat, nur wenig oder gar nicht mit dieser Frage. Früher haben die Philosophen unter den Medizinern über dieses Problem nachgedacht, es ist aber sicher ein wichtiges Verdienst der EBM-Bewegung, sich dieser Frage in den letzten 15 Jahren angenommen zu haben. Diese Autoren haben in der Vergangenheit zahlreiche Bücher und Artikel darüber geschrieben und es werden in Zukunft neue hinzu kommen. Deshalb ist es sicher vermessen, diese Frage in einem kurzen Editorial beantworten zu wollen. Ich will es trotzdem versuchen und mich auf die Darstellung der Auffassung der sehr einflussreichen EBM-Gruppe der McMaster Universität beschränken. Deren Antwort auf die Frage „Wie kommt eine ärztliche Entscheidung zustande?”, ist in Abb. [1] dargestellt.

Es sind drei Punkte, die in die Entscheidung unmittelbar einfließen:

der klinische Befund und die Gesamtsituation, in der die Entscheidung stattfindet der Wille des Patienten und das jeweils verfügbare beste medizinische Wissen über die Krankheit.

Als vierter Punkt kommt übergreifend die klinische Erfahrung hinzu, über die ein Arzt in den genannten Gebieten verfügt. Aus dieser Darstellung ist klar ersichtlich, dass das, worauf die Medizin in manchen Darstellungen und formalistischen, politisch motivierten Bewegungen heute reduziert wird, nämlich auf die Anwendung der „besten verfügbaren externen Evidenz” ein wichtiger, aber eben nur ein Teil des gesamten Entscheidungsprozesses ist.

Was ist nun unter der klinischen Erfahrung zu verstehen, die gewissermaßen den klinischen Befund, den Patientenwillen und das beste Wissen zusammenhält und ergänzt? Klinische Erfahrung meint das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre klinische Praxis erwerben. Die Erfahrung versetzt den Arzt in die Lage, bessere Diagnosen schneller zu stellen, die Situation des Patienten besser einzuschätzen, in einer Weise mit dem Patienten umzugehen, dass er den tatsächlichen Willen des Patienten erfährt, abzuschätzen, ob das verfügbare beste Wissen auf seinen Patienten anwendbar ist und vieles anderes mehr. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man den Begriff „Klinische Erfahrung” in all seinen Facetten beschreiben kann, quantitativ erfassen kann man ihn ohnehin nicht. Aus der klinischen Erfahrung können sich aber durchaus Ideen ergeben, die quantitativ nachprüfbar sind.

Hierzu ein Beispiel: Viele Diabetologen sind überzeugt, dass nicht wenige ihrer Patienten mit Typ 2 Diabetes mit kurzwirksamen Insulin-Analoga besser zu behandeln sind als mit Humaninsulin, d. h. es ist ihre klinische Erfahrung. Dies lässt sich nun durch die vorliegenden RCTs und Meta-Analysen nicht entsprechend belegen. Es sieht demnach so aus, als ob das „beste verfügbare Wissen” der klinischen Erfahrung widerspricht. Dies ist vermutlich nur ein scheinbarer Widerspruch. Die negativen Ergebnisse in den RCTs und Meta-Analysen sind an unselektierten Gruppen von Patienten mit Typ 2 Diabetes entstanden, während die positiven klinischen Beobachtungen an Untergruppen von Typ 2 Diabetikern gemacht werden, z. B. an nicht-übergewichtigen, jüngeren Patienten mit Typ 2 Diabetes. Diese Untergruppen waren in den RCTs unterrepräsentiert und konnten das Gesamtergebnis nicht beeinflussen. Daraus folgt, dass Studien an den entsprechenden Untergruppen gemacht werden müssen, die nach klinischer Erfahrung von der Therapie profitieren. Alternativ ist auch an sog. „N of 1 Trials” an einzelnen Patienten zu denken, d. h. bei ein und demselben Patienten in randomisierter Reihenfolge doppelblind Humaninsulin bzw. Analoginsulin über einen bestimmten Zeitraum verabreicht wird. Leider wurden derartige Studien bisher nicht durchgeführt. Was aus dem fehlenden Nachweis einer besseren Wirksamkeit von kurzwirksamen Analog-Insulinen in Meta-Analysen nicht folgen kann, ist der generelle Verzicht der Anwendung dieser Insuline bei Patienten mit Typ 2 Diabetes.

Zusammenfassend muss die am Anfang gestellte Frage mit einem eindeutigen Plädoyer für die Bedeutung der klinischen Erfahrung beantwortet werden. Sie ist wichtiger denn je, nicht nur für den in Klinik und Praxis tätigen Arzt, auch Mediziner, die die Wertigkeit von medizinischem Wissen beurteilen, können davon profitieren.[]

Abb. 1 Wie kommt eine ärztliche Entscheidung zustande? (Haynes et al. 2002)

W. Kerner

Literatur

  • 1 Haynes R B, Devereaux P J, Guyatt G H. Clinical expertise in the era of evidence-based medicine and patient choice.  Evidence-Based Medicine. 2002;  7 36-38(http://ebm.bmjjournals.com/cgi/content/full/7/2/36)

Prof. Dr. med. Wolfgang Kerner

Direktor der Klinik für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten

Klinikum Karlsburg der Klinikgruppe Dr. Guth GmbH & Co. KG

Greifswalder Str. 11

D-17495 Karlsburg

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