PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(1): 76-80
DOI: 10.1055/s-2007-986371
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erfolgreich altern heißt nicht, die Altersgrenze hinauszuschieben

Eva  Jaeggi im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publication Date:
28 February 2008 (online)

Eva Jaeggi wurde 1934 geboren. Sie baute an der Ruhruniversität Bochum die psychologische Beratungsstelle „Studienbüro” auf und lehrte dann bis 2002 als Professorin das Fach Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Technischen Universität in Berlin. Sie ist Verhaltenstherapeutin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin und lebt in Berlin. Neben zahlreichen Fachpublikationen hat sie Bücher veröffentlicht, die sich mit menschlichen Lebenslagen auseinandersetzen.

PiD: Eva, ich freue mich sehr, hier in Berlin nach den vielen Jahren fachlicher und persönlicher Begegnungen mir dir über das Thema „Älter werden, alt sein” zu sprechen. „Viel zu jung, um alt zu sein” oder: „Tritt einen Schritt zurück und du siehst mehr - Gelassen älter werden” - zwei Buchtitel von dir, die sich mit dem Lebensgefühl des Älterwerdens beschäftigen. Warum interessierst du dich besonders für dieses Thema?

Eva Jaeggi: Diese Frage ist sehr einfach zu beantworten: weil ich selbst älter geworden bin. Beim ersten Buch konnte ich mich noch als eine „junge Alte” fühlen und bezeichnen. Beim zweiten Buch war das schon nicht mehr so einfach, da war ich schon zumindest eine ältere „junge Alte”. Heutzutage verschiebt sich das etwas, aber ich spüre, es beginnt jetzt ein anderer Abschnitt.

Viele Menschen beginnen ja irgendwann im Laufe ihres Lebens, ihr Alter zu verleugnen und halten an dieser Verleugnung auch standhaft fest …

… das kenne ich auch. Und wenn mir jemand sagt: „Das glaubt man nie, dass du schon so oder so alt bist”, dann habe ich mich immer auch geschmeichelt gefühlt. Bis mir dann klar wurde, dass es einfach ein übliches Kompliment ist. - Du hast es mir übrigens noch nicht gemacht -. In der Altersstudie von Baltes habe ich gelesen, dass, ich glaube, fast 90 % der Menschen, der Meinung sind, dass sie wesentlich jünger wirken und aussehen als ihre Altersgenossen. Das ist statistisch etwas merkwürdig. Aber es gibt schon eine ganze Menge an Problemen, die dieses Alter, auch für mich natürlich, bereithält. Ich glaube, dass ich mich noch relativ aktiv fühle und gehalten habe und auch versuche, aktiv zu bleiben, Das ist sicher eine ganz gute Demenzprophylaxe. Trotzdem: Manches fällt mir schwerer.

Kommen wir nach dem persönlichen Einstieg zu der fachlichen Seite. Freud hat gesagt: „Das Unbewusste kennt keine Zeit. Die Trieb- und Wunschwelt ist immer gegenwärtig.” Kannst du etwas sagen über die Trieb- und Wunschwelt älterer Menschen?

Freud hat etwas sehr Richtiges gesehen. Ältere Menschen sind natürlich, wie Menschen in allen Altersphasen, darauf bedacht, ihren Selbstwert zu bestätigen, sich unter Umständen versorgen zu lassen, Kontrolle auszuüben. Sie haben natürlich auch erotische und sexuelle Wünsche. Sicher sehen hormonell bedingt diese sexuellen Wünsche anders aus. Aber der Wunsch nach Zärtlichkeit, nach Berührung, nach einem anderen Menschen, das alles sind Wünsche, die vom Alter ganz und gar unangetastet sind. Und zu erkennen und damit zurechtzukommen, dass diese Wünsche zum Teil nicht erfüllbar sind, zum Teil andere Wege gefunden werden müssen, das ist das Problem des Alters.

Du hast in deinem Buch gefragt, ob das Hadern mit dem Defizitären beim Älterwerden möglicherweise ein gekränkter Narzissmus sei.

Der Narzissmus ist meines Erachtens überhaupt das Grundproblem beim Altern. Das hängt sehr stark mit der Jugendgesellschaft zusammen. Wir haben Werte, die ganz stark an Jugend geknüpft sind, sowohl erotische Attraktivität wie eben auch Leistung und Flexibilität. Diese Werte sind am besten von jüngeren Menschen zu erfüllen, während andere Dinge, die in vormodernen Gesellschaften wichtig sind, nämlich das Tradieren von Normen und Kompetenzen, von den Älteren weitergegeben werden. Und sie gewährleisten in manchen Gesellschaften, den Zusammenhang zu höheren Mächten aufrechtzuerhalten. Das alles ist bei uns nicht gegeben, hat aber anderswo einen großen Wert.

Fehlt bei uns die Wertschätzung älterer Menschen?

Ja, weil bei uns die Spiritualität älterer Menschen nicht gefragt ist. Wenn dies der Fall ist, dann sind ältere Menschen auch etwas Verehrenswürdiges. Aber es ist immer mit Ambivalenzen verbunden, alte Menschen werden in keiner Gesellschaft unhinterfragt geehrt, auch nicht, wenn sie die Verbindung zu den Ahnen oder zu höheren Mächten aufrechterhalten. In jeder Gesellschaft sind auch Jugend, Kraft, Schönheit, vor allem bei Frauen, wichtig. Und die Alten gewährleisten einerseits Kontinuität, andererseits sind sie aber eben nicht mehr in dieser Weise leistungsfähig und attraktiv.

Ist es nicht gerade bei Frauen eine nachvollziehbare Kränkung, wenn, was auch empirisch belegt ist, ein altes oder älteres Aussehen Frauen sexuell mehr entwertet als Männer?

Das ist ganz sicher ein Kernproblem vieler Frauen, wenn sie nicht in einer festen Partnerschaft leben, wenn Partner gestorben sind oder sie durch Trennung alleine leben müssen. Dann haben sie von einem gewissen Zeitpunkt an immer geringere Chancen am Heiratsmarkt oder am Liebesmarkt. Das ist bei Männern anders. Es ist hochsignifikant: Männer wollen Frauen, die immer einiges jünger sind, manchmal sehr viel jünger sind, Frauen gehen bei den Partneralterswünschen in den Medien immer von ihrem eigenen Alter aus und dann aufwärts. Das scheint wie ein Naturgesetz.

Was ist denn die Konsequenz aus der angesprochenen Kränkung? Schönheitschirurgie?

Die Konsequenzen daraus sind schon seit Langem, etwas zu verdecken, etwas dagegen zu tun, die Anti-Aging-Bewegung, offenbar immer häufiger auch Schönheitschirurgie, wobei das natürlich das Problem etwas hinausschiebt, aber sicher nicht unwichtig macht.

Wenn du eine Gruppe älterer Frauen in der Beratung hättest, was würdest du ihnen raten bezüglich dieser erfahrenen Defizite und Kränkungen?

Natürlich kann man sich einiges ausdenken, wie Frauen sich attraktiver herrichten, wie sie in Gruppen kommen, wo auch Männer sind, die altersmäßig dazu passen. Aber ich glaube, dass es in vielen Fällen nötig ist, eine gewisse Distanz zu dem Problem zu bekommen. Sich darüber klarzuwerden, dass man gegen einen starken gesellschaftlichen Trend als Einzelperson nicht gut anrennen kann. Man kann natürlich, und das finde ich auch immer sehr sinnvoll, Gruppen bilden, etwas schreiben und darauf hinweisen, wie gesellschaftliche Formationen beschaffen sind, wie schädlich es ist, sich nur auf den Jugendwahn einzulassen. Frauen, die heute 50 oder älter sind, haben sicher sehr viel bessere Chancen als noch vor 30, 40 Jahren, auch bessere Chancen Partner zu finden. Also es ändert sich schon ein bisschen. Aber ich glaube nicht, dass irgendwann das Verhältnis Männer-Frauen ausgeglichen sein wird.

Könnte es nicht sein, dass eine Frau, die nicht hadert mit ihrem Älterwerden und nicht hadert mit den Veränderungen ihres Körpers und ihrer äußeren Erscheinung, in ganz anderer Weise attraktiv, selbstsicher und selbstbewusst auftreten kann und dadurch Attraktivität nach außen trägt?

Das gilt für alle Altersgruppen. Menschen, die etwas zu bieten haben, die präsent sind, die irgendwelche Kompetenzen haben, sind natürlich immer attraktiver als solche, die sich verkriechen und die ihren Komplexen frönen. Und wenn eine Frau, die früher vielleicht mal sehr attraktiv war, aber sich nur noch darauf beruft, sich zurückzieht und dann jammert, ist sie natürlich umso weniger attraktiv. Trotzdem wird die Altersattraktivität nicht die verloren gegangene Jugendschönheit wettmachen. Auf Partys ist zu beobachten, dass sich für ältere Frauen, die nicht eingebunden sind, eigentlich kaum ein Mann interessiert oder bereit ist, sich wirklich mit ihr abzugeben. Sie muss selbst aktiv werden. Das ist durchaus möglich, aber ältere Frauen müssen mehr tun als junge, schöne Frauen, auf die auch ältere Männer sofort aufmerksam werden.

Könnte eine Konsequenz daraus sein, speziell auf ältere Frauen zugeschnittene soziale Kompetenztrainings anzubieten?

Das ist keine schlechte Idee und käme sicher ganz gut an. Hätte auch sicher einigen Erfolg. Aber das ist sicher nicht die große Lösung.

Gerontologen sprechen vom „erfolgreichen Altern”. Es gibt auch den Ausdruck des „guten Alterns”. Können Menschen erfolgreich altern?

Ich bin demgegenüber recht skeptisch. Dahinter verbirgt sich immer wieder diese Vorstellung, wir dürfen nicht altern. Eine Altersforscherin hat einmal gesagt: „Erfolgreich altern bei den Altersforschern heißt immer: nicht altern.” Und genau diese Haltung, doch noch möglichst jung zu sein, die halte ich für schwierig. Sie verbraucht zu viel Energie, Die Energien, die die ganzen Abwehrmechanismen benötigen, könnte man besser verwenden. Erfolgreich Altern sollte einschließen zu wissen, wo die Grenzen sind, wo man nichts machen kann, womit man sich abfinden muss, dass bestimmte Dinge nicht mehr funktionieren, sowohl im Sozialen als auch im Physischen. Wenn das gelingt, dann würde ich von erfolgreich Altern sprechen. Aber eben nicht, wenn erfolgreich Altern heißt, die Altersgrenze hinauszuschieben.

Aber viele Menschen schieben ja die Beschäftigung mit dem Altern hinaus. Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, es gibt so etwas wie „gut alt werden”, ist das dann eine Glückssache oder ist das beeinflussbar? Und die anschließende Frage gleich: Macht es Sinn, früh damit anzufangen?

Ich würde sagen, ja, es macht Sinn, etwa im zweiten oder dritten Lebensjahr anzufangen. Denn ein gutes Altern hat mit dieser alten antiken Tugend der Gelassenheit zu tun. Und Gelassenheit, wenn man es zurückverfolgt auf seine Wurzeln, hat wirklich etwas zu tun mit der frühen Kindheit, wo das Kind lernen muss, irgendwann sich aus dem Zentrum herauszunehmen, natürlich nur ganz ansatzweise. In der Psychoanalyse würde man da vom ödipalen Geschehen sprechen, wo das Kind emotional begreifen muss, dass Vater und Mutter eine andere Beziehung zueinander haben als das Kind selbst eine Beziehung zu ihnen haben kann. Das heißt, dass Menschen auch erfahren, dass man ausgeschlossen werden kann aus bestimmten Beziehungen. Und dass es auch kein großes Unglück ist, das ertragen zu lernen. Was nichts anderes heißt, als dass man den Narzissmus in sich gelassener erträgt. Immer werden Menschen das Bedürfnis haben, beachtet zu werden, vielleicht im Zentrum zu stehen, gut zu wirken. Aber sich davon immer wieder zeitweise zu distanzieren, das ist etwas, was wir im frühen Kindesalter lernen.

Defizite und Belastungen im Alter erfahren Frauen stärker als Männer, wie wir besprochen haben. Nun, sage ich mal salopp, sind Frauen in unserer Gesellschaft im Vormarsch. Immer mehr wichtige Positionen werden von Frauen besetzt, Frauen haben seit der Frauenbewegung verstärkt die Verantwortung für ihre Sexualität übernommen. Bedeutet das für einen Blick in die Zukunft auch, dass sich die Sicht auf alte Frauen und Männer verändern wird, und vor allem auch das Gefühl von Frauen beim Älterwerden?

Frauen haben im Allgemeinen etwas mehr Selbstvertrauen, verglichen mit der Zeit, in der ich eine junge Frau war, also vor 40, 50 Jahren. Wir waren erzogen auf den Mann hin. Selbst unsere Berufsausbildung war eigentlich hauptsächlich deshalb so wertvoll, weil die Männer gerne mit einer gebildeten Frau zusammen sind. Und notfalls könnte man sich ja auch selbst versorgen, wenn dann die Ehe schief geht oder der Mann stirbt. Das waren die Wertvorstellungen, die unsere Eltern uns oft noch vermittelt haben. Heute haben Frauen schon andere Vorstellungen. Aber nicht in allen Kreisen, nicht in allen Regionen und Gemeinden. Im Allgemeinen ja, aber so rasant geht es ja nicht mit der Emanzipation. Die vielzitierte Doppelbelastung hat sicherlich nicht nur etwas damit zu tun, dass Frauen sehr ungerecht behandelt werden. Sie fühlen sich auch in einer anderen Weise an ihre Kinder gebunden. Und das ist jetzt natürlich ganz gegen jeden Feminismus, Frauen empfinden vieles anders. Auch Frauen haben gerne Erfolg, im Beruf, persönlich. Aber - und das ist empirisch gestützt - sie haben gegenüber einer Karriere offensichtlich selbst auch eine andere Einstellung als Männer.

Du schreibst in deinem Buch „Tritt einen Schritt zurück und du siehst mehr” von alterstypischen Angststörungen: Angst, verrückt zu werden, generalisierte Lebensangst, Existenzängste, Hilflosigkeit, Angst vor Krankheiten, Angst vor ungesteuerten Veränderungen, vor Entwicklungsaufgaben. Haben solche Ängste bei älteren Menschen etwas Typisches, was wir in der therapeutischen Arbeit so nicht vorfinden?

Wir finden alle diese Ängste schon auch bei jüngeren Menschen, aber gehäuft bei älteren und zum Teil auch mit sehr realen Anteilen gemischt. Natürlich ist Angst vor Kontrollverlust, wenn man 75 oder 80 und noch drüber ist, etwas anderes, als wenn ein 40-Jähriger permanent das Gefühl hat, er könnte die Kontrolle verlieren, und daher nicht mehr rausgeht. Obwohl diese Ängste für ältere Menschen etwas Reales haben, ist auch immer ein Stück Irrationalität dabei, immer ein Stück Lebensgeschichte dabei zu bearbeiten. Und ein Therapeut tut gut daran, diese Unterscheidung sich selbst und natürlich auch seinem Patienten klarzumachen. Gerade die Angst vor Kontrollverlust ist ja eine ganz tiefe Angst, eine Angst vor Veränderungen, wenn die Flexibilität nachlässt. Es geht um ganz banale Sachen: in der Stadt einen Parkplatz zu finden, eine größere Reise zu machen, ins Flugzeug zu steigen, die nicht altengerechten Hinweisschilder zu finden.

Aber natürlich hat das immer einen irrationalen Beigeschmack, wenn das Leiden zu groß wird. Da müssen Therapeutinnen und Therapeuten sehr genau hinhören. Die Angst vor Entwicklungsaufgaben kann ja wie jede neurotische Störung auch unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass hier Entwicklungen versäumt werden. Bei alten Menschen kann es sich tatsächlich sehr viel heftiger und klarer konturieren, dass die nicht mehr wollen, dass sie regressiv alles abwehren, was sie noch könnten und dass sie sich einfach fallen lassen in Hilflosigkeit, Krankheit und Ähnliches hinein, das wäre dann auch ein Abwehrmechanismus, der das Alter irgendwie bewältigen will. Es gibt die progressiven Mechanismen, auf jeden Fall fit und jung sein bis zum Herzinfarkt, oder die regressiven Mechanismen, die sagen: Ich bin ja nichts, ich bin nur ein altes Weib, ich kann gar nichts mehr.

Unsere Gesellschaft gibt sich ja immer mehr behindertengerecht. Ich habe das Gefühl, altersgerecht ist unsere Gesellschaft noch nicht. Heißt, dass vieles noch nicht auf ältere Menschen oder alte Menschen abgestellt ist. Du hast Beschilderungen angesprochen. Beim Bahnfahren wird plötzlich und kurzfristig der Bahnsteig des einfahrenden Zuges geändert, und die vielen älteren Menschen stehen mit ihren Koffern da, hilflos, wie sie jetzt auf den anderen Bahnsteig kommen. Müssen sich da noch Einstellungen ändern?

Auf jeden Fall, und zwar wirklich in diesen vielen Kleinigkeiten. Ältere Menschen können zum Teil schlecht hören. Aber das ist gar nicht mal das größte Problem. Die Lautsprecher, die sind oft laut genug, nur sie differenzieren nicht mehr so gut. Auch wenn sie hören, da wird was angesagt, können sie nicht mehr verstehen, was angesagt wird. Alle diese Dinge werden überhaupt nicht bedacht. Also, da könnten wir noch und noch weiter sprechen.

Kommen wir noch einmal zurück zu den psychischen Problemen alter Menschen, die Art der Bearbeitung, wie du schreibst, ist häufig der Absturz in die Depression. Kann dem vorgebeugt werden?

Sicherlich. Es kommt darauf an, die Kontrolle über sein Leben nicht zu verlieren. Schon lange vorher aktiv sein und Dinge suchen, die nach dem Berufsende weitergeführt werden können. Bei manchen Berufen ist es möglich, etwas von den beruflichen Kompetenzen noch über das Pensionierungsalter hinüberzuretten. Es gibt generell sehr, sehr viele Möglichkeiten, auch einen Teil der beruflichen Kompetenzen ehrenamtlich auszuüben. Es sollte ganz konkrete Beratung geben, was bestimmte Berufsgruppen an Möglichkeiten haben, sich aktiv weiterhin einzubringen. Aktivität ist immer etwas Positives.

Besteht dann nicht aber die Gefahr, doch nicht anzuerkennen, dass ein Lebensabschnitt vorbei ist?

Ja, wenn es dann wieder ausartet in diese Vorstellung: Ich bin sowieso nicht alt, ich kann alles noch machen wie vorher. Da braucht man wirklich die entsprechende Balance, sich klarzumachen, da stecke ich jetzt zurück, ich brauche ja keine Karriere mehr zu machen, Ehrgeiz abzulegen, jüngere Leute auch vorzulassen, sonst wird es eine Hektik, die nur Verleugnung bedeutet, und jede Verleugnung kostet eigentlich Energie und geht dann schließlich auch oft ins Somatische über.

Sollte es aus deiner Sicht eine Obergrenze geben, ab wann keine Psychotherapie mehr sinnvoll ist oder nicht mehr angeboten werden sollte?

Nein, auf keinen Fall. Der älteste Patient, von dem ich gehört habe, war über 90. Er hatte eine demenzkranke Frau und war sehr depressiv geworden, weil er sich nicht mehr austauschen konnte. Er selbst war geistig ganz fit und ist dann zu einer Therapeutin gegangen, die mit ihm Gespräche geführt hat, über den Umgang mit der Vergangenheit, über den Ärger, den er über die demenzkranke Frau hat, über das Mitleid, über Schuldgefühle usw. Und sofern jemand nicht demenzkrank ist, ist Psychotherapie im vollsten Sinne möglich. Da wird sich in manchen Fällen Verhaltenstherapie anbieten, handlungsorientiert, in vielen Fällen aber wird man dies gut kombinieren können auch mit einer Bilanz der Vergangenheit, die vielleicht die Dinge in ein anderes Licht rücken als man es bisher gesehen hat. Also die ganzen Aspekte, die dann auch am Ende oder gegen Ende eines Lebens eine Rolle spielen, sich noch einmal zu vergewissern, wie hat denn mein Leben überhaupt ausgesehen. Das wird sicher auch dabei wichtig sein, wie die aktuellen Probleme zu bewältigen sind.

Es finden ja im therapeutischen Setting in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Verschiebungen statt. Es wird immer mehr Therapeutinnen und immer mehr ältere Menschen geben, die psychotherapeutische Hilfe suchen. Was bedeutet das für die Dynamik in der therapeutischen Beziehung: eine recht junge Psychotherapeutin und ein männlicher Patient über 65 oder 70?

Das ist gar nicht so einfach. Es sollte schon versucht werden, dass der Altersunterschied nicht so groß ist. Aber ich wundere mich oft, wie gut unsere Ausbildungskandidatinnen mit Menschen umgehen können, die doch beträchtlich älter sind. Wie auch das sozusagen „zuschlägt”, was wir dann als Psychoanalytiker Übertragung nennen. Dass auch die junge Therapeutin von dem älteren Mann als eine weise Frau gesehen wird, die sehr viel Lebenserfahrung hat, dass da Dinge übertragen werden von eigenen Eltern, Lehrern und Ähnlichem, sodass sie sehr ernst genommen wird.

Und wie ist es mit der Gegenübertragung, das Gefühl, den eigenen Vater oder Großvater vor sich sitzen zu haben?

Das kann oft schwierig sein. Das ist Sache der Ausbildung und der Supervision, damit immer wieder die Auszubildenden zu konfrontieren, und kann manchmal auch zu Schwierigkeiten führen. Ich habe erstaunliche Dinge erlebt mit jungen Männern, die ältere Frauen therapieren. Sie haben sich wirklich in eine sehr konstruktive therapeutische Beziehung hineinbegeben. Ich denke da an einen sehr konkreten Fall einer älteren Frau mit einem 30 Jahre jüngeren Therapeuten. Es hat sich ganz schnell herauskristallisiert, wie ernst sie ihn nimmt und in welcher Weise er für sie auch immer wieder eine Leitfigur wird, wie sie sich in vielen, auch sehr konkreten Alltagsdingen an ihn wendet. Und für ihn war es am Anfang sicher nicht ganz leicht. Er hat geschwankt zwischen ein bisschen Überforderung, und auch Spott der Alten gegenüber. Es waren manchmal ein bisschen seltsame Situationen. Aber er hat das schließlich sehr, sehr gut in sich selbst regulieren können.

Taucht in deiner therapeutischen Arbeit mit älteren Menschen in besonderer Weise auch der Generationenkonflikt auf?

Das ist ein ganz wichtiges Thema, und zwar häufig in dem Sinne, dass ältere Menschen sich von ihren Kindern vernachlässigt fühlen. Sie betonen immer wieder, wie viel sie getan haben und wie wenig zurückkommt. So ein Sparkassendenken sollte man sich als älterer Mensch verbieten und sich klarmachen, dass die Kinder ihr eigenes Leben aufzubauen haben, dass sie natürlich durch dauernde Vorwürfe abgeschreckt werden. Wenn ein Telefongespräch der Mutter damit beginnt: „Schon wieder hast du dich 14 Tage nicht gemeldet”, dann haben natürlich der Sohn oder die Tochter keine so große Lust, das nächste Mal anzurufen und dann wird es dauernd vergessen. Es scheint mir sehr wichtig, dass natürlich, wenn Eltern dann wirklich hilfsbedürftig sind, Kinder auch eintreten. Es gilt noch immer ein Generationenvertrag, aber er ist sehr viel schwerer einzuhalten, weil es zu wenig Kinder gibt. Wenn man fünf Kinder hat, dann ist er leichter einzuhalten, das ist klar, als wenn man ein oder zwei hat. Und dann kommt noch die Mobilität dazu. Aber man wird als älterer Mensch sich wirklich sagen müssen, für lange Jahre hast du kein besonderes Anrecht darauf, dass deine Kinder sich nun so um dich kümmern, deine Sorgen teilen und immer wieder anrufen. Ein freundliches Miteinander sollte schon gewährleistet sein. Aber das kann man leicht zerstören durch dauernde Vorwürfe.

Bedürfen aus deiner Sicht Therapeutinnen und Therapeuten bestimmter Voraussetzungen, Kompetenzen oder auch Qualitäten in der Beziehungsgestaltung, gerade in der Arbeit mit alten Menschen?

Ich glaube nicht, dass das besondere Kompetenzen sind. Es sind die Kompetenzen, die man von jedem Therapeuten und jeder Therapeutin verlangt: Imstande sein, sich flexibel auf den anderen einzustellen, empathisch zu sein, intuitiv den Moment zu erfassen, wo er vielleicht aus seinem eigenen Regelsystem herausspringt und ganz anderes macht als sozusagen vorgeschrieben ist. Das gilt für alle therapeutischen Richtungen und für alle Therapeuten und Therapeutinnen.

Ich würde das Gespräch gerne mit ein paar persönlichen Fragen abrunden. Du kannst auf ein sehr erfolgreiches und erfülltes berufliches Leben zurückblicken. Es ist dir gelungen, den Spagat zwischen dem universitären Elfenbeinturm und der beruflichen Alltagspraxis zu schlagen, zwischen der Wissenschaft und der Anwendung. Auch heute bist du selbst noch psychotherapeutisch tätig. Was würdest du sagen, was die besonderen Qualitäten einer älteren Psychotherapeutin sind?

Ich glaube, dass ich mich nicht mehr einschüchtern lasse von Regeln, die angeblich auf keinen Fall übertreten werden dürfen. Es gibt eine Reihe von Kollegen und Kolleginnen, die, meistens doch noch um einiges jünger, sehr festkleben an bestimmten Vorstellungen, wie die therapeutische Beziehung zu gestalten ist, wie abstinent, wie man bestimmte Dinge sagen muss oder nicht sagen darf. Über solche Dinge springe ich lässig hinweg, wenn ich das Gefühl habe, es ist Zeit dafür. Was nicht heißt, den therapeutischen Raum zu überschreiten. Aber eben da eine Balance zu halten, auch persönlich zu sein, sich nicht wie ein Ölgötze zu verstecken. Das sind alles Dinge, die ich ohne schlechtes Gewissen tue, wenn ich das Gefühl habe, die Situation erfordert das und es passt.

Du bist emeritierte Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie, bist Psychoanalytikerin, früher warst du Verhaltenstherapeutin, hast dann zur Psychoanalyse und letztlich zur Tiefenpsychologie gewechselt. Wenn du so auf dein, schon gesagt, sehr erfolgreiches berufliches Leben zurückschaust, würdest du es noch mal so machen?

Also ich würde ganz sicher noch mal Psychologie studieren. Ich würde auch Therapeutin sein wollen, und ich würde auch versuchen, wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe diese Kombination von Praxis, Lehre, Wissenschaft immer wunderbar gefunden. Ich glaube, ich würde mir wünschen, dass ich etwas eher zur Psychoanalyse gefunden hätte, ohne dass ich die Vergangenheit in der Verhaltenstherapie abtun möchte. Aber ich habe ein bisschen lang gewartet. Wenn ich früher Psychoanalytikerin geworden wäre, hätte ich einfach mehr in mich aufgenommen, mehr internalisiert an unterschiedlichen theoretischen Richtungen und den Veränderungen darin. Könnte ich jetzt natürlich nachlesen, aber ich wollte, ich hätte einiges von diesen sehr interessanten Entwicklungen direkt und beteiligt miterlebt. Dann hätte ich noch einen besseren Zugang zur Theorie. Ich sage das gar nicht, weil ich denke, dann wäre ich eine bessere Psychoanalytikerin. Mich interessieren einfach die psychoanalytischen Theorien sehr, und mein Überblick darüber ist natürlich weniger lebendig als für jemanden, der von Anfang an die Entwicklung der Psychoanalyse mitverfolgt hat. Das würde ich vielleicht anders wollen. Alles andere an meinem Berufsleben gefällt mir sehr gut.

Du hast die Verhaltenstherapie kennengelernt. Du bist dann, ich sage es mal so, in der Tiefenpsychologie aufgegangen. Findest du es sinnvoll, diese beiden Richtungen auch in der therapeutischen Arbeit zu kombinieren?

Ja. Wenn ich das sage, dann ziehe ich mir natürlich wieder eine Menge an Feinden zu. Ich bin der Meinung, und darüber werde ich mit einem Kollegen zusammen demnächst ein Buch herausbringen, dass gerade im tiefenpsychologischen Vorgehen eine Reihe von Methoden aus anderen Schulrichtungen aufgehen können, unter anderem auch Methoden der Verhaltenstherapie. Wir versuchen, innerhalb eines theoretisch klaren psychoanalytischen Denkens andere Methoden hineinzubringen, sodass es nicht so ein Wirrwarr wird, aber wir haben bestimmte Vorstellungen davon, dass innerhalb des Gerüstes von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand wir die richtige Indikation finden könnten auch für andere Methoden, unter anderem für Methoden aus der Verhaltenstherapie.

Ist aus deiner Verhaltenstherapiezeit etwas Wichtiges in deiner Arbeit enthalten geblieben?

Ja, in der Verhaltenstherapie hatte ich gelernt, die äußere Realität in Betracht zu ziehen, um zu sehen, wie spiegelt sich etwas im Inneren. Das hat die Verhaltenstherapie eigentlich neu in die therapeutische Landschaft hineingebracht.

Du bist ja eine erfolgreiche Schriftstellerin. Du bist weit über den fachlichen Bereich hinaus bekannt geworden. Du hast es wie kaum jemand anderes aus dem psychotherapeutischen Feld geschafft, die fachlichen Inhalte deiner Arbeit aufzubereiten und vielen Menschen zugänglich zu machen. Damit hast du Unterstützung und Identifikation ermöglicht, eben mit den Ergebnissen der klinischen Psychologie und Psychotherapie. Welches deiner Bücher ist dein Lieblingsbuch?

Also mein Lieblingsbuch ist das Buch über die Hauptrichtungen der Psychotherapie und deren Menschenbilder. Das ist ja eigentlich ein Fachbuch, aber ich hoffe, es auch so geschrieben zu haben, dass interessierte Laien etwas davon verstehen. Das habe ich am liebsten. Und von den Büchern, die wirklich als Sachbücher für einen weiteren Leserkreis gedacht sind, eigentlich das Buch über die Gelassenheit.

Du bist weiterhin sehr aktiv, viel unterwegs, voller Terminkalender. Aber es gibt ein neues Lieblingsthema: Großmutter sein. Gibt es anstehende Projekte?

Ich werde kein Buch über Großmütter schreiben. Und das Buch über Methodenvielfalt in der Tiefenpsychologie, das ist auf dem Weg.

Eva Jaeggi, herzlichen Dank für das Gespräch und alles, alles Gute für die bevorstehende Zukunft. Und übrigens: Du siehst richtig gut aus.

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