Psychiatr Prax 2006; 33(5): 249-250
DOI: 10.1055/s-2006-948043
Fortbildung und Diskussion
Buchhinweise
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Coming-out für Fortgeschrittene

Further Information

Publication History

Publication Date:
30 June 2006 (online)

 

Bei Schwulen verlaufen Kindheit, Jugend, Pubertät sowie Erwachsen- und Älterwerden spezifisch anders als bei Heterosexuellen. Der Prozess der Homosozialisation ist ein steiniger Weg mit Hindernissen und Abgründen. Auf diesem lebenslangen Weg lauern Gefahren auf Schritt und Tritt: allgegenwärtiger Heterosexismus - nicht selten sogar offene Homophobie, Diskriminierung und antihomosexuelle Gewalt. Es wundert also nicht, wenn junge (und ältere) Schwule diesem immensen Druck nicht immer die Stirn bieten können, weil es ihre Kräfte übersteigt. Gerade für den jungen Schwulen vor dem Coming-out fehlen meist Vorbilder, positive Identifikationsfiguren und ein soziales Netz, das Orientierung, Unterstützung und Halt gewährt sowie Modelle zur Verfügung stellt.

Nicht zu unterschätzen ist neben dem sozialen Außenseitertum die verinnerlichte Homophobie. Zunächst ist der junge Schwule mit einer Welt konfrontiert, in der Heterosexualität stillschweigend zum Maß aller Dinge erklärt wird. Zwangsläufig werden Vorurteile und ablehnende Haltungen übernommen und unbewusst internalisiert. Dies ist der Boden für Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühle, die der ungehinderten Entwicklung der Persönlichkeit entgegenstehen. Dadurch kann sich ein gesundes Selbstwertgefühl als tragfähige Basis für Liebesfähigkeit und Lebenszufriedenheit nur unzureichend entwickeln. Die verinnerlichte Homophobie ist der Hauptgrund für ein fragiles Selbstwertgefühl bei vielen Schwulen und für eine ambivalente Einstellung gegenüber der eigenen sexuellen Identität. Daher erstaunt es nicht, dass psychosoziale Probleme, psychische Störungen und krisenhafte Zuspitzungen bis hin zur Suizidalität bei Schwulen leider keine Seltenheit sind.

Diese Probleme sind jedoch mit dem Coming-out, dem Eingestehen der sexuellen Identität gegenüber sich selbst und anderen, keineswegs schlagartig aus der Welt geschafft. Dem Coming-out folgt oft eine Phase des Hedonismus. Nach den jahrelangen Entbehrungen muss zunächst einmal der sexuelle Erlebnishunger gestillt werden. Doch auch in der schwulen Szene gibt es genügend Konfliktpotenzial: Jugend- und Schönheitswahn, Konkurrenz- und Konsumdruck sowie Promiskuität. Gefährlich wird das Steckenbleiben in dieser Phase der schwulen Pubertät, in der kommerzialisierten Hedonismusszene. Der ältere Schwule droht durch die Maschen des Jugendwahns zu fallen. Die Depression klopft an der Tür. Um ihr den Einlass zu verwehren, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt nötig: "vertieftes Coming-out", "schwules Erwachsenenwerden". Diesem Meilenstein der schwulen Persönlichkeitsentwicklung widmet sich schwerpunktmäßig Wiesendangers Buch. Nachdem die vorherigen Stationen im schwulen Lebensfahrplan in den Kapiteln "Schwule Kindheit und Jugend - die alltägliche Traumatisierung durch verinnerlichte Homophobie" und "Schwule Pubertät und Adoleszenz - zwischen Hedonismus und Depression" behandelt wurden, nimmt die reife und tiefe Auseinandersetzung mit dem Schwulsein den größten Raum ein. Das Kapitel "Schwules Erwachsenwerden - sich im vertieften Coming-out selbst annehmen" umfasst 60 Seiten.

Wiesendangers Buch schließt eine wichtige Lücke, da die homosexuelle Pubertät und Adoleszenz anders verläuft als die heterosexuelle. Dies wurde bisher zu wenig beachtet. Frühere psychoanalytische Autoren betrachteten Homosexualität überwiegend als Störung der normalen Entwicklung und zementierten dadurch auf fatale Weise für lange Zeit Heterosexismus und sogar Homophobie in der Psychotherapie. Wiesendangers Blick auf die schwule Entwicklung hingegen ist erfreulicherweise alles andere als pathologisierend. Sein Zugang wurzelt in der humanistischen Psychologie. Tiefenpsychologische Aspekte werden berücksichtigt. Gesunde Ressourcen werden mobilisiert, um dysfunktionale und autodestruktive Tendenzen und Mechanismen aufzudecken und einzudämmen. Seine Sichtweise ist getragen von Empathie und Wertschätzung. Wiesendangers Darstellung besticht durch Klarheit und Verständlichkeit. Das Buch ist originell genug, um auf eine Flut gelehrsamer Fußnoten und Literaturhinweise verzichten zu können. Es richtet sich an Therapeuten, die Schwule bei ihrem vertieften Coming-out begleiten. Gleichermaßen eignet es sich als Augenöffner für Schwule, deren Freunde und Angehörige.

    >