PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(3): 322-326
DOI: 10.1055/s-2006-940049
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neue Wege zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen

Mark  Williams im Gespräch mit Petra  Meibert
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Publication Date:
05 September 2006 (online)

Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie ist ein neues Verfahren, das als Gruppenprogramm durchgeführt wird und darauf abzielt, bei rückfallgefährdeten Patienten im Rahmen intensiver Achtsamkeitsübungen eine bestimmte Form der Aufmerksamkeitslenkung zu entwickeln, die dadurch gekennzeichnet ist, dass den Erlebnisinhalten des gegenwärtigen Augenblicks eine bewusste und nicht wertende Achtsamkeit geschenkt wird.

Kernproblem bei depressiven Störungen ist das Rückfallrisiko sowie das Gefühl der Betroffenen, einem erneuten Rückfall hilflos ausgeliefert zu sein. Das MBCT-Programm kombiniert die Kernelemente aus dem Stressbewältigungsprogramm - Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) mit Techniken der Kognitiven Verhaltenstherapie und schult die Fähigkeit, aus grüblerischen Gedankenkreisen auszusteigen.

PiD: Professor Williams, Sie haben zusammen mit Ihren Kollegen Zindal Segal und John Teasdale ein achtwöchiges Präventionsprogramm für ehemals depressive Menschen entwickelt, dessen Hauptanliegen es ist, die Praxis der Achtsamkeitsmeditation zu vermitteln. Wie sind Sie dazu gekommen?

Mark Williams: Wir suchten nach einem Weg, wie wir Menschen, die unter Depressionen leiden, helfen können, einen erneuten Rückfall zu vermeiden.

Depressionen, das wissen wir heute, bilden sich nicht einfach zurück. Sie kehren wieder und dauern im Durchschnitt zwischen sechs und neun Monaten, manchmal sind die Episoden kürzer, manchmal länger. Und wenn Patienten ihre Antidepressiva vor dieser Zeit absetzen, dann erleiden sie häufig einen Rückfall.

Wenn sie die Medikamente für ca. ein Jahr einnehmen und dann absetzen, werden sie nicht sofort wieder depressiv, haben aber ein sehr hohes Rückfallrisiko. Diese Zusammenhänge wurden während der 80er-Jahre erforscht. Vor diesem Hintergrund beauftragte die McArthur-Stiftung Zindal Segal, und dieser bat dann John Teasdale und mich um unsere Mithilfe, eine Form der Kognitiven Verhaltenstherapie zu entwickeln, die helfen würde, einen depressiven Rückfall zu vermeiden. Ihre Vorstellung war, dass es eine Art manualisierte Erhaltungstherapie sein sollte, etwa in der Form, dass Patienten nach einer Kognitiven Verhaltenstherapie eine monatliche Therapiesitzung erhalten, um das Erarbeitete zu festigen.

Dies schien uns nicht sehr sinnvoll und wir baten die Stiftung um Erlaubnis, den Fokus zu verändern, weil es zahlreiche Belege dafür gibt, dass das Rückfallrisiko nach einer Kognitiven Verhaltenstherapie bereits auf ca. 30 bis 35 % reduziert ist. Und so hielten wir es für ungeeignet, die Kapazitäten von Kognitiven Verhaltenstherapeuten zu binden, indem sie Auffrischungssitzungen machen, während sie in dieser Zeit bereits neue Patienten behandeln könnten. Es erschien uns effektiver nach einer Methode zur Rückfallprophylaxe zu suchen, die dieselben hilfreichen Fähigkeiten vermitteln konnte wie die Kognitive Verhaltenstherapie. Und dies sollte auf eine Weise geschehen, dass die Patienten die Fähigkeiten zu jeder Zeit anwenden können und nicht nur dann, wenn sie depressiv sind. Und so kamen wir zur Achtsamkeitsschulung.

Was unterscheidet MBCT von herkömmlichen Depressionsbehandlungen?

Die meisten Depressionsbehandlungen werden angewendet, wenn eine Person depressiv ist, weil sie eben dann zum Arzt oder Therapeuten geht. Wenn Menschen depressiv sind, bekommen sie gewöhnlich Antidepressiva oder Beratung oder Kognitive Verhaltenstherapie oder eine der vier oder fünf weiteren evidenzbasierten Depressionsbehandlungen wie z. B. Aktivitätsaufbau oder Interpersonelle Psychotherapie. All diese Methoden wirken genauso gut wie die Kognitive Verhaltenstherapie. Aber alle diese Ansätze sind für die Akutbehandlung entwickelt.

Achtsamkeit wurde ganz spezifisch dafür adaptiert, dass die Patienten sie erlernen können, wenn es ihnen wieder besser geht, sie aber, wie wir wissen, sehr anfällig sind für einen erneuten Rückfall. Und so ist MBCT ein Rückfallprophylaxeprogramm, wenngleich manche Therapeuten das Programm auch bei akuter Depression oder verschiedenen anderen psychologischen Problemen anwenden. Als wir es entwickelt haben, war es speziell gedacht als Rückfallprophylaxeprogramm bei Depressionen.

Wie können Achtsamkeitsübungen, bei denen es ja darum geht, die Aufmerksamkeit immer wieder ins Hier und Jetzt zu bringen und dabei die gegenwärtige Erfahrung nicht zu bewerten, einen Einfluss auf das Rückfallgeschehen bei Menschen mit Depressionen haben?

Als erstes ist die Praxis der Achtsamkeit eine wunderbare Möglichkeit zu lernen, die Frühwarnsymptome eines Stimmungsumschwungs rechtzeitig wahrzunehmen. Und wenn man diese Anzeichen frühzeitig wahrnimmt, dann kann man auch etwas dafür tun, dass man nicht wieder in eine depressive Phase hineinrutscht.

Zweitens gibt es Mechanismen, die einen Rückfall stark begünstigen, wenn ehemals Depressive eine nur leicht negative Veränderung ihrer Stimmung erleben. Dies ist einerseits die Tendenz der Verdrängung und Vermeidung der negativen Gedanken, Bilder und Erinnerungen. Und wir wissen ja, dass diese Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien nicht gut funktionieren. Die zweite dysfunktionale Strategie ist die Neigung zum Ruminieren, d. h. die Tendenz zu versuchen, sich eine Lösung aus dem Problem heraus zu denken.

Steven Hayes, der Begründer der Acceptance and Commitment Therapie, hat das auch hervorgehoben. Er sagt nämlich, dass das ständige Beschäftigtsein mit Sprache, der Versuch, den Weg aus der Depression durch inneres Sprechen zu finden, die Menschen häufig tiefer und tiefer in die Depression hineinführt. Man glaubt, das Grübeln würde helfen, aber während man das noch glaubt, führt es einen in immer trübere Stimmungen.

Die Praxis der Achtsamkeit bietet durch das Kultivieren der Fähigkeit, mit der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment zu verweilen, die Möglichkeit schneller zu erkennen, wenn die Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft wandern. Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, bemerken schneller, wenn sie anfangen zu ruminieren. Auch können sie schneller erkennen, wenn sie versuchen zu vermeiden und ihre negative Stimmung ablehnen, obwohl sie da ist. Wenn die Stimmung da ist, macht es sie nur noch schlimmer, wenn wir versuchen, sie loszuwerden.

Beim Achtsamkeitsansatz lernt man, sich den schmerzhaften oder unangenehmen mentalen Stimmungen zuzuwenden. Man lernt, sich von ihnen soweit zu distanzieren, dass man sie beobachten kann, ohne sie zu verleugnen oder zu verdrängen. Das ist eine Erfahrung, die schwer in Worte zu fassen ist. Aber immer und immer wieder berichten unsere Patienten, dass das eine sehr befreiende und erleichternde Erfahrung ist.

Prof. Williams

Wurde das MBCT-Programm nur für ehemals depressive Patienten entwickelt oder kann es auch in einer akuten Phase oder bei anderen emotionalen Störungen hilfreich sein?

Das können wir jetzt noch nicht sagen und deshalb denke ich, wir sollten vorsichtig sein, da wir eine wissenschaftliche Profession sind.

Da es eine Menge anderer Interventionsmöglichkeiten gibt, mit denen Menschen in einer akuten depressiven Phase geholfen werden kann, sehen wir Achtsamkeit nicht als die Behandlungsmethode der Wahl für akute Depressionen an. Interpersonelle Therapie, Aktivitätsaufbau usw. - all diese Methoden wirken ebenso gut wie die Kognitive Verhaltenstherapie. Und so schlagen wir vor, dass die Patienten zunächst eine geeignete, evidenzbasierte Behandlung für ihre Depression finden sollten.

Und natürlich wirken auch Antidepressiva recht gut. Das Problem ist nur, dass sie nicht mehr wirken, wenn man aufhört, sie zu nehmen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Wir wissen, dass es bei allen Behandlungsmethoden und auch bei den Antidepressiva immer wieder vorkommt, dass manche Patienten nicht darauf ansprechen. In einer neueren Untersuchung von Steve Hollon et al., die im April 2005 in den Archives of General Psychiatry veröffentlicht wurde, fand man heraus, dass ungefähr 55 % der Patienten auf Antidepressiva ansprachen und etwa ebenso viele auf die Kognitive Verhaltenstherapie. Das bedeutet, dass relativ viele Patienten, nämlich mehr als 40 %, auf keine der beiden Interventionen ansprechen.

Meine Kollegin Maura Kenny in Australien hat untersucht, was mit Patienten geschieht, die weder auf Kognitive Verhaltenstherapie noch auf Antidepressiva ansprechen. Sie wendet MBCT bei depressiven Patienten an, bei denen alle anderen Interventionen fehlgeschlagen sind und hat herausgefunden, dass die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Verhaltenstherapie dort gute Erfolge hat.

Die ersten Ergebnisse lassen darauf schließen, dass MBCT dort effektiv sein kann, wo alle anderen Behandlungsmethoden nicht helfen. Aber zurzeit gibt es erst einmal genügend wirkungsvolle Interventionen, die wir in einer akuten Phase anwenden können. Im Anfangsstadium einer Depression würde ich jedem Patienten raten, einen guten Kognitiven Verhaltenstherapeuten aufzusuchen, wenn dies möglich ist. Und wenn nichts zu helfen scheint, dann kann man sich der Praxis von Achtsamkeit zuwenden.

Sehen Sie ein Problem darin, wenn wir ein Prinzip wie Achtsamkeit, dessen Wurzeln in östlichen Meditationswegen liegen und das aus einer anderen Kultur kommt, in die westliche Psychotherapie integrieren?

Ich denke, dass wir sehr vorsichtig sein müssen und nicht der Vorstellung verfallen dürfen, dass wir Achtsamkeit nehmen können, wie wir vielleicht Kirschen von einem Baum pflücken, ohne zu beachten, wo sie herkommen. Ich denke, es ist wichtig, die Tradition anzuerkennen, aus der diese Techniken kommen. Auch, so glaube ich, müssen wir uns sehr bewusst sein über die Gefahr der „Denaturierung” dessen, was wir da lehren. Weil sie aus buddhistischen Übungswegen kommen, sind Achtsamkeitsübungen ursprünglich spirituelle Übungen in diesen Traditionen. Und tatsächlich wurden und werden Meditationsübungen in allen religiösen Traditionen durchgeführt.

Die Frage ist doch: Können wir diese Methoden auf ehrliche und aufrichtige Weise auch in anderen Kontexten, z. B. der Psychotherapie anwenden? Und das war ja auch die ursprüngliche Herausforderung, der sich John Kabat-Zinn gegenüber sah, als er begann, Achtsamkeitsübungen im Rahmen der Stressreduktion in einer westlichen Kultur (USA) anzuwenden. Auf der Basis seiner eigenen Erfahrung mit diesen Methoden und Wegen nahm er die Essenz der buddhistischen Übungspraxis und filterte die religiösen Aspekte heraus. Er tat dies, um zu sehen, ob es möglich sein würde, diese Methoden Menschen nahe zu bringen, die niemals in ein Kloster gehen oder auf sonst eine Weise mit Buddhismus in Kontakt kommen würden.

Interessant ist, dass auch der Dalai Lama eine ähnliche Haltung einnimmt, wenn er sagt, dass die Wissenschaft erforschen sollte, ob es an der Meditationspraxis irgendetwas gibt, was für Menschen nützlich und hilfreich ist. Und wenn erst einmal die Wissenschaften wie z. B. die Medizin, die Neurowissenschaften oder auch die Erziehungswissenschaften die Vorteile der Meditation für die menschliche Gesundheit nachgewiesen haben, dann sollte Meditation auf dem Stunden- und Studienplan von Schulen, Universitäten und Gesundheitseinrichtungen stehen. Und dies würde dann nicht deswegen getan, weil irgendeine religiöse Autorität sagt, dies ist eine gute Sache, sondern um seiner selbst willen.

Meiner Erfahrung nach ist diese Offenheit für die Wissenschaft eine der Eigenschaften des Buddhismus, die ihn wirklich unterscheidet von vielen anderen Religionen. Er hat keine Angst vor der Wissenschaft. Buddhismus ist eine Religion, eine Philosophie und ein psychologischer Ansatz und diese Bereiche stehen alle miteinander in Verbindung.

Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität?

Nun, ich glaube, das ist eine sehr interessante Beziehung. Marsha Linehan sagte mir einmal in einem Gespräch, dass die Wahrheit niemals einen Widerspruch zur Wahrheit bilden kann, d. h. dass es am Ende schließlich immer eine Verbindung geben wird. Aber häufig sind es zunächst einmal unterschiedliche Diskussionsbereiche: Die religiöse Wahrheit ist eine andere als die wissenschaftliche Wahrheit.

Und dennoch: Überall da, wo Menschen versucht haben, religiöse Elemente mit wissenschaftlichen Elementen zu verbinden, wurden auch Wege gefunden. Zum Beispiel wissen wir, dass ein religiöses Leben mit geistiger Gesundheit assoziiert ist. Menschen, die Teil einer religiösen Gemeinschaft sind, scheinen gesünder und widerstandsfähiger zu sein, wenn sie krank werden und wenn sie leiden. Und das hat sicher zum Teil mit dem sozialen Netz zu tun, in das sie eingebunden sind, und zum Teil mit dem Glauben, den sie haben. Dieser hilft ihnen, zu verstehen und einen Sinn zu finden, auch wenn das Leben tragisch verläuft.

Natürlich verursacht die Religion auch viele Probleme. Sie wird und wurde benutzt als Grund, um Kriege zu führen. Aber es gibt eben auch dieses gute, edle Element an der Religion, da sie auch die ethischen Richtlinien beinhaltet, die Krieg und Grausamkeiten verurteilen.

Es gibt auf der anderen Seite Forscher, die die Gehirne von buddhistischen Mönchen und anderen Menschen erforschen und durch ihre Untersuchungen alle möglichen Veränderungen im Gehirn nachweisen können, die durch die Meditation auftreten. Aber ich denke, wir sollten in diese Ergebnisse nicht zu viel hineininterpretieren. Auch wenn die Untersuchungen sehr interessant sind, zeigen unkontrollierte Studien an buddhistischen Mönchen nicht unbedingt, dass die Meditation diese Art von Veränderungen im Gehirn verursacht hat. Vielleicht haben sie auch den Weg des buddhistischen Mönchs gewählt, weil sie von Anfang an andere Gehirnstrukturen aufwiesen. In dieser Hinsicht sagen unkontrollierte Studien nicht sehr viel aus.

Aber ein sehr ermutigendes Ergebnis ist es, dass Studien mit Meditationsanfängern, die mit randomisierten Stichproben und Kontrollgruppendesign durchgeführt werden können, zeigen, dass sich die neuronalen Muster schon nach einer achtwöchigen Meditationsperiode verändern lassen. Das ist ein sehr ermutigendes Ergebnis für Anfänger in der Meditationspraxis, dass schon nach einem Acht-Wochen-Meditationskurs Veränderungen in den Gehirnstrukturen auftreten, die in die Richtung der buddhistischen Mönche weisen, die schon seit über dreißig Jahren regelmäßig meditieren.

Glauben Sie, dass die Vorgabe, dass ein MBCT-Therapeut über eine individuelle und profunde Meditationspraxis (tägliche Sitzmeditation) verfügen sollte, dazu führen könnte, dass in der Zukunft zu wenig MBCT-Therapeuten zur Verfügung stehen?

Genau das habe ich auch befürchtet, als ich diese Arbeit begann. Ich dachte, dass dieser Achtsamkeitsansatz nur für wenige Therapeuten ansprechend sein würde, weil nur wenige beides haben: ausreichende Erfahrungen als Kognitive Psychotherapeuten und eine langjährige Meditationspraxis. Doch diese Annahme hat sich als total falsch herausgestellt. Deshalb war ich zunächst nicht sehr daran interessiert, diese achtsamkeitsbasierten Ansätze weiter zu erforschen. Doch dann stellte sich heraus, dass mehr Menschen, als ich je erwartet hätte, bereits Meditationserfahrung haben und gleichzeitig als Psychotherapeuten arbeiten. Und auf der anderen Seite gibt es unter Psychotherapeuten ein viel größeres Interesse, eine regelmäßige Meditationspraxis in den Alltag zu integrieren, als ich das je für möglich gehalten hätte.

Also wenngleich ich anfangs eine große Angst hatte, dass es nicht genügend Therapeuten geben würde, die diese Methode lehren können, so bin ich eines besseren belehrt worden.

Auf der anderen Seite ist es grundsätzlich ein Diskussionspunkt, ob man ein Meditationslehrer sein sollte oder wenigstens selbst regelmäßig meditieren sollte, wenn man MBCT unterrichten möchte. Das ist etwas, was Kollegen aus meiner Therapierichtung nicht sehr vertraut ist. Wenn wir mit einem Patienten eine Kognitive Verhaltenstherapie durchführen, dann machen wir nicht auch selbst eine Kognitive Verhaltenstherapie. Und so sagten einige meiner Kollegen: „Bitte, beweise uns, dass wir Meditationserfahrung benötigen, um dies zu unterrichten”. Ich glaube nicht wirklich, dass wir das jemals werden beweisen können, teils weil diese Studie sehr schwer zu konzipieren sein dürfte und teils weil es eine Fähigkeit ist, die wir den Menschen beibringen.

Die Analogie, die mir dazu einfällt, ist folgende: Stellen Sie sich vor, sie wollen lernen, ein Musikinstrument zu spielen oder sie wollen schwimmen lernen. Natürlich würden Sie sich jemanden suchen, der schwimmen kann und sie würden nicht zu einem Physiker gehen, der die Theorie darüber kennt, warum Körper auf dem Wasser schwimmen können oder der theoretisch darüber Bescheid weiß, wie sich Klangwellen in einem langen dünnen Rohr bewegen.

Warum würden Sie zu einem Flötenlehrer gehen wollen? Weil der Flötenlehrer aus seiner eigenen Erfahrung heraus genau weiß, wie man einen Ton erzeugt und wie er immer klarer und klarer wird, solange bis er so klar wie Kristallwasser ist.

Auch wenn der Physiker in der Lage sein wird, Ihnen die Theorie über das Flötespielen zu erklären, brauchen Sie den Flötenlehrer, der Ihnen genau zeigen kann, wie Sie die Flöte im Mund halten müssen und wie genau Sie die Töne erzeugen können.

Und wenn wir Achtsamkeit lehren wollen, dann verhält es sich genau so wie mit dem Flötespielen.

Glauben Sie, dass die strengen Indikationskriterien für MBCT-Gruppen ein ernsthaftes Problem für Therapeuten sein könnten, die im ambulanten Setting arbeiten, in dem Sinne, dass sie nicht genügend Patienten für die Kurse zusammen bekommen?

Das könnte ein Problem sein, wenn Sie an dem Forschungsbefund festhalten, dass MBCT nur für Patienten hilfreich ist, die drei oder mehr depressive Episoden erlitten haben.

Wenn man sich die Entstehungsgeschichte der kognitiven Therapie anschaut, dann war es am nützlichsten, sich an die wissenschaftlichen Belege zu halten und dann an deren Grenzen zu arbeiten, bis neue Probleme gelöst wurden. So wird es auch mit der Erforschung der Achtsamkeit sein.

Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Landgewinnung. In Holland entwässert man einen Landstrich, baut Deiche und entwässert das Land dann so lange, bis es fest genug ist. Und wenn man auf diese Weise ein wenig Land gewonnen hat, dann fährt man fort und fährt fort usw. Und so hat auch die Kognitive Verhaltenstherapie Fortschritte gemacht. Zunächst konnte gezeigt werden, dass sie bei Depressionen wirksam ist, dann wendeten manche Therapeuten sie auch bei Panikstörungen an, dann Agoraphobie usw., zum Schluss sogar bei Schizophrenie. Aber die ersten Therapeuten, die die Therapieform bei diesen Störungen angewendet haben, hatten noch nicht den Wirksamkeitsnachweis.

Ich glaube auf ähnliche Weise werden manche Therapeuten mit MBCT arbeiten. Sie werden beginnen, es bei Depressionen einzusetzen, aber es werden dann auch Menschen mit anderen Störungen oder Problemen in den Gruppen sein. Diese heterogenen Gruppen funktionieren sehr gut, das wissen wir von MBSR, welches stark mit MBCT verbunden ist, denn dies ist der Ursprung von MBCT. Es gibt Wirksamkeitsnachweise für MBSR bei Panikstörungen, Angststörungen, Psoriasis, oder für die Verbesserung der Lebensqualität bei Krebserkrankungen. Jetzt gibt es auch Hinweise für die Wirksamkeit von MBCT bei Schlafstörungen.

Mark, wo sehen Sie den Wert und die Herausforderung der achtsamkeitsbasierten Interventionen für die Weiterentwicklung der Kognitiven Verhaltenstherapie und der Psychotherapie im Allgemeinen?

Psychotherapeuten, die sich in einem Achtsamkeitsansatz ausbilden lassen, berichten, dass sie selbst sich verändert haben, wenn sie danach wieder zu ihrer täglichen psychotherapeutischen Arbeit zurückkehren. Sie bemerken, dass sie mehr zuhören, dass sie mehr wahrnehmen, sie beobachten, dass sie anders auf ihre Patienten reagieren und dass sie sie nicht mehr als „Patienten” sehen, sondern als eine andere Person, die ihnen gegenüber sitzt.

Kognitive Therapeuten berichten mir häufig, dass sie früher, wenn sie KT durchführten, davon ausgegangen seien, dass sie so offen und zugänglich wie möglich gewesen seien. Nachdem sie begonnen haben, Achtsamkeit zu praktizieren, stellen sie fest, dass die Zusammenarbeit mit dem Patienten theoriegeleitet war, dass sie von einem Konzept ausgegangen sind, wie sie mit ihren Patienten zu sein haben. Und sie spüren, wenn sie Achtsamkeit praktizieren, dass sie wirklich für die Patienten sorgen und wirklich interessiert sind. Und ich glaube, das ist der große Unterschied.

Für mich passt folgendes Bild: Der Unterschied, ob ich einen Raum für eine Therapiegruppe oder einen Raum für eine Achtsamkeitsgruppe vorbereite, ist der Unterschied zwischen einer professionellen Haltung im Sinne „Ich mache jetzt den Raum in Ordnung”, und der Haltung eines Gastgebers, der sich sagt: „Ich erwarte Gäste zum Abendessen”. Die Vorbereitung für Gäste zum Abendessen ist die, dass du wirklich daran interessiert bist, dass sie kommen. Du möchtest, dass jeder von deinen Gästen kommt, weil du wissen möchtest, wie es ihnen mit der Achtsamkeitspraxis und ihren speziellen Problemen geht und wie sie die Schwierigkeiten meistern. So wie du die Gäste zum Abendessen erwartest, so möchtest du, dass sie alle kommen und bereitest den Raum mit der entsprechenden Haltung vor. Und das ist auch die Haltung, die Menschen in sich entwickeln, wenn sie von einem Achtsamkeitstraining an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Ob das nun die Qualität der Therapie verändert - ich weiß es nicht. Als wissenschaftlicher Psychologe sollte ich natürlich sagen, ich benötige erst den Wirksamkeitsnachweis. Aber ich vermute, dass Achtsamkeit diese Wirkung hat und das ist auch das, was mir die Kollegen berichten.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Weiterführende Literatur

  • 1 DeRubeis R J, Hollon S D, Amsterdam J D, Shelton R C, Young P R, Salomon R M, O'Reardon J P, Lovett M L, Gladis M M, Brown L L, Gallop R. Cognitive therapy vs medications in the treatment of moderate to severe depression.  Archives of General Psychiatry. 2005;  62 409-416
  • 2 Heidenreich T, Michalak J. Achtsamkeit (Mindfulness) als Therapieprinzip in Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin.  Verhaltenstherapie. 2003;  13 254-274
  • 3 Hollon S D, DeRubeis R J, Shelton R C, Amsterdam J D, Salomon R M, O'Reardon J P, Lovett M L, Young P R, Haman K L, Freeman B B, Gallop R. Prevention of relapse following cognitive therapy vs medications in moderate to severe depression.  Archives of General Psychiatry. 2005;  62 417-422
  • 4 Michalak J, Heidenreich T. Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen. In: Heidenreich T, Michalak J (Hrsg) Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen; DGVT-Verlag 2004: 193-245
  • 5 Michalak J, Heidenreich T. Neue Wege zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen. Die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie.  Psychotherapeut. 2005;  50 415-422
  • 6 Segal Z, Williams M, Teasdale J. Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression - A New Approach to Preventing Relapse. New York; Guilford 2002
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