Allgemeine Homöopathische Zeitung 2006; 251(3): 139-140
DOI: 10.1055/s-2006-932333
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & CO. KG

Dr. med. Proceso Sánchez Ortega (1919-2005)

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Publication Date:
23 May 2006 (online)

„Ein wesentliches Merkmal menschlichen Daseins ist es, Liebe geben und empfangen zu können. Als Ärzte müssen wir verstehen, bis wohin unser Patient in der Lage ist, sich selbst zu lieben, d. h. in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben, in welchem Umfange er in der Lage ist, Liebe zu verstehen, zu geben und auch annehmen zu können. Hier liegt der eigentliche Grund jeglichen Krankseins.” (Proceso S. Ortega, 2002)

Proceso Sánchez Ortega wurde am 2. Juli 1919 in Tulancingo de Bravo, Mexiko, geboren. Unterstützt von seiner Mutter wuchs er in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater starb, als er ein Jahr alt war. Beeinflusst von seinem Grundschullehrer sowie vom Priester des Dorfes entschied er sich mit 13 Jahren alleine, ohne Familienanschluss, nach Mexiko City in eine weiterführende Schule zu wechseln. Noch vor Abschluss seiner Schullaufbahn kam er mit der Homöopathie in Berührung, als seine schwer kranke Mutter nach vergeblichen allopathischen Therapieversuchen vom damals herausragendsten mexikanischen homöopathischen Arzt und seinem späteren Lehrer, Dr. Eulalio Darios Flores, geheilt werden konnte.

1938 nahm er sein Medizinstudium an der „Escuela Libre de Homeopatía de México” auf, einer der beiden homöopathisch-medizinischen Fakultäten von Mexiko. 1944 beendete er sein Studium und promovierte mit einer Arbeit zum Thema „Natur und Homöopathie”. Aufgrund hervorragender Leistungen wurde er sofort als Dozent in diese Institution übernommen und begleitete diese über 20 Jahre lang als Lehrkraft. Er heiratete 1945 seine Frau Rebecca. Von den gemeinsamen 8 Kindern wurden die vier älteren homöopathische Ärzte. Über 60 Jahre praktizierte Proceso Sánchez Ortega unermüdlich in Mexiko City und betreute dabei bis wenige Wochen vor seinem Tode Patienten aus aller Welt.

Unzufrieden mit der Qualität der Ausbildung an der „Escuela Libre de Homeopatía”, gründete er 1960 seine eigene Schule „Homeopatía de México” deren Geschicke er bis zu seinem Tode bestimmte und prägte.

Aus seinem Lebenswerk ragen insbesondere drei große Aspekte heraus:

Zum einen das Studium der Philosophie und die damit verbundene Vertiefung aller bekannten und mit der Homöopathie in teleologischem Sinne eng verbundenen philosophischen Strömungen, wobei er sich deutlich von simplifizierenden oder mystifizierenden Tendenzen distanzierte.

Anderseits die Systematisierung und Didaktik der klinischen Anwendung der Homöopathie, wobei er wie nur wenige Lehrer der Homöopathie zuvor eine intensive Symptomdefinition und -differenzierung in der Anamnese und Repertorisation lehrte und demonstrierte, Kriterien für Palliativbehandlungen und den Umgang mit unheilbaren Patienten in der Homöopathie definierte, sowie auf eine exakte Umsetzung von Hahnemanns Vorgaben im Organon achtete.

Einen besonderen Schwerpunkt stellen seine Arbeiten und Forschungen auf dem Gebiet der Miasmenlehre dar. Seine Studien zur Erklärung, Vertiefung, Weiterentwicklung und praktischen Anwendung der Miasmenlehre Hahnemanns trugen ihm große internationale Anerkennung ein.

Diese drei Säulen bilden bis heute das Fundament seiner Schule. Erst nach Abschluss eines intensiven psychologischen, philosophischen, ethischen und anthropologischen Grundkurses kann der studierende Arzt das eigentliche Homöopathiestudium aufnehmen, welches sich nach Ortegas Vorgaben insbesondere durch ein mehrjähriges Studium des gesamten Organons sowie Hahnemanns Vorgaben zu den chronischen Krankheiten auszeichnet. Didaktisch geschickt werden hierbei verschiedene Organon-Paragraphen mit gemeinsamen Bezugspunkten zusammengefasst und analysiert.

Schon während seines Medizinstudiums, im Alter von 21 Jahren, begann er sich mit den Ursachen chronischen Krankseins auseinanderzusetzen. Forschungsergebnisse in der Anatomie, die Veröffentlichungen von Carl Gustav Jung, sowie Studien und Arbeiten bedeutender homöopathischer Kollegen wie Trousseau, Kent, Allen, Roberts und natürlich Hahnemanns Werk inspirierten Ortega, Hahnemanns Hinterlassenschaften zum Thema der Miasmen weiterzuentwickeln, zu vertiefen und in schlüssiger Weise der Praxis zugänglich zu machen.

Anlässlich unzähliger Seminare, Kurse und auf zahlreichen nationalen wie internationalen Kongressen propagierte und lehrte er in den vergangenen 50 Jahren unermüdlich die ursprüngliche Homöopathie Hahnemanns und bekämpfte jegliche Versuche, Kompromisse einzugehen oder Bestrebungen und Veränderungen am Grundgerüst der Homöopathie vorzunehmen. Er war ein charismatischer Lehrer, dem es nicht nur gelang, die Lernenden unwiderstehlich in den Bannkreis der Homöopathie zu ziehen, sondern der darüber hinaus ein feines Gespür dafür hatte, was er jedem Studierenden zumuten, bzw. an welcher Stelle er ihn fordern konnte. Als langjähriger mexikanischer Vizepräsident der Liga prägte er gemeinsam mit seinen Freunden Pierre Schmidt, Pablo Paschero und vielen anderen über Jahrzehnte die Geschicke der Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis.

Aus der enormen Anzahl an Veröffentlichungen und Vorträgen sollen nur seine zwei bedeutendsten Bücher hervorgehoben werden: „Die Miasmenlehre Hahnemanns” - Diagnose, Therapie und Prognose der Chronischen Krankheiten, übersetzt in 6 Sprachen, wobei inzwischen eine 6. deutsche Auflage existiert sowie „Die Lehre der Homöopathie” - in deutscher Übersetzung seit 2002 existent. Gerade dieses Werk verkörpert wie kein anderes die Synthese einer 50-jährigen Lehrtätigkeit Ortegas und das Bestreben, das Erbe Hahnemanns unverfälscht zu vermitteln. Beeindruckend war aber auch sein Mut, Weiterentwicklungen authentisch dort zu suchen, wo es Hahnemann aufgrund zunehmenden Alters nicht mehr möglich war.

In der Lehre der Homöopathie, im Vermitteln der Grundlagen, in der Suche nach Authentizität, in seinen Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen war Ortega ein unermüdlicher, sehr genauer, strenger, insistierender, unerbittlicher Lehrer und Forscher, der sich selbst und seinen Schülern vieles abverlangte. Im Umgang mit seinen Patienten bewies er ein hohes Maß an Empathie. Gerade diese ärztliche Grundhaltung, welche er in seinen Kursen unermüdlich lehrte, die Notwendigkeit sich dem Kranken einfühlend zuzuwenden, rundete letztendlich auch jede Anamnese ab - die Suche nach dem Wesentlichen, dem innersten Konflikt, welcher das Kranksein jedes Menschen prägt und bewegt.

Wir nehmen Abschied von einem sehr gebildeten, in materiellen Ansprüchen immer bescheidenen und in der internationalen homöopathischen Fachwelt hoch geachteten Menschen, welcher sein Leben als homöopathischer Arzt vollständig den Kranken und Studierenden der Homöopathie widmete und uneigennützig stets sein gesamtes Wissen allen zur Verfügung stellte, die bei ihm Fort- oder Weiterbildung suchten. Er wird uns gerade in seinen Bestrebungen, die Homöopathie in ihrer Ursprünglichkeit zu bewahren, als Vorbild in Erinnerung bleiben.

Ulrich D. Fischer

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