Z Sex Forsch 2007; 20(3): 263-266
DOI: 10.1055/s-2007-981265
Bericht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Splash and Clash in Regensburg?

Eine Tagung der DGfS über „Sadomasochistische Perspektiven”Arne Dekker1
  • 1Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie
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Publication Date:
12 September 2007 (online)

Der grundlegende Wandel der Sexualität, den die empirische Sexualwissenschaft in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat, lässt sich u. a. als ein Prozess beschreiben, in dessen Verlauf die alte Grenze zwischen Normalität und Perversion immer durchlässiger wurde: Vormals marginalisierte und pathologisierte sexuelle Praktiken erscheinen nun als bunte, vielgestaltige und uneinheitliche sexuelle Möglichkeiten, die Volkmar Sigusch „Neosexualitäten” genannt hat (2005). Auf diese Weise sei, so Sigusch, beispielsweise der alte Sadomasochismus „ziemlich erfolgreich transformiert” worden (ebd.: 99).

Die Pluralisierung der Sexualität im Allgemeinen und die Entpathologisierung des Sadomasochismus im Besonderen spiegeln sich zweifellos auch in einem Teil der aktuellen Theoriebildung der Sexual- und Geschlechterforschung. Dennoch finden wir, gerade wenn es um SM geht, im wissenschaftlichen wie im klinischen Alltag noch immer Konzepte und Begriffe, an denen die geschilderte Entwicklung spurlos vorüber gegangen zu sein scheint - von Männern und Frauen der SM-Szene wird dies zurecht beklagt.

Für die 22. wissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, die unter dem Titel „Lust und Schmerz - Sadomasochistische Perspektiven”[1] vom 11. bis 13. Mai 2007 in Regensburg stattfand, hätte man vor diesem Hintergrund also ähnliche Konflikte erwarten können, wie jene, die John de Cecco zur Blütezeit der Essentialismus-Konstruktivismus-Kontroverse auf zwei Kongressen über Homosexualität erlebte und unter dem Titel „Splash and Clash in Amsterdam” (1988) beschrieb. Tatsächlich zeigten sich die terminologischen Differenzen in Regensburg aber vor allem in der Vielfalt der angesprochenen „Perspektiven”, deren zwei Extreme einerseits durch die Gestalt des „normalen”, „gesunden”, selbstbestimmt und konsensuell SM praktizierenden Heterosexuellen, andererseits durch die des sadistischen Sexualmörders markiert wurden. Beide Figuren tauchten in Vorträgen auf, und darüber hinaus viele andere: die Ehefrau, die im heterosexuellen Alltag eine „masochistische Haltung” einnehme; der mittelalterliche Flagellant, der sich durch Selbstgeißelung in Zustände religiöser Entrückung versetzte; der Künstler, der seinen Werken durch die Ambivalenz von Freiwilligkeit und Zwang Spannung verleiht u. v. a. m. Gehört all das, diese Frage drängt sich angesichts solcher Vielfalt auf, tatsächlich zum selben Thema? Und ist es sinnvoll, in all diesen Fällen von „Sadomasochismus” zu sprechen?

Es mag an der integrativen Kraft gerade dieser unbestimmten Vokabel liegen[2], oder an der überraschend guten Stimmung und produktiven Harmonie der Tagung, dass diese Frage kaum gestellt wurde. Vielleicht bestand in der begrifflichen Offenheit aber auch die Stärke der Veranstaltung: Sie ermöglichte einen unvoreingenommenen Blick, der in der disziplinären Verengung ausdifferenzierter wissenschaftlicher Diskurse eher selten ist. Erst bei der abschließenden Podiumsdiskussion jedenfalls kristallisierten sich zwei moderat unterschiedliche Vorstellungen davon heraus, wie der SM-Begriff sinnvollerweise zu nutzen sei - die eine ganz explizit, die andere eher implizit.

Die erste Vorstellung wurde mit der Metapher einer „Topografie der Seele” umschrieben, welche eine Vielzahl unterschiedlicher „Länder, Kontinente, Universen” beherberge. Eine solche Haltung wendet sich zuallererst gegen die Idee, bei Sadomasochismus handle es sich um ein einheitliches Phänomen: sadomasochistische Praktiken, Diskurse, Lebensentwürfe, Identitäten, so die Idee, sind derart vielfältig, dass sie sich selbst bei Verwendung einer Unzahl von Unterkategorien nur unzureichend beschreiben ließen. Es existiert keine einheitliche, dem Sadomasochismus zugrunde liegende Struktur, Ursache oder gar Pathologie, die eine umfassende Definition ermöglichte. Was SM ist, entscheidet sich vielmehr im jeweiligen Feld, hängt von konkreten Diskursen und Praktiken ab und müsste von Fall zu Fall neu bestimmt werden.

Oder sollte man sich - dies war die zweite und eher implizit geäußerte Vorstellung - auf dem Weg zu einer vereinheitlichenden Definition nicht gar so schnell geschlagen geben? Gibt es nicht doch die Möglichkeit, eine grundlegende Struktur zu isolieren, die sich - bei sorgfältiger Abgrenzung von gestaltähnlichen Phänomenen - zur Definition eignete? Wenn ja, so hätte dies zunächst die Konsequenz, dass sich die Vielzahl extrem unterschiedlicher Phänomene, die auf der Tagung vorgestellt wurde, als Kontinuum beschreiben lassen müsste. Christliche Selbstgeißelung und das Leben Marquis des Sades, modernes Bodyshaping und autoerotische Unfälle, mindestens aber die urbane SM-Szene und sadistisch motivierte Sexualmorde: Sie alle wären dann unterschiedliche und vor allem unterschiedlich intensive Ausprägungen einer grundsätzlich verallgemeinerbaren Logik. Es kann nicht verwundern, dass die Abgrenzung solch universalisierender Erklärungsversuche von den pluralisierenden sich bei näherem Hinsehen weitgehend mit einer anderen Unterscheidung deckt: jener zwischen eher medizinischen bzw. psychologischen Ansätzen auf der einen Seite und eher sozial- oder kulturwissenschaftlichen auf der anderen.

Die sozial- oder kulturwissenschaftlichen Tagungsbeiträge richteten ihr Interesse vor allem auf die vielfältige soziale Praxis des Sadomasochismus, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. So berichtete etwa der Theologe Holger Tiedemann über die Bedeutung der bereits erwähnten Selbstgeißelungen in der christlichen Religionsgeschichte. Kathrin Passig und Volker Woltersdorff schilderten den Alltag in heterosexuellen bzw. schwulen, lesbischen und trans-queeren SM-Szenen. Peter Gorsen analysierte die erotische Spannung in den Zeichungen Pierre Klossowskis. Und der Politologe Norbert Elb arbeitete das „Liebe / Erotik-Dilemma” als Besonderheit sadomasochistischer Beziehungspraxis heraus.

Im Gegensatz zu diesen vielgestaltigen Beschreibungen der SM-Praxis richtete sich das Interesse der medizinischen und psychologischen Tagungsbeiträge - zumindest auch - auf die Ursachen von Sadomasochismus: An die Stelle der Frage nach dem „wie” trat jene nach dem „warum”. Es ist nicht zuletzt diese Ätiologiefrage, aus der die medizinisch-psychologische Perspektive ihre universalisierende Haltung gewinnt. Beantwortet wurde die Frage dann unterschiedlich, u. a. auf psychoanalytischer Grundlage (Nikolaus Becker, Estela Welldon), auf kognitiv-behavioraler (Jürgen Hoyer) und auf explizit forensischer (Peer Briken, z. T. auch Wolfgang Berner). Ein weitgehender Konsens bestand immerhin darin, dass Sadomasochismus selbst nicht als behandlungsbedürftig einzustufen sei, und Leidensdruck meist in Zusammenhang mit anderen Störungen entstehe. Weil dort, wo die Frage nach Ursachen gestellt wird, auch die nach dem Krankheitswert nicht fern liegt, muss man allein dies positiv festhalten. Ob SM unter diesen Umständen aber überhaupt in den psychiatrischen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV vorkommen sollte, blieb umstritten: Anwesende Mitglieder der SM-Szene sprachen sich dagegen aus, Peer Briken aus forensicher Sicht dafür. Dass zumindest die Diagnosekategorie F 65.5 des ICD-10 der Revision bedarf, ist dennoch eine der wichtigsten Botschaften der Tagung. Uneinigkeit bestand allerdings über die nötige Form dieser Revision. Während sich eine Gruppe von Anwesenden dafür aussprach, die Kategorie ganz fallen zu lassen und sich ggf. auf die Behandlung der „Komorbidität” (Persönlichkeitsstörungen, Impulsivität u. a.) zu beschränken, erkannten andere in der Abhängigkeit des Lustempfindens von körperlichem Schmerz oder Furcht ein eigenständiges Phänomen, das bei entsprechendem Leidensdruck weiterhin als Störung behandelt werden sollte. Briken machte in diesem Zusammenhang den Vorschlag, die Nomenklatur der diagnostischen Manuale in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Szene zu überarbeiten. Eine dritte Gruppe sprach sich dafür aus, nach Vorbild des DSM-IV zukünftig auch im ICD-10 zwischen Sadismus und Masochismus zu unterscheiden. Eindrucksvoll untermauert wurde die Kritik am ICD-10 jedenfalls von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener SM-Selbsthilfeangebote, die die Pathologisierung und Stigmatisierung durch das Manual als ernsthaftes und sehr konkretes Hindernis für die Auseinandersetzung mit sadomasochistischen Wünschen beschrieben. Die Forderung nach einer Entpathologisierung ist also weit mehr als ein machtpolitisches Scharmützel.

Eine weitere zentrale Botschaft der Tagung lautete: Es besteht Forschungsbedarf. Dass nicht nur Sexualforscher, sondern gerade Szene-Angehörige den Wunsch nach empirischer (Selbst-)Beschreibung äußerten, mag dabei verwundern. Nicht ohne Grund steht schließlich beispielsweise ein Teil der Schwulenszene quantitativer Empirie seit Jahrzehnten außerordentlich skeptisch gegenüber: Diese sei stets auch mit Entdifferenzierungen und unzulässigen Verallgemeinerungen verbunden und produziere letztlich, was sie zu entdecken vorgebe (vgl. z. B. Etgeton 1991; Dekker und Schäfer 1999). Ob also zukünftig ausgerechnet SM-Szene und Sexualwissenschaft gemeinsam an der empirisch erzeugten Fiktion eines „sadomasochistischen Gesamtsubjekts” arbeiten, bleibt abzuwarten. Unabhängig davon ist das von allen Seiten geäußerte Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit als außerordentlich positiv zu bewerten.

Literatur

  • 1 De Cecco J P. Splash and Clash in Amsterdam. Essentialismus vs. Konstruktivismus und zwei Kongresse über Homosexualität.  Z Sexualforsch. 1988;  1 146-153
  • 2 Dekker A, Schäfer S. Zum Sampling-Bias empirischer Studien über männliche Homosexualität.  Z Sexualforsch. 1999;  12 350-361
  • 3 Etgeton S. Die Verdopplung des Traumas. Kritisches zu Martin Danneckers Studie „Homosexuelle Männer und Aids”.  Z Sexualforsch. 1991;  4 58-66
  • 4 Sigusch V. Neosexualitäten. Frankfurt / Main, New York: Campus, 2005

1 Ein Sammelband mit sämtlichen Tagungsbeiträgen, herausgegeben von Andreas Hill, Peer Briken und Wolfgang Berner, erscheint Anfang 2008 im Psychosozial-Verlag.

2 Der zur Darstellung der Vielgestaltigkeit des Phänomens in der Szene gebräuchliche Begriff „BDSM” (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) spielte auf der Tagung eine eher untergeordnete Rolle.

Dipl.-Soz. A. Dekker

Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie

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