Psychother Psychosom Med Psychol 2006; 56(6): 231-233
DOI: 10.1055/s-2006-939994
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anschwellende Schrumpfgesänge

Rising Lamentations About Declining PopulationElmar  Brähler1 , Yve  Stöbel-Richter1
  • 1Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig AöR
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Publication Date:
01 June 2006 (online)

Nach dem II. Weltkrieg verlor Deutschland einen Teil seines Territoriums. Die ab 1949 existierenden zwei Teilstaaten mit unterschiedlichen politischen Systemen - die Bundesrepublik Deutschland und die DDR - mussten eine Vielzahl von Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten aufnehmen. Bis zum Jahr 1950 wurden im westlichen Deutschland rund 8,1 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge gezählt [1]. Die Einwohnerzahl pro Quadratkilometer in Deutschland erreichte dadurch einen neuen Höchststand und brachte viele Sorgen über Landschaftszersiedelung und die Zerstörung der Natur mit sich. Die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Deutschland stieg stetig an. Gastarbeiter, vor allem aus Italien und der Türkei, wurden ins Land geholt, ca. 4 Millionen Russland-Deutsche und Spätübersiedler aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern wurden in das Land aufgenommen.

Die DDR verlor sehr viele Menschen durch Flucht, vor allem in die Bundesrepublik Deutschland. Vom September 1949 bis zum Mauerbau im August 1961 flüchteten „offiziell” mindestens 2,7 Millionen Menschen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Schätzungen gehen jedoch von weitaus höheren Zahlen aus, da die amtliche Statistik nur diejenigen erfasste, deren Weg über die Notaufnahmelager führte, nicht aber diejenigen, die direkt bei Verwandten und Bekannten im Westen Aufnahme fanden [1].

In den 60er-Jahren wurde mit der Pille ein sehr wirksames Antikonzeptionsmittel eingeführt. Dies führte sowohl in West- als auch in Ostdeutschland zu einem rapiden Absinken der durchschnittlichen Kinderzahlen. Erstmalig war die Entscheidung für ein Kind bzw. dagegen planbar und konnte bewusst getroffen werden.

Infolgedessen kam es in beiden Teilen Deutschlands zu einem deutlichen Absinken der Geburtenzahlen. Vom Rekordjahr 1964 mit 1,35 Millionen Geburten hat sich die jährliche Geburtenzahl inzwischen auf rund 700 000 im Jahr 2003 nahezu halbiert [2].

Die DDR-Führung hatte Sorge, dass die DDR aussterben würde und führte eine Reihe umfangreicher pronatalistischer Maßnahmen in den Jahren 1972 und 1976 ein. Dazu zählten die Verkürzung der Arbeitszeit für Mütter mit mehreren Kindern sowie deren Urlaubsverlängerung, zinslose Kredite für junge Eheleute, die bei der Geburt von Kindern teilweise erlassen wurden, die Einführung des so genannten Babyjahres und der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen. Dies führte zu einem Anstieg der Geburtenzahlen, wobei bis heute nicht eindeutig geklärt ist, ob es sich hierbei teilweise auch um ein Vorziehen der Kinderplanung handelte. Immerhin betrug das durchschnittliche Alter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes 1980 21,6 Jahre und im Jahr 1989 22,9 Jahre [3].

Nach dem Ende der DDR und dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland kam es zu einem dramatischen Absinken der Geburtenzahlen in den neuen Ländern. Die Statistik wies zeitweilig Werte von 0,6 Kindern pro Frau auf. Dies war der niedrigste ermittelte Wert, den es je in einem Land gegeben hat. Dabei kann bei diesem Wert allerdings nicht absolut geklärt werden, ob es sich um ein Hinausschieben der Realisierung des Kinderwunsches handelt oder um einen dauerhaften Geburtenrückgang. Hier werden auch die Tücken der Berechnung für durchschnittliche Kinderzahlen deutlich, auf welche weiter unten nochmals eingegangen werden soll. Dieser vielfach konstatierte Rückgang der Geburtenzahlen in den neuen Ländern hat zur damaligen Zeit auf der politischen Ebene niemanden besonders beschäftigt; die Konsequenzen dieser Entwicklung wirken sich seit langem vor allem in den Betreuungseinrichtungen wie Kindergarten und Schule aus.

Die politische Abstinenz bezüglich bevölkerungswissenschaftlicher Aspekte lässt sich bis in die 50er-Jahre zurückverfolgen; basierend auf dem Schock über den Missbrauch der Bevölkerungswissenschaft während der nationalsozialistischen Diktatur hatte man sich geschworen, in die Privatsphäre des Einzelnen nicht noch einmal mittels bevölkerungspolitischer Maßnahmen einzugreifen. Das war zunächst auch nicht notwendig, waren doch die 60er-Jahre zunächst durch einen Babyboom gekennzeichnet. Aber auch als in den 70er-Jahren die Geburtenzahlen sanken, war man in der bundesdeutschen Regierung nach wie vor der Meinung, dass die individuelle Entscheidung eines Paares für oder gegen ein Kind nicht zu hinterfragen sei [4].

Erst nachdem im letzten Jahr die Bevölkerungszahl in Deutschland zum ersten Mal stagnierte, ist im Zusammenhang mit der Rentendebatte die Diskussion über den Rückgang der Kinderzahlen in Deutschland auch auf der politischen Ebene angekommen. Dies führt nun aber soweit, dass Szenarien entworfen werden, in welchem Zeitraum Deutschland und die Deutschen aussterben. In diesem Zusammenhang wird ohne größeren Sachverstand mit epidemiologischen Daten operiert - einerseits um Katastrophenszenarien zu erzeugen, andererseits um bestimmten Gruppen Schuldzuweisungen überzustülpen.

In den folgenden Abschnitten sollen einige dieser Mythen kritisch analysiert und auch entzaubert werden.

Literatur

  • 1 Bade K J, Oltmer J. Normalfall Migration (ZeitBilder, Bd. 15). Bonn; Bundeszentrale für politische Bildung 2004
  • 2 Deutsches Institut für Altersvorsorge (DIA, 2005). http://www.diavorsorge.de/downloads/df010213.pdf
  • 3 Cornelißen W. Gender-Datenreport. Erstellt durch das Deutsche Jugendinstitut e. V. in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt unter der Leitung von W. Cornelißen, Internetpublikation. Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005
  • 4 Kröhnert S, Klingholz R. Emanzipation oder Kindergeld? Der europäische Vergleich lehrt, was man für höhere Geburtenraten tun kann.  Sozialer Fortschritt. 2005;  12 280-290
  • 5 Biedenkopf K, Bertram H, Käßmann M. et al .Starke Familie. Bericht der Kommission „Familie und demographischer Wandel”. Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung,. 2005
  • 6 Scharein M, Unger R. Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen? Die Aussagekraft empirischer Daten zur Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen.  Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, BiB-Mitteilungen. 2005;  2 6-13
  • 7 Dickmann N. Demographischer Wandel - Geburtenraten im internationalen Vergleich.  IW-Trends. 2003;  1 1-25
  • 8 Schwarz K. Zur Debatte über die Kinderzahl der Ehen und die Bedeutung der Kinderlosigkeit für die Geburtenentwicklung in den alten Bundesländern. BIB-Mitteilungen 2/1996: 10-13
  • 9 Schmitt C. Kinderlose Männer in Deutschland - Eine sozialstrukturelle Bestimmung auf der Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP). Berlin; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 2004
  • 10 Sobotka T. Kinder nur aufgeschoben oder ganz aufgehoben?.  Demographische Forschung. 2005;  1 3
  • 11 Lampert T, Kroll L E. Einfluss der Einkommensposition auf die Gesundheit und Lebenserwartung. Berlin; DIW, Discussion Papers 527 2005
  • 12 Brähler E, Stöbel-Richter Y. Familienfeindlicher Zeitgeist? - Zum Wandel im Reproduktionsverhalten in Deutschland und im europäischen Vergleich.  Reproduktionsmedizin. 2002;  18 276-282
  • 13 Brähler E, Stöbel-Richter Y. Vermehren sich die Unfruchtbaren? Eine Epidemiologie gewollter und ungewollter Kinderlosigkeit in Deutschland. In: Neises M, Bartsch S, Dohnke H, Falck H-R, Kauffels W, Schmidt-Ott G, Schwerdtfeger J, Walter H (Hrsg) Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe. Beiträge der Jahrestagung 2002 der DGPFG. Gießen; Psychosozial-Verlag 2003: 482-489

Prof. Dr. Elmar Brähler

Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie · Universitätsklinikum Leipzig AöR (Universitätsfrauenklinik, Flügel C)

Philipp-Rosenthal-Straße 55

04103 Leipzig

Email: Elmar.Braehler@medizin.uni-leipzig.de