Dtsch Med Wochenschr 2006; 131(30): 1685-1686
DOI: 10.1055/s-2006-947818
Kommentar | Commentary
Prävention, Gesundheitspolitik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Rauchfolgen weiterhin unterschätzt - Wo bleibt der Nichtraucherschutz?

Still underrated sequels of tobacco smoking - when will non-smokers be protected?H. Gohlke1
  • 1Herz-Zentrum Bad Krozingen
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eingereicht: 19.6.2006

akzeptiert: 20.6.2006

Publication Date:
19 July 2006 (online)

Natürlich weiß jeder Arzt, dass Rauchen ein bedeutender Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs ist. Rauchen vermindert die Lebenserwartung beträchtlich [3, 5, 8)]. Dennoch sind sich die meisten Ärzte und auch die Raucher nicht über das Ausmaß der lebensverkürzenden und krankheitsbegünstigenden Wirkung im Klaren; neuere Beobachtungsstudien haben hier unsere Erkenntnisse in den letzten zwei Jahren erheblich erweitert: In der MONICA-Studie/KORA-Studie (Augsburg) wurde die Infarktrate bei Rauchern im Vergleich zu Menschen, die noch nie geraucht hatten, erhoben. Männliche Zigarettenraucher erlitten 880 Herzinfarkte pro 100 000 Personenjahre, Nie-Raucher nur 353. Das bedeutet, dass durch Nichtrauchen bei Männern 60 % der Herzinfarkte verhindert werden könnten. Rauchende Frauen erlitten 360 Herzinfarkte pro 100 000 Personenjahre. Die Infarktrate bei Frauen, die nie geraucht hatten, ist sogar um 75 % niedriger, nämlich 88/100 000 [6] [7].

Obwohl bereits seit längerem allgemein anerkannt ist, dass Rauchen die Lebenserwartung vermindert, war bislang die Dauer der verlorenen Lebenszeit nicht genau bekannt. Die kürzlich publizierte Nachbeobachtung der „British doctors study” über 50 Jahre füllte hier eine wichtige Lücke. Beobachtet wurde u. a. eine sozial homogene Gruppe von britischen Ärzten, die zwischen 1920 und 1929 geboren waren. Die berufliche Homogenität ermöglichte einerseits eine zuverlässige Nachbeobachtung über das britische Ärzteregister, andererseits eliminierte die sozial gleichmäßige Struktur der Gruppe die Problematik des Einflusses des sozialen Status auf die Lebenserwartung. Das mittlere Eintrittsalter dieser jüngsten Gruppe in die Studie betrug 36 Jahre. Die Rauchgewohnheiten ähnelten den heutigen mit im Mittel 18 Zigaretten pro Tag. Mit 60 Jahren hatten die beobachteten Ärzte bereits ein dreifach höheres Todesrisiko im Vergleich zu den Nie-Rauchern und eine ähnliche Überlebensrate wie die 15 Jahre älteren Ärzte, die nie geraucht hatten. Somit hatte diese Gruppe bereits im Mittel 15 Lebensjahre oder ein Viertel der Lebenszeit verloren.

Die Größenordnung von Lebens- und Produktivitätsverlust bis zum 60. Lebensjahr ist schockierend. Es ist also keineswegs so, dass nur die letzten Jahre einer „normalen” Lebenserwartung durch das Rauchen „abgeschnitten” werden. Ein erheblicher Teil der Lebenszeit geht früh in den „besten” Jahren verloren, verbunden mit einem erheblichen Produktivitätsverlust.

Doll et al. führen aus, dass etwa zwei Drittel der beobachteten Raucher an den Folgen ihres Nikotinkonsums sterben würden. Dies ist ebenfalls mehr, als früher vermutet wurde [2]. Diese Berechnung der Lebenszeitverkürzung illustriert dramatisch den Schaden, der durch Rauchen der Gesellschaft und dem Einzelnen zugefügt wird - und das in einer Gruppe, die aufgrund ihres Berufes optimalen Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung hatte. Die Studie schloss zwar nur männliche Ärzte ein, es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass Frauen Zigaretten besser vertragen.

Da die Rauchgewohnheiten häufig mit einer Abhängigkeitskomponente verbunden sind, ist die Durchführung von randomisierten Studien zum Rauchen oder zum Rauchverzicht erheblich erschwert. Vermutlich auch deshalb sind erst mehr als 50 Jahre, nachdem eine kausale Beziehung zwischen Zigarettenrauchen und Lungenkrebs vermutet wurde, die ersten Ergebnisse einer prospektiven randomisierten Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Rauchverzicht publiziert worden [1]. Die Überlebensrate von ursprünglich asymptomatischen Rauchern mit gering ausgeprägter obstruktiver Lungenerkrankung, die sich einer Entwöhnungstherapie unterzogen hatten, war in dieser ersten prospektiven randomisierten Studie nach 14,5 Jahren signifikant verbessert im Vergleich zur „usual care”-Gruppe. Und dies, obwohl nach 5 Jahren nur 22 % der Teilnehmer in der Interventionsgruppe tatsächlich mit dem Rauchen aufgehört hatten, im Vergleich zu 5 % in der „usual care”-Gruppe. Das bedeutet, dass die Aufgabe des Rauchens durch 17 % der Teilnehmer der Interventionsgruppe bereits ausreichend war, um die Überlebensrate der Gesamtgruppe statistisch signifikant zu verbessern!

Eine bedeutsame deutsche Studie zu den Auswirkungen der Aufgabe des Rauchens ist kürzlich erschienen [11]: Bei Patienten nach akutem Koronarsyndrom hatten diejenigen Raucher, die nach einer Anschlussheilbehandlung das Rauchen konsequent aufgaben (gemessen an Cotininspiegeln im Blut) über die nächsten drei Jahre 50 - 60 % weniger kardiovaskuläre Ereignisse als Patienten, die weiterhin rauchten. Etwa 6 - 26 % der Raucher bagatellisierten Ihren Zigarettenkonsum (beurteilt an den gemessenen Cotininspiegeln) bewusst oder unbewusst.

Die Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass das Ausmaß der durch das Rauchen verursachten gesundheitlichen Schäden und die Bedeutung des Nikotinverzichtes bisher erheblich unterschätzt worden sind [5] und verdeutlichen die Notwendigkeit für gesundheitspolitische Präventionsmaßnahmen. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die weniger privilegierten Mitglieder unserer Gesellschaft und die durch die Tabakwerbung leichter beeinflussbaren Kinder und Jugendlichen besonders von den negativen Auswirkungen des Zigarettenrauchens betroffen sind. Gleichzeitig haben diese Gruppen weniger Möglichkeiten, sich von der Nikotinabhängigkeit zu lösen. Hier werden auch Appelle an die Selbstverantwortung wenig nützen.

Es gibt deshalb allen Grund besorgt zu sein, dass unser Land eine von allen Wissenschaftlern und vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten als sinnvoll erkannte Maßnahme nur sehr zögerlich und gezwungenermaßen umsetzt: Hierbei geht es speziell um den Nichtraucherschutz. „Passivrauchen” oder „second hand smoke” führt zu gesundheitlichen Schäden, die im Bereich der Herzkreislauferkrankungen, der Schlaganfallraten, der Krebsraten, der chronischen Lungenerkrankungen und auch des plötzlichen Kindstodes bei Kindern rauchender Mütter nachgewiesen sind [10] [12].

Es gibt genügend wissenschaftliche und auch gesellschaftspolitische Argumente, die ein konsequentes Handeln notwendig erscheinen lassen:

Die hohen Behandlungskosten allein von Krebserkrankungen und Herzinfarkten machen es unabdingbar, die nachgewiesenen kosteneffektiven, präventiven Maßnahmen im Rahmen des Nichtraucherschutzes in die Praxis umzusetzen. Wir klagen darüber, dass zu wenig Kinder geboren werden. Wir sorgen jedoch nicht dafür, dass diese Kinder unter optimalen Bedingungen aufwachsen: Rauchfreie Schulen wurden erst in wenigen Bundesländern eingeführt. Rauchen vermindert die Fertilität, was besonders in einer Gesellschaft schwere Folgen hat, in der die Realisierung des Kinderwunsches häufig in ein späteres Lebensalter mit bereits dadurch verminderter Fertilität aufgeschoben wird. Es ist nicht nachvollziehbar, warum als Ziel für den März 2006 formuliert wurde, dass für 70 % der Bevölkerung (Nichtraucher) nur knapp 10 % der Restaurantplätze als Nichtraucher-Plätze ( 30 % der Sitzplätze in 30 % der Restaurants) zur Verfügung stehen sollen. Dies ist eine deutliche Diskriminierung der Nichtraucher, die offensichtlich auch in Zukunft aufrechterhalten werden soll. Denn auch bis zum Jahr 2008 sollen für 70 % der Bevölkerung nur 45 % rauchfreie Sitzplätze vorzuhalten sein. Die Begründung für diese Entscheidung ist unklar. Ist die Unterstützung von Suchtverhalten wichtiger als das Recht auf rauchfreie Atemluft? In Italien ist die Umsetzung des Nichtraucherschutzes von der Bevölkerung mit großer Zustimmung aufgenommen worden. Die Anzahl der Nichtraucher hat sich beträchtlich erhöht, und die Zahl der Herzinfarkte ist bereits in den ersten Wochen erheblich zurückgegangen. Alle Maßnahmen, die mit einer Einschränkung des Rauchens in öffentlichen Gebäuden, Restaurants und Zügen einhergehen, sind in unseren europäischen Nachbarländern, in denen der Nichtraucherschutz bereits umgesetzt wurde, mit einer überwältigenden bei anderen Fragen nicht gekannten Zustimmung seitens der Bevölkerung verbunden.

Es gäbe noch viele weitere Argumente, die belegen, dass die derzeitige Raucherpolitik in Deutschland die Interessen von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung -und insbesondere der Kinder und Jugendlichen - unbeachtet lässt. Die Zigarette ist - wie es der Surgeon General in USA formulierte - „das einzige zugelassene Verbraucherprodukt, das bei vorschriftsmäßigem Gebrauch tödlich wirkt”.

Wir werden auf internationalen Kongressen häufig darauf angesprochen, warum die basalen Aspekte des Nichtraucherschutzes in Deutschland noch immer nicht umgesetzt worden sind. In renommierten wissenschaftlichen Journalen wurde publiziert [4] [9], dass in der Vergangenheit überaus enge Beziehungen zwischen den führenden Parteien und der Tabakindustrie bestanden, die als mögliche Ursachen für die verzögerte Umsetzung angeführt werden.

In Anbetracht dessen, dass Herzinfarkte und kardiovaskuläre Ereignisse ebenso wie Krebserkrankungen zu den häufigsten und kostenträchtigsten Morbiditäts- und Mortalitätsursachen zählen, ist es erstaunlich, wie hartnäckig unsere Politiker den Schutz von mehr als 70 % der Bevölkerung - nämlich der Nichtraucher und Kinder - hintanstellen. Die neuen Erkenntnisse müssen nun stärker in das Bewusstsein der Ärzte und der politischen Entscheidungsträger eingebracht werden. Es ist deshalb zu fordern, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch in Deutschland in praktische Politik zum Wohle unserer Bürger umgesetzt werden. Es ist außerordentlich bedauerlich, dass wir nicht aus eigenem Antrieb in der Lage sind, diese Schäden von der Bevölkerung abzuwenden, sondern, dass wir eine höhere Macht (i. e. die Brüsseler Behörden) als Rechtfertigung benötigen, um diese Maßnahmen auszuführen, obwohl die wissenschaftliche Datenlage eindeutig ist und der Erfolg in anderen europäischen Ländern demonstriert wurde.

Autorenerklärung: Der Autor erklärt, dass keine finanziellen Verbindungen in Bezug auf diesen Artikel bestehen.

Literatur

  • 1 Anthonisen N R, Skeans M A, Wise R A, Manfreda J, Kanner R E, Connett J E. for the Lung Health Study Research Group . The Effects of a Smoking Cessation Intervention on 14.5-Year Mortality. A Randomized Clinical Trial.  Ann Intern Med. 2005;  142 233-239
  • 2 Doll R, Peto R, Boreham J, Sutherland I. Mortality in relation to smoking: 50 years’ observations on male British doctors.  BMJ. 2004;  328 1519-1527
  • 3 Ezzati M, Lopez A D, Rodgers A, Hoorn S V, Murray C JL. Selected major risk factors and global and regional burden of disease.  Lancet. 2002;  360 1347-1360
  • 4 Glantz F K, Glantz S A. Protecting Europeans from second hand smoke: time to act.  Eur Heart J. 2006;  27 382-383
  • 5 Iestra J A. et al . Effect Size Estimates of Lifestyle and Dietary Changes on All-Cause Mortality in Coronary Artery Disease Patients - A Systematic Review.  Circulation. 2005;  112 924-934
  • 6 Löwel H, Meisinger C, Heier M, Hörmann A, von Scheidt W. Herzinfarkt und koronare Sterblichkeit in Süddeutschland. Ergebnisse des bevölkerungsbasierten MONICA/KORA-Herzinfarktregisters 1991-1993 und 2001-2003.  Dtsch Arztebl. 2006;  103 A616-622
  • 7 Löwel H, Meisinger C, Heier M, Hörmann A. The population-based Acute Myocardial Infarction (AMI) Registry of the MONICA/KORA study region of Augsburg.  Gesundheitswesen. 2005;  67 31-37
  • 8 Mokdad A H, Marks J S, Stroup D F, Gerberding J L. Actual causes of death in the United States, 2000.  JAMA. 2004;  291 1238-1245 , ; Erratum in JAMA 2005; 293: 293-294.
  • 9 Neuman M, Bitton A, Glantz S. Tobacco industry strategies for influencing European Community tobacco advertising legislation.  Lancet. 2002;  359 1323-1330
  • 10 Raupach T, Schäfer K, Konstantinides S, Andreas S. Secondhand smoke as an acute threat for the cardiovascular system: a change in paradigm.  Eur Heart J. 2006;  27 386-392
  • 11 Twardella D, Rothenbacher D, Hahmann H, Wüsten B, Brenner H. The Underestimated Impact of Smoking and Smoking Cessation on the Risk of Secondary cardio-vascular Disease Events in Patients With Stable Coronary Heart Disease: Prospective Cohort Study.  J Am Coll Cardiol. 2006;  47 887-889
  • 12 U.S. Department of Health and Human Services [USDHHS] . Surgeon General Report. 2004; 

Prof. Dr. med. Helmut Gohlke

Klinische Kardiologie II, Herz-Zentrum

78189 Bad Krozingen

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