Psychiatr Prax 2006; 33(5): 251-252
DOI: 10.1055/s-2006-948046
Fortbildung und Diskussion
Leserbrief
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"Kunze H, Priebe S. Integrierte Versorgung - Perspektiven für die Psychiatrie und Psychotherapie. Psychiat Prax 2006; 33: 53-55

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Publication Date:
30 June 2006 (online)

Aus Sicht eines niedergelassenen Psychiaters stellt sich die Perspektive für die Integrierte Versorgung (IV) im psychiatrischen Bereich anders dar als aus dem stationären Blickwinkel, den offensichtlich eher die Autoren des Beitrags eingenommen haben. So bestätigt sich bisher nicht die optimistische Annahme einer "entbürokratisierten IV". In München haben wir bisher drei Projekte, jeweils mit verschiedenen Kassen, jeweils mit verschiedenen Ablauf- und Dokumentationsvorgaben, die vorbereiteten Ordner für bisher wenige Patienten nehmen dafür schon viel Raum in den Schränken ein. Beim TKK-Projekt z.B., von einer Firma für Gesundheitsmanagement organisiert, wird eine Schulung angekündigt, dann wegen zu geringer Teilnahme abgesagt, dieselbe Absage erfolgt zwei Tage später erneut auf Anrufbeantworter, die entsprechenden Verträge kommen nicht, wie im Informationsschreiben zunächst angekündigt, "nächste Woche", sondern erst auf Nachfrage sechs Wochen später, wobei bei der Nachfrage angegeben wird, das gehe über fünf Schreibtische und es werde noch auf eine Antwort-Mail gewartet, was doch erstaunt, da ja alle interessierten Vertragsärzte die gleichen Standardverträge bekommen dürften.

Nun kann man sicher annehmen, dass das die obligatorischen Anlaufschwierigkeiten sind. Und für den Fall des von den Autoren anvisierten "Dominanzprinzips" der Integrierten Versorgung könnte man, wiederum optimistischerweise, annehmen, dass die jetzt verschiedenen Projekte zu einheitlichen Abläufen für die einzelnen Diagnosegruppen konvergieren. Dennoch: bisher hat die IV zu einer stark vermehrten Bürokratie geführt. Hat man bisher schon darauf schauen müssen, ob der die Praxis betretende Patient von der Zuzahlungspflicht befreit ist, wichtig für die Erhebung der Praxisgebühr oder die Rezeptausstellung, oder ob er für den Fall einer Psychotherapie AOK-versichert ist, da es hier einen speziellen Strukturvertrag mit gestütztem Punktwert gibt, hat man nun zusätzlich die Kasse und die Diagnose in Einklang zu bringen für die Voraussetzung der Teilnahme am IV-Projekt. Zusätzlich gibt es in München noch ein Seroquel-Projekt, in dem die IV-Leistungen nicht von gesetzlichen Krankenkassen, sondern von der das Medikament produzierenden Pharmafirma finanziert werden. Das Argument von den Organisatoren für das Projekt ist: "Wenn es den Patienten doch gut tut!"

Man sieht an diesen Beispielen, wie die ambulante Versorgung auch im psychiatrischen Bereich immer mehr zersplittert und im Falle des von der Pharmafirma gesponserten Projektes auch ethisch fraglich wird und wie insbesondere jegliche Transparenz und Klarheit für die Betroffenen, aber auch für die Behandler verloren geht. Entscheidungskriterium für die Aufnahme in das Projekt ist nämlich umso weniger die Frage, für welche Patienten ein solches wirklich unter Versorgungsaspekten sinnvoll ist, sondern eher die Frage, ob und wo es sich finanziell lohnt, die bürokratische Mühe auf sich zu nehmen.

Zudem sind politisch gesehen die IV-Projekte geschaffen worden, um die Kassenärztlichen Vereinigungen zu schwächen, sie sind vom Gesetzestext her explizit von der Mitgestaltung ausgeschlossen. Das widerspricht ihrem ansonsten gegebenen Auftrag der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. Politisch vertrete ich daher die Ansicht, dass eine Teilnahme an IV-Projekten zurückhaltend zu sehen ist, um dadurch nicht einer Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen weiteren Vorschub zu leisten, die die Honorarverteilung zentral organisieren, diese dadurch auch zumindest ansatzweise gerecht gestalten und uns die Mühe ersparen, jedem Kassenpatienten Rechnungen stellen oder mit jeder Kasse selbst Verträge schließen zu müssen, was wiederum die Bürokratie mehren und die Zeit für die Beschäftigung mit dem Patienten mindern würde. Zudem bezweifle ich, dass viele meiner chronisch Kranken in der Lage wären, sich um den Abrechnungsvorgang selbst zu kümmern, was dann durch die anstehenden Mahnverfahren wiederum das für eine gute Beziehung notwendige Vertrauen stören würde. Offen gesagt ist es daher meine Strategie, einige wenige Patienten, für die es wirklich sinnvoll ist, sie in IV-Projekte aufzunehmen, auch um sozusagen einen Fuß in dieser Tür dieses Versorgungsbereiches zu behalten, dies aber nicht zu forcieren aus genannten Gründen heraus. Wünschenswert wäre es, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen selbst Projekte zur besseren Versorgung psychisch Kranker entwickeln, ähnlich manchen Projekten im somatischen Bereich (z.B. im Bereich der Krebsvorsorge), und diese mit den stationären Einrichtungen verzahnen.

Der zentrale Stellenwert der ambulanten Versorgung in der Gesamtbehandlung unserer Patienten ist sicher wünschenswert und eigentlich im wesentlichen auch schon gegeben, betrachtet man die Vielzahl der Behandlungskontakte in psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxen, zumeist ohne Notwendigkeit einer stationären Einweisung. Fraglich erscheint es mir, ob es aber unbedingt eine "ambulante komplexe psychiatrische Krankenhausbehandlung" als "zentralen Bezugspunkt" geben muss. Hier werden doch der Wert und die Qualität der ambulanten psychiatrischen und nervenärztlichen Behandlung in der Praxis unterschätzt, ohne dass hier nun wieder der alte Konflikt mit den Institutsambulanzen aufgebrochen werden soll. Ich habe selbst bis vor vier Jahren in einer solchen mitgewirkt und ihren Stellenwert gerade in der Behandlung schwerer Verläufe mit häufigen Rezidiven und Krisen schätzen gelernt. Da würde ich den Bezugspunkt der Institutsambulanz auch ansiedeln, nicht für die breite psychiatrische Versorgung generell. Die wohnortnahe Praxis im Ort oder Stadtviertel bietet, gerade auch für unser zunehmend älteres Patientenklientel, hier enorme strategische Vorteile. Auf ärztlicher Seite muss meiner Ansicht nach auch im Behandlungsverlauf nicht immer eine feste Bezugsperson durchgehend gegeben sein. Der Wechsel von ambulant nach stationär, wenn er schon erforderlich wird, kann häufig für den Patienten auch den Vorteil haben, einmal von einem anderen Arzt gesehen, untersucht und eingeschätzt zu werden, mit daraus möglicherweise resultierenden neuen Impulsen für die weitere Behandlung, die dann beim zuvor schon behandelnden Kollegen fortgesetzt wird. So erlebe ich es zumindest häufig. Voraussetzung ist aber eine intensivere Kommunikation zwischen stationär und ambulant behandelndem Arzt, woran es häufig mangelt. Dies zu regeln bedarf es aber nicht neuer komplizierter Regelungen, sondern eigentlich nur des Interesses an der optimalen Versorgung des Patienten und dabei dann des Griffs zum Telefonhörer. Dies sollte schon bei der Einweisung berücksichtigt werden, und sicher ist es nicht hilfreich, den Patienten nach Entlassung ohne Voranmeldung und ohne Mitgabe von Medikamenten für einige Tage wieder in die Praxis vor Ort zu schicken, die u.U. gerade terminlich überlastet oder wegen Urlaub geschlossen ist.

Ich denke, ohne dieses Interesse an der Versorgung, ohne das Einfühlen in die Situation des Patienten, ohne den Grundsatz, das zu tun, was man vielleicht selbst erwarten würde, ohne Offenheit für die Zusammenarbeit mit anderen Behandlungsinstitutionen (oft bringen kurze fokussierte Telefonate mehr als lange Fallkonferenzen) bleibt jegliche Versorgungsstruktur ineffektiv. Die anhaltende Unsicherheit über die Zukunft der Arbeitsbedingungen sowie der ständige Strukturwandel mit eher die Abläufe verkomplizierenden Umorganisationen beeinflussen nicht nur viele unserer Patienten in ihrem beruflichen Umfeld und nehmen Energien und Motivation, sondern sind auch für uns Behandler in unseren Strukturen des Gesundheitswesens relevant und zusätzliche Hindernisse in der Versorgung.

Und: durch die Weiterentwicklung der Weiterbildungsordnungen, den stärkeren Einfluss psychotherapeutischer Gesichtspunkte in der psychiatrischen Sozialisation, durch manche Maßnahmen der Qualitätssicherung im ambulanten und stationären Bereich, die Schaffung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern (die nicht zwangsläufig mit einer stärkeren somatischen Orientierung der Psychiatrie einhergehen muss, all dies ist immer von der Haltung des jeweiligen ärztlichen Leiters abhängig, dies zur Stellungnahme von Lothar Bücher im selben Heft, S. 100), die heute eher pragmatischere und vorurteilsfreiere Zusammenarbeit mit ambulanten Diensten, die Stärkung der ambulanten Psychotherapie durch Einbezug der niedergelassenen Psychologen in das Vertragsarztwesen und die gestützte Honorierung (all das kommt heute durchaus auch z.B. chronisch psychotisch Erkrankten zugute; Psychologen behandeln nicht immer nur "Liebeskummer" - Zitat aus einer Diskussion zu Versorgungsstrukturen -, auch hier lohnt es sich, über alte Vorurteile und Abgrenzungen endlich hinwegzugehen) sowie nicht zuletzt auch durch die Entwicklung besser verträglicherer Psychopharmaka und die Nebenwirkung stärker berücksichtigender Therapieansätze hat sich vielleicht in den 30 Jahren seit der Psychiatrieenquete mehr bewegt als es zunächst den Anschein hat bzw. die Autoren vermutet haben.

Dr. med. Andreas Meißner

Tegernseer Landstraße 49

81541 München

Email: psy.meissner@web.de

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