Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: S129-S131
DOI: 10.1055/s-2006-955051
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Lysetherapie im klinischen Alltag - effektiv und sicher?

Thrombolytic treatment in everyday clinical practice - efficacious and safe?M. Grond1
  • 1Neurologische Klinik des Kreisklinikums Siegen
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eingereicht: 16.11.2005

akzeptiert: 18.5.2006

Publication Date:
06 November 2006 (online)

Einleitung

Ein Vergleich der zur Lysetherapie bei Schlaganfall mit rtPA durchgeführten Studien (NINDS [The National Institute of Neurological Disorders and Stroke], ECASS [4]) mit den Daten aus Kliniken (STARS [Standard Treatment with Alteplase to Reverse Stroke]), Köln) zeigt, dass die belegte Effektivität der Lysetherapie auch im klinischen Alltag erzielt wird [3] [4] [5] [6]. Ebenso liegt die Hirnblutungsrate als schwerwiegendste Nebenwirkung auch im täglichen Einsatz im unteren einstelligen Bereich. Dies hat dazu geführt, dass zunehmend auch in weniger erfahrenen Kliniken die Lysetherapie bei Schlaganfallpatienten durchgeführt wird (Abb. [1]). Kann auch in diesen Häusern das gute Risiko-Nutzen-Verhältnis der Lysetherapie aufrecht erhalten werden?

Abb. 1 Vergleich der residualen Behinderung (Rankin-Score) nach Schlaganfall in Lysestudien und im klinischen Alltag (eigene Abb).

Für Deutschland liegt hierzu die Arbeit von Heuschmann et al. [1] vor, die die Daten regionaler deutscher Schlaganfallregister aus dem Jahr 2000 gepoolt und ausgewertet hat. In dieser Erhebung mit 13 440 ischämischen Schlaganfallpatienten wurden 384 (3,5 %) Lysebehandlungen durchgeführt. In 52 von 104 teilnehmenden Häusern wurde die Lyse eingesetzt. Davon behandelten 46 % mehr als fünf Patienten. Die Auswertung der intrahospitalen Letalitätsdaten ergab, dass in Kliniken, die maximal fünf Lysen pro Jahr durchführen, die Letalität für Patienten mit Lysetherapie gegenüber ansonsten vergleichbaren Patienten ohne Lysetherapie signifikant erhöht ist (OR 3,3; 95 % KI 1,1 - 9,9). In Zentren mit mehr als fünf Lysebehandlungen im Jahr ist die Letalitätsrate gegenüber Patienten ohne Lysetherapie mit vergleichbaren demographischen Daten hingegen nicht erhöht (OR 1,3; 95 % KI 0,8 - 2,4). Die absolute Letalität der Patienten nach Lysetherapie betrug in den weniger erfahrenen Kliniken 24 % gegenüber 9,4 % in den häufig lysierenden Kliniken.

Diese Ergebnisse müssen ernst genommen, gleichwohl aber auch kritisch hinterfragt werden. Entscheidend für die Prognose eines Schlaganfallpatienten ist, unabhängig von der Therapie, der initiale Schweregrad des Schlaganfalls. Die zugrunde liegenden deutschen Register erfassen den Schweregrad im Akutstadium jedoch nur unzureichend. Dieser wird nur grob abgeschätzt - dokumentiert werden lediglich Angaben zum Vorliegen von Schwäche, Aphasie, Dysarthrie oder Bewusstseinsstörung, ohne dass die Ausprägung der jeweiligen Störung berücksichtigt wird. Ein validierter neurologischer Score wie der NIHSS (National Institutes of Health Stroke Skale) wird nicht erhoben. Daher konnte dieser für die Prognose entscheidende Parameter für die Auswertung nicht ausreichend abgeglichen werden. Darüber hinaus wurden die Todesursachen nicht differenziert.

Die Frage, ob Erfahrung im Umgang mit der Schlaganfall-Lyse ein entscheidender Prädiktor für das Behandlungsergebnis ist, wurde auch im laufenden europäischen Thrombolyseregister (SITS-MOST) an 163 internationalen Zentren untersucht. Dazu wurden die Behandlungsergebnisse zwischen Kliniken, die bereits bei Aufnahme in das Register Erfahrungen in der Lysetherapie hatten (85 %), und Kliniken, die im Rahmen von SITS erstmals die Lyse einsetzten (15 %), verglichen (Abb. [2]). Der neurologische Schweregrad (NIHSS) war in den erfahrenen Kliniken mit im Mittel 12,7 Punkten etwas niedriger als in den unerfahrenen Kliniken mit 13,7 Punkten. Die Letalität lag in den erfahrenen Häusern bei 13,6 %, in den unerfahrenen Häusern bei 21,1 %. Erstaunlicherweise war die Hirnblutungsrate in beiden Gruppen nicht unterschiedlich. Dies bedeutet, dass die erhöhte Letalität in den Lyse-unerfahrenen Kliniken nicht durch Lysekomplikationen erklärt werden kann, sondern dass mehr Patienten an anderen Schlaganfallkomplikationen trotz der Lyse verstorben sind. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass eine höhere Lyserate Ausdruck einer insgesamt höheren Schlaganfall-Expertise ist.

Abb. 2 Symptomatische Hirnblutungen im europäischen SITS-Register und durchschnittlicher NIHSS-Score in Häusern, die viel Erfahrung mit der Lyse haben und solchen, die die Therapieoption seit Kurzem einsetzen (nach Datenbank SITS-MOST).

Ein Aspekt, der bei der Lysetherapie häufig nicht ausreichend berücksichtigt wird, ist der quasi intuitiv angewandte Ausschlussgrund „schweres Schlaganfallsyndrom”, z. B. aufgrund einer Kopf-Blickwendung. Doch ein ungünstiges Nutzen-/Risikoverhältnis ist bei derartigen Patienten durch Studien nicht belegt. So zeigte eine kürzlich im Lancet publizierte Metaanalyse [2] über die NINDS-, ECASS- und ATLANTIS-Studien [3] [4] [7], dass bei einer Zeitspanne zwischen Symptombeginn und Lyse von 91 bis 180 Minuten die Patienten, die mit einem NIHSS-Score von > 20 Punkten schwer betroffen sind, am meisten von der sytemischen Thrombolyse profitiert haben (Abb. [3]) [7].

Abb. 3 Metaanalyse zur Odds Ratio für eine erfolgreiche Lyse in Abhängigkeit vom Schweregrad des Schlaganfalls und der Zeit von Symptombeginn bis Therapiebeginn (nach 2).

Das Schlaganfall-MRT unter besonderer Berücksichtigung des Mismatch-Konzeptes stellt eine wesentliche Bereicherung in der Indikationsstellung zur systemischen Thrombolyse dar. Es kann bei Patienten herangezogen werden, bei denen eine Therapieentscheidung jenseits der dritten Stunde anliegt oder bei denen der Zeitpunkt des Symptombeginns unklar ist. In den ersten 3 Stunden nach Symptombeginn sollte das Schlaganfall-MRT in der Regel zur Therapieentscheidung nicht herangezogen werden. Hier sollte gemäß der Zulassung verfahren werden, nämlich bei klinischem Schlaganfallsyndrom, das weniger als 3 Stunden vor Therapiebeginn aufgetreten ist, sollte nach Blutungsauschluss mittels CT ohne weiteren Zeitverlust die systemische Thrombolyse mit rt-PA eingeleitet werden.

Für den behandelnden Arzt bleibt trotz der guten Datenlage zur Lysetherapie ein Einsatz jenseits des Zeitfensters von 3 Stunden oder bei Patienten mit einem NIHSS > 25 zur Zeit noch ein individueller Heilversuch, der durchaus durchgeführt werden kann, aber immer durch ein lokales Anwendungsprotokoll dokumentiert werden sollte.

Konsequenz für Klinik und Praxis

  • Die Thrombolysetherapie bei ischämischem Schlaganfall kann im klinischen Alltag mit vergleichbar gutem Ergebnis hinsichtlich Nutzen und Blutungsrisiko wie in klinischen Studien eingesetzt werden.

  • Die Erfahrung der behandelnden Kliniken scheint keinen Einfluss auf die Lysekomplikationsrate zu haben.

  • Die Schwere des Schlaganfalls sollte in den ersten 3 Stunden kein Ausschlussgrund für eine Lysetherapie sein. Die Vorgabe, nur Patienten mit einem Mismatch im MRT zu lysieren, gilt nicht für diejenigen, die innerhalb von 3 Stunden nach Symptombeginn behandelt werden können.

  • Generell sollte die Thrombolyse als einzige evidenzbasierte Therapieoption des akuten ischämischen Infarktes unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung, aber keinesfalls so restriktiv wie zur Zeit zum Einsatz kommen.

Autorenerklärung: M. Grond hat Vortragshonorare der Fa. Boehringer Ingelheim (Actilyse) erhalten.

Literatur

  • 1 Heuschmann P U, Berger K, Misselwitz B. et al . Frequency of Thrombolytic Therapy in Patients With Acute Ischemic Stroke and the Risk of In-Hospital Mortality The German Stroke Registers Study Group.  Stroke. 2003;  34 1106-1113
  • 2 The ATLANTIS, ECASS, and NINDS rt-PA Study Group Investigators . Association of outcome with early stroke treatment: pooled analysis of ATLANTIS, ECASS, and NINDS rt-PA stroke trials.  Lancet. 2004;  363 768-774
  • 3 The National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS) rt-PA Stroke Study Group . Tissue plasminogen activator for acute ischemic stroke.  N Engl J Med . 1995;  333 1581-1587
  • 4 Hacke W, Kaste  M, Fieschi C, Toni D, Lesaffre E, von Kummer R, Boysen G, Bluhmki E, Hoxter G, Mahagne M H, Hennerici M. for the ECASS Study Group . Intravenous thrombolysis with recombinant tissue plasminogen activator for acute hemispheric stroke.  JAMA. 1995;  274 1017-1025
  • 5 Hacke W, Kaste  M, Fieschi C, von Kummer R, Davalos A, Meier D, Larrue V, Bluhmki E, Davis S, Donnan G, Schneider D, Diez-Tejedor E, Trouilias P. Randomised double-blind placebo-controlled trial of thrombolytic therapy with intravenous alteplase in acute ischaemic stroke (ECASS II).  Lancet. 1998;  352 1245-1251
  • 6 Albers G W, Bares V E, Clark W M, Bell R, Verro P, Hamilton S A. Intravenous tissue-type plasminogen activator for treatment of acute stroke: the Standard Treatment with Alteplase to Reverse Stroke (STARS) study.  JAMA. 2000;  283 1145-1150
  • 7 Albers G W, Clark W M, Madden K P, Hamilton S C. ATLANTIS trial: results for patients treated within 3 hours of stroke onset.   Stroke. 2002 Feb;  33(2) 493-495

Prof. Martin Grond

Neurologische Klinik, Kreisklinikum Siegen

Weidenauer Straße 76

57076 Siegen

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