Balint Journal 2007; 8(1): 9-15
DOI: 10.1055/s-2007-960581
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Salutogenetische Orientierung in der hausärztlichen Praxis: Qualitätszirkel als Fortbildungs- und Forschungsinstrument[1]

Salutogenetic Orientation in General Practice: Quality Circles as Training- and Research ToolO. Bahrs1 , S. Heim1 , V. Kalitzkus4 , P. F. Matthiessen2 , P. Meister3 , H. Müller2
  • 1Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Göttingen
  • 2Lehrstuhl für Medizintheorie und Komplementärmedizin der Universität Witten-Herdecke
  • 3E.F.N.M.U., Herdecke
  • 4Gesellschaft zur Förderung Medizinischer Kommunikation e. V., Göttingen
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Publication Date:
30 March 2007 (online)

Zusammenfassung

Die Perspektive der Salutogenese fokussiert in besonderer Weise die Ressourcen der Patienten, ihre Gesundheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen, was insbesondere für Patienten mit chronischen Krankheiten bedeutsam ist. Ziel des Projekts war es, in interdisziplinären Qualitätszirkeln mit Hilfe von fallbezogenen Diskussionen Wege der Umsetzung einer salutogenen Orientierung in der hausärztlichen Praxis zu explorieren. Hierfür wurden Videoaufzeichnungen realer Behandlungssituationen aus der Praxis der Teilnehmenden herangezogen. Dabei zeigte sich, dass das Potenzial einer salutogenetischen Orientierung selten ausgeschöpft ist und es der Sensibilisierung sowohl aufseiten der Behandelnden als auch bei den Patienten bedarf. Es gilt, lebensweltliche und biografische Aspekte in den Fokus zu nehmen, um mögliche Sinnstrukturen der Erkrankung und in der Biografie begründete Ressourcen zu erkennen. Hierfür erwies sich der Ansatz der narrative based medicine als besonders hilfreich. In den Zirkeldiskussionen wurde ein neuer Gesprächstypus für die Betreuung chronisch kranker Patienten entwickelt, der sog. Bilanzierungsdialog. Diese Gesprächsform erlaubt die Reflexion und Evaluation des Behandlungsverlaufs sowie die Vereinbarung gemeinsamer Ziele und deren Überprüfung zwischen den Behandlern und den entsprechenden Patienten. Ärzte wie auch nichtärztliche Therapeuten erlebten die Arbeit in den Qualitätszirkeln als Chance, das eigene Handeln zu reflektieren - nicht nur hinsichtlich der skizzierten Fragestellung.

Abstract

The salutogenetic perspective focuses in a special way on the resources of patients to foster or restore their health. This is of special importance for patients with chronic illnesses. In interdisciplinary quality circles (peer review groups) ways of putting a salutogenetic orientation into general practice were explored. The discussions were based on video documented real consultations from the participants' practice. The study showed that the potential of a salutogenetic orientation is seldom fully realized and a sensitisation of both, doctor and patient, is required. It is necessary to focus on biographical aspects in order to recognize the patient's resources based in his or her specific biography and the meaning structures of the illness as well. For that endeavor, we found aspects from a narrative based medicine helpful. For the care of chronically ill patients, a new interview type has been developed, the assessment dialogue. This type of interview allows reflection and evaluation of the therapeutic trajectory as well as cross-validation of the doctor's and patient's respective goals. The work in the circles proofed to be beneficial for GPs and non-medical therapists as well to reflect their own practice in relation to the respective questions.

1 (Universitäten Göttingen und Witten-Herdecke) Laufzeit des Projektes: 11/2002-03/2006
Das Projekt „Gesundheitsfördernde Praxen - Salutogenetische Orientierung in der hausärztlichen Praxis” wurde finanziell vom Bundesverband der AOK unterstützt. Für nähere Informationen s. www.gesundheitsfoerdernde-praxen.de

Literatur

  • 1 Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dt. erweiterte Herausgabe von A. Franke. Dgvt, Tübingen 1997
  • 2 Bahrs O, Matthiessen P F. Gesundheitsfördernde Praxen. Salutogenetische Orientierung in der hausärztlichen Praxis. Hans Huber, Bern u. a. 2007 (in Druck)
  • 3 Vgl. Fachdefinition der DEGAM: „Die Arbeitsweise der Allgemeinmedizin berücksichtigt somatische, psycho-soziale, soziokulturelle und ökologische Aspekte. Bei der Interpretation von Symptomen und Befunden ist es von besonderer Bedeutung, den Patienten, sein Krankheitskonzept, sein Umfeld und seine Geschichte zu würdigen (hermeneutisches Fallverständnis).”
  • 4 Ortmann K. Der Hausarzt als Erfinder. Eine praxistheoretische Verortung.  Sozialwissenschaften und Berufspraxis. 1999;  3 261-272 , 268
  • 5 Dies geschah in zwei mehrjährigen interdisziplinär zusammengesetzten Qualitätszirkeln in Göttingen und Witten-Herdecke, bestehend aus Hausärzten sowie nicht-medizinisch Professionellen und Patientenvertretern.
  • 6 Atemtherapeuten, Physiotherapeuten, Ernährungsberater etc.
  • 7 Zusätzlich wurden biografische Interviews mit den beteiligten Ärzten, Heilberuflern und ausgewählten Patienten durchgeführt, die mit Methoden der qualitativen Sozialforschung ausgewertet wurden.
  • 8 Maoz B. Salutogenese - Geschichte und Wirkung einer Idee. In: Schüffel W, Brucks U, Johnen R, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg). Handbuch der Salutogenese: Konzept und Praxis. Ullstein Medical, Wiesbaden 1998; 13-22
  • 9 Blankenburg W. Biographie und Krankheit. In: Zeitlichkeit als psychologisches Prinzip, hg. von Karl-Ernst Bühler, Köln 1986; 85-123, 85
  • 10 A. a. O., 1986; 98-99
  • 11 A. a. O., 1986; 115
  • 12 Koerfer A, Köhle K, Obliers R. Narrative in der Arzt-Patient-Kommunikation.  Psychotherapie und Sozialwissenschaft. 2000;  2 87-116
  • 13 Labov W, Waletzky J. Zur Theorie des Aufbaus von Narrationen. s. Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung. In: Ihwe J (Hrsg). Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Fischer Athenaeum, Frankfurt a. M. 1972-1973; 2
  • 14 Thomas Ripke zufolge beenden Patienten ihre Eingangsäußerung spätestens nach 1œ Minuten, zumeist aber nach 20-40 Worten mit der Feststellung: „So, das ist es, deswegen bin ich hier.”. (Ripke T. Patient und Arzt im Dialog. Thieme, Stuttgart 1994; 39)
  • 15 Brucks U, Wahl W B, Schüffel W. Die Bedingungen für Veränderungen erkennen: Salutogenese in der Praxis. In: Schüffel W et al. (Hrsg). Handbuch der Salutogenese. Ullstein Medical, Wiesbaden 1998; 37-47
  • 16 Hier ist bspw. an die „apostolische Funktion” zu denken, vgl. Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 5. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart [1965] 1980
  • 17 Rosin U. Balint-Gruppen: Konzeption - Forschung - Ergebnisse. Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis. Band 3. Springer, Berlin u. a. 1988
  • 18 Die Erfahrung unseres Projektes zeigte darüber hinaus, dass die Zirkelarbeit durch Workshops, in denen bestimmte Verfahren / Sichtweisen intensiv „geübt” werden können, eine wirkungsvolle Ergänzung erfahren kann.
  • 19 Bahrs O. Die Re-Inszenierung des Sprechstundenalltags - Videoaufzeichnungen aus der hausärztlichen Praxis.  Z Allg Med. 2005;  81 234-236
  • 20 Nach Aufklärung und schriftlichem Einverständnis der entsprechenden Patienten.
  • 21 Bahrs O. 2005, 238. Befürchtungen, dass die aufgezeichneten Gespräche aufgrund des so genannten „Kamera-Effekts” nicht authentisch, sondern ein „Zerrbild der Realität” seien, konnten durch verschiedene Studien entkräftet werden (vgl. Pringle M, Stewart-Evans C. “Does awareness of being video-recorded affect doctors’ consultation behaviour?” British Journal for General Practice 1990; 40: 455-458) und widersprechen unserer langjährigen Erfahrungen mit diesem Verfahren (vgl. Bahrs O et al. Ärztliche Qualitätszirkel. Leitfaden für den Arzt in Praxis und Klinik, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2001; 204-205).
  • 22 Die Diskussion wurde in einem Protokoll (basierend auf einer Tonbandaufzeichnung der Sitzung) festgehalten und den Teilnehmenden an die Hand gegeben.
  • 23 Oevermann U, Allert T, Konau E, Krambeck J. Die Methodologie einer ‚objektiven Hermeneutik’ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Soeffner HG, Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Metzler, Stuttgart 1979; 352-434
  • 24 Vgl. Bahrs O 2005; 240
  • 25 Balint M, Balint E. Psychotherapeutische Techniken in der Medizin. Hubert-Klett, Bern, Stuttgart 1961
  • 26 Da der Qualitätszirkel im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführt wurde, erfolgte die thematische Orientierung in Abstimmung mit den Projektzielen.
  • 27 Anschütz F. Ressourcenorientierte ärztliche Fortbildung. In: Schüffel W, Brucks U, Johnen R, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg). Handbuch der Salutogenese: Konzept und Praxis. Ullstein Medical, Wiesbaden 1998; 285-291

1 (Universitäten Göttingen und Witten-Herdecke) Laufzeit des Projektes: 11/2002-03/2006
Das Projekt „Gesundheitsfördernde Praxen - Salutogenetische Orientierung in der hausärztlichen Praxis” wurde finanziell vom Bundesverband der AOK unterstützt. Für nähere Informationen s. www.gesundheitsfoerdernde-praxen.de

Dr. O. Bahrs

Abt. Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie · Universität Göttingen

Waldweg 37

37075 Göttingen

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