Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7 - P12_1
DOI: 10.1055/s-2006-954201

Die Bindungstheorie als Basis psychotherapeutischer Interventionen in der Terminalphase

Y Petersen 1, L Köhler 2
  • 1Palliativstation St. Johannes von Gott, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, München
  • 2München

Einleitung: Die von John Bowlby (1969) entwickelte und von M. Ainsworth und anderen zu einer Schule ausgebaute Bindungstheorie besagt, dass es bei Jungen einer Spezies darunter auch die Spezies Mensch, ein biologisch angelegtes Bindungssystem gibt. Die Bindungsforschung der letzten Jahrzehnte hat ergeben, dass der Mensch bereits in seiner frühen Kindheit bestimmte Bindungsstrategien ausbildet, die dann aktiviert werden wenn eine Gefahr (z.B. Trennung von der Mutter) aus eigenem Vermögen nicht behoben werden kann. Aus dem genetisch vorgegebenen Bindungssystem werden im Verlauf der weiteren Entwicklung Bindungsmuster. Vier Bindungsmuster wurden spezifiziert: „sicher“, „unsicher/vermeidend“, „unsicher/ambivalent“ und „desorientiert/desorganisiert“. Der Sterbeprozess eines Menschen stellt eine einmalige und endgültige Trennungssituation dar, die beim Patienten und seinen Angehörigen seelische Nöte hervorruft und damit ein besonders wirksamer Auslöser für die Aktivierung des Bindungssystems ist. Methoden: Anamnese und biographische Daten der Patienten werden unter Zuhilfenahme der Bindungstheorie mit den sichtbaren Bindungsmustern in der Terminalphase verglichen. Aus der empirischen Beobachtung lässt sich sagen, dass es Parallelen zwischen den Bindungsmustern der frühen Kindheit und der Sterbephase gibt. In der therapeutischen Begleitung Sterbender wird versucht, eine Brücke von der Bindungstheorie zu einer bindungsorientierten Psychotherapie zu schlagen, die besonders im Bereich der Palliativmedizin ein bisher brachliegendes Anwendungsgebiet eröffnet. Resultate: Es gibt eine Beziehung zwischen frühkindlichen Bindungsmustern und dem Verhalten in der Sterbephase. Es lässt sich damit prospektiv arbeiten. Anhand von Fallbeispielen wird dargestellt, wie sich diese Einsichten bei der multidisziplinären palliativen Betreuung von Patienten und ihren Angehörigen einsetzen lassen. So wird versucht, bei einer „vermeidenden“ Bindung die verleugneten Gefühle vorsichtig zur Sprache zu bringen und bestehende Hoffnungen auf Erfüllung von Schutz- und Anlehnungsbedürfnissen zu bestärken, im Falle einer „ambivalent/verstrickten“ Bindung die überengen Beziehungen zu entzerren, im Falle einer „desorganisierten“ Bindung die Emotionsregulation zu fördern und Klarheit in die Beziehungen zu bringen. Bei Patienten mit „sicherem“ Bindungsmuster sind in der Regel nur stützende Maßnahmen nötig. Schlussfolgerung: Der Ansatz der Bindungstheorie ist einsetzbar für die stabilisierende Begleitung im Sterbeprozess. Er kann nicht nur auf einer Palliativstation sondern auch in der allgemeinen ärztlich-pflegerischen Betreuung Sterbender angewandt werden.