Psychother Psychosom Med Psychol 2006; 56 - A77
DOI: 10.1055/s-2006-934297

Real- und Idealbild von Familienbeziehungen bei Patientinnen mit Anorexie und Bulimie

G Reich 1, I Riedl 1
  • 1Abt. Psychosomatik und Psychotherapie, Universität Göttingen, Göttingen

Essstörungen sind in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf eng mit familiären Beziehungen verwoben. Mit Hilfe des Subjektiven Familienbildes (SFB, Mattejat u. Scholz 1994) sowie des SCL–90-R (Derogatis 1977, Franke 1995) wurden anhand der Daten von 203 Patietinnen (86 Anorektikerinnen, 117 Bulimikerinnen) folgende Hypothesen untersucht: 1. Bulimikerinnen schätzen ihre Familienbeziehungen als dysfunktionaler ein als Anorektikerinnen 2. Die Abweichungen zwischen dem idealen und dem realen Familienbild sind bei Bulimikerinnen größer als bei Anorektikerinnen 3. Die Diskrepanz zwischen Real- und Idealbild der Familienbeziehungen ist um so stärker, je dysfunktionaler die Familienbeziehungen wahrgenommen werden. 4. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Dysfunktionalität des Familiensystems und der allgemeinen psychischen Belastung der Patientinnen. Dabei wurden die Kovariaten Alter und psychische Belastung (GSI) kontrolliert. Ergebnisse: 1. Bulimikerinnen schätzten ihre Familien als dysfunktionaler ein als Anorektikerinnen (p=0,04). 2. Die Diskrepanz zwischen dem idealen Bild und dem realen Bild der Familie war bei bulimischen Patientinnen hinsichtlich der emotionalen Verbundenheit größer als bei Anorektikerinnen (p=0,03). Bezüglich der Autonomie zeigte sich kein Unterschied. 3. Die Diskrepanz zwischen dem Real- und dem Idealbild der Familie war entsprechend der Vorhersage um so stärker ausgeprägt, je dysfunktionaler die Familie gesehen wurde. Die Korrelationen waren sowohl für die Gesamtgruppe als auch für beide Störungsbilder signifikant (p < 0,01). 4. Die Unzufriedenheit mit den Familienbeziehungen (Differenz zwischen Real- und Idealbild) korrelierte signifikant mit der psychischen Belastung. Dabei gab es Unterschiede zwischen den Krankheitbildern. Fazit: Die jetzigen Ergebnisse weisen auf die Bedeutung der Diskrepanz zwischen realem und idealem Familienbild und auf weiter zu untersuchende Unterschiede zwischen Anorexie und Bulimie hin.