PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(1): 81-86
DOI: 10.1055/s-2007-986372
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Männer und Paare im Alter

Hans  Jellouschek im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publication Date:
28 February 2008 (online)

Hans Jellouschek wurde 1939 geboren, ist promovierter Theologe und Psychologe und leitet ein Fortbildungsinstitut in Entringen bei Tübingen. Seine beruflichen Schwerpunkte liegen in systemischen Ansätzen in Beratung und Therapie, Coaching und Fortbildung. Zahlreiche populär- und fachwissenschaftliche Bücher haben Hans Jellouschek als einen der herausragenden Paarberater bekannt gemacht. Diese lassen sich in der Zusammenschau wohl am besten mit einem seiner Titel beschreiben: Die Kunst als Paar zu leben. In den letzten Jahren hat er sich in Vorträgen und Publikationen ausführlich mit dem Älterwerden von Paaren beschäftigt.

PiD: Herr Jellouschek, wir sitzen an einem der schönen Sonnentage hier im Garten Ihres Hauses mitten in Ihrer grünen Oase. Dieses Haus, von dem ich gerade durch den Garten blicke, vereinigt ja Ihr Wohnhaus, Ihre therapeutische Praxis und ein Fortbildungsinstitut.

Hans Jellouschek: Ja das sind meine Schwerpunkte. Einerseits die Basisarbeit, wie ich das nenne, und auf der anderen Seite die Fortbildung, und zwar in den zwei Bereichen Paartherapie und Coaching.

Sie sind von Beruf Theologe. Wie sind Sie von der Theologie zur Paartherapie gekommen?

Das hat mehrere Wurzeln. Ich war als Theologe in der Erwachsenenbildung tätig. Dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mit den theologischen Themen nicht wirklich an die Leute herangekommen bin. Darum habe ich zuerst eine kirchliche Eheberaterausbildung gemacht. Und das zweite waren sicher meine eigenen Schwierigkeiten in meiner ersten Ehe, die mich damals zwar nicht motiviert haben, eine Paartherapie zu machen, aber mich mit diesem Thema sehr stark konfrontiert haben. Und so habe ich wahrscheinlich eine Eheberaterausbildung gemacht, statt selber einen Eheberater in Anspruch zu nehmen.

Ich möchte mit Ihnen über Männer und vor allem über Paare im Alltag sprechen, über die Herausforderungen, die das zunehmende Alter für die Partnerschaft, für die Beziehung, für die Liebe, für die Sexualität bedeutet. Sie haben sich ja in der letzten Zeit zunehmend auch mit dem Thema „Paare im Alter” beschäftigt. Es kommt in diesen Wochen ein neues Buch von Ihnen heraus. [1] Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind und gleich die Frage anschließen, warum Sie das Thema „Paare und Alter” besonders fasziniert?

Ich bin jetzt 69 Jahre alt. Und da liegt es natürlich sehr nahe, sich für dieses Thema zu interessieren. Das ist die eine Wurzel. Dann haben sich in letzter Zeit, wahrscheinlich aufgrund meines Alters, mehr und mehr auch ältere Paare wegen Paartherapie an mich gewendet. Interessanterweise haben wir auch in unseren therapeutischen Paargruppen, die in meiner Praxis laufen, immer mehr Paare, bei denen einer oder beide Partner über 60 sind. Es gibt ja in unserer Bevölkerung immer mehr alte Paare. Dazu kommt meine Motivation, spezifische Erfahrungen zu machen, denn es gibt zu dem Thema wenig Literatur, die man verwerten könnte.

Über diese therapeutische Arbeit mit Paaren und deren Probleme möchte ich gleich mit Ihnen sprechen. Zunächst noch ein paar etwas allgemeinere Fragen. Es wird ja viel über Defizite und Belastungen im Alter gesprochen. Gibt es eigentlich auch Vorzüge fürs Älterwerden?

Generell kann man sagen, dass in der großen Mehrzahl die gesundheitliche Situation von Menschen jenseits der 60 heute sehr viel günstiger ist als noch bis vor einigen Jahrzehnten. Viele Paare dieses Alters sind gesundheitlich, geistig, physisch und psychisch noch sehr gut drauf. So ist diese Lebensphase - aufgrund der viel längeren Lebenserwartung oft mindestens noch einmal genauso lang wie die Familienphase. Da stellt sich die Frage: Wie gestaltet man diese Zeit? Viele Paaren haben auch finanziell einen größeren Spielraum. So will und kann diese Lebensspanne auch neu gestaltet werden.

Sie haben gerade ganz schnell und unkompliziert Ihr Alter genannt. Warum verleugnen so viele Menschen das Alter, wenn sie älter werden und älter geworden sind?

Wir leben sicher immer noch in einer Art Jugendkultur. Wenn man die Werbung anschaut, werden die Werte der Jugend, also Vitalität, Lebendigkeit, gutes Aussehen, körperliche Fitness sehr stark betont. Aber ich glaube, dass diese Zeit dieses Jugendkults zu Ende geht. Immer häufiger sieht man, dass das Alter über 50, über 60 beworben wird, denn diese Zielgruppe wird immer größer. Hinzu kommt, dass ein gewisser Verfall natürlich so ab der Lebensmitte für jeden, der sich das eingesteht, auch spürbar und sichtbar ist. Die Minderung des Alters spürt man ja schon sehr viel früher als mit 60. Und ich glaube, von daher ist die Verleugnung des Alters eben auch eine Verleugnung dieser Minderung.

Erleben Sie eine Anti-Aging-Bewegung auch bei Männern?

Bewegung würde ich nicht sagen. Wo ich dem schon öfter begegnet bin, ist gerade in der Industrie, bei Managern zum Beispiel. Da scheint es eher üblich zu werden, auch Schönheitsoperationen vornehmen und Falten beseitigen zu lassen. Die positive Seite davon ist, dass viele Ältere, vielleicht manchmal übertrieben, etwas tun für ihren Körper, dass sie Fitnessübungen machen, joggen, walken usw. Das kann sicher auch manchmal zwanghaft geschehen und eine Verleugnung des Älterwerdens werden, aber eben auch ein Achten darauf, die körperliche Fitness zu erhalten. Und das finde ich positiv.

Welche unerfüllten Sehnsüchte oder welche Suche, Sehnsüchte auszuleben, erleben Sie vor allem bei Männern?

Am stärksten ist da wohl die Sehnsucht, nochmals intensiv lieben zu können. Wenn einem älteren Herrn die Liebe in seiner Ehe verloren gegangen ist, kann es durchaus sein, dass er sich jetzt neu und unendlich intensiv verliebt. Das kann dazu führen, dass Entscheidungen gefällt werden, die vielleicht viele Jahre eines gemeinsamen Lebens abrupt beenden, und eine neue Beziehung eingegangen wird. Da die Intensität des Gefühls sich kaum unterscheidet von der Intensität des Gefühls in der Jugend, ist die Verführung groß, nicht zu sehen, dass aber die Lebenssituation eine andere geworden ist. Wenn z. B. ein älterer Mann eine sehr viel jüngere Frau heiratet, kann das am Anfang im Rausch der ersten Verliebtheit ganz verborgen bleiben. Es kann aber dann im Alltag zu großen Schwierigkeiten kommen, wenn der Mann sich beispielsweise langsam zur Ruhe setzen will und die Frau noch mitten in ihrem Berufsleben steht, sich voll entfalten und ihre eigenen Wege gehen will.

Wenn Sie mit Paaren oder auch mit einzelnen Männern arbeiten, können Sie denen eigentlich so etwas wie die Lust am Älterwerden nahebringen?

Worauf ich immer wieder aufmerksam mache: Die Altersphase ab 60, 65 bringt viele Freiräume mit sich, die es früher, wenn sie noch im Beruf und in der Familie eingespannt waren, nicht so gab. Deshalb geht es in der Arbeit mit Paaren auch darum, wie die Partner jetzt die Beziehung, in der sie mehr Zeit haben, so nutzen, dass das wirklich für sie eine erfüllende Zeit wird.

Älter werdende Menschen reden ja oft darüber, was jetzt alles nicht mehr geht. Gibt es Dinge, die gerade in zunehmendem Alter besonders gut gehen, d. h., können älter werdende Menschen auf besondere Ressourcen zurückgreifen, die vielleicht jüngere Menschen nicht so haben?

Eine besondere Ressource ist das Mehr an Zeit. Man muss es aber auch können oder lernen, diese Zeit zu nutzen. Eine weitere Ressource ist die im Durchschnitt viel bessere physische und psychische Gesundheit. Dadurch kann auch körperlich die Zeit etwa zum Wandern, zum Sport oder für andere Unternehmungen genutzt werden. Dazu haben viele Paare auch eine materielle Alterssicherung, die ihnen ein äußerlich relativ sorgloses Leben erlaubt. Eine weitere Ressource für viele Paare ist außerdem die Großelternschaft. Sie haben jetzt Zeit für die Enkel, sie stehen nicht mehr unter dem Anspruchsdruck, sie „erziehen” zu müssen, sodass sie ein sehr befriedigendes und liebevolles Zusammenleben mit der Enkelgeneration vollziehen, was ihr Leben häufig sehr erfüllt.

Kann man denn Ihrer Einschätzung nach irgendetwas tun, um, ich sage das mal in Anführungsstrichen „gut zu altern”, oder ist das eine reine Glücksache?

Es ist natürlich auch eine Glücksache. Zum Beispiel die Entwicklung einer Demenz: Wir haben es nicht vollständig in der Hand, die zu verhindern. Man erhöht natürlich die Chancen durch geistige Beschäftigung und durch Lebendigkeit, durch körperliches Fithalten. Und man kann auch noch in diesem Alter eine Menge für eine befriedigende Paarbeziehung und damit für ein „gutes Leben” tun.

Sind eigentlich Männer auf das Älterwerden besser vorbereitet als Frauen?

Eher nein. Frauen sind zwar durch das Klimakterium und die Tatsache, dass sie nicht mehr dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, mit dem Alterungsprozess unmittelbar stärker konfrontiert. Das ist bei Männern in dieser Offensichtlichkeit nicht der Fall. Ihr Alterungsprozess geht unmerklicher vor sich. Aber gerade dadurch ist es der größere Schock, wenn sie eines Tages merken, dass sie nicht mehr dem Klischeebild vom potenten, kraftvollen Mann entsprechen. Das anzunehmen, dass sie kein jugendlicher Held mehr sind, fällt vielen schwer.

Heißt das, dass Männer eigentlich schlechter auf das Alter vorbereitet sind als Frauen?

Ich denke ja. Frauen erleben auch häufiger als Männer das Altwerden und Sterben der vorausgehenden Generation, weil sie diejenigen sind, die sich stärker um ihre alten Eltern kümmern. Bei den Männern spielt eine Rolle, dass in unserer Gesellschaft nur der leistungstüchtige Mann etwas gilt. Der alte Weise oder der weise Alte ist heute kein positiv besetztes Bild, dem man entsprechen möchte. Alles in allem würde ich sagen, dass sowohl Männer wie Frauen durch die Leitbilder unserer Gesellschaft nicht unbedingt gut vorbereitet sind auf das Älterwerden.

Gibt es denn eine Möglichkeit, besser auf die Lust am Älterwerden vorzubereiten?

Es gibt gesellschaftlich sicher viele Möglichkeiten, älteren Menschen Erleichterung zu verschaffen und damit auch das Älterwerden von der Assoziation zu befreien, da wird alles schwieriger. Da sind wir, glaube ich, ziemlich am Anfang, aber man kann beobachten, dass da mehr und mehr geschieht. Und je größer die Zielgruppe der alten Menschen wird, desto mehr wird sich die Wirtschaft auch darauf einstellen, weil das auch ihr Gewinn sein wird.

Vielleicht könnten sich demnächst auch mal Fernsehserien nicht nur mit „Sex in the City”, „Desparate Housewifes” und „Verbotener Liebe” beschäftigen, sondern auch zeigen, wie lustvoll das Älterwerden und das Altsein sein können.
Kommen wir in diesem Sinne jetzt zu den alten oder älter gewordenen Paaren. Können Sie ein Bild von einer glücklichen Partnerschaft im Alter beschreiben?

Die haben Partner, die miteinander in inniger Nähe zueinander leben, die sich fürsorglich umeinander kümmern, die zu Kindern und Enkeln gute Beziehungen pflegen und die vielleicht auch noch eine gemeinsame Aufgabe haben, die sie als sinn- und wertvoll erleben.

Sie haben in Ihren Veröffentlichungen und sicherlich auch in Ihrer Arbeit mit Paaren häufig auf Sagen und Märchen zurückgegriffen, z. B. der Froschkönig oder Zeus, Hera und Semele. Gibt es eine historische Analogie, die Sie für älter werdende Paare benutzen?

Ja - Philemon und Baucis, wie sie uns Ovid überliefert, stellen für mich so ein innig verbundenes, der nächsten Generation großzügig gebendes älteres Paar dar, das noch in seinem Alter eine neue, erfüllende Lebensaufgabe übernimmt. Für Paare mit sehr großem Altersunterschied, die heutzutage relativ häufig sind, gibt es außerdem eine wunderschöne Geschichte aus dem Arthus-Sagenkreis vom alten Zauberer Merlin und der jungen Quellnymphe Viviane, die anschaulich macht, wie sich auch sehr unterschiedliche Lebenssituationen gut aufeinander abstimmen lassen.

Der große Altersunterschied betrifft auch eine Angst von Frauen in den alten Partnerschaften, nämlich dass ihr Mann eine Jüngere kennenlernt und sie dann von ihm verlassen wird. Können Sie zu dieser Angst etwas sagen?

Diese Angst ist gar nicht so weit hergeholt. Es passiert ja immer wieder, dass Männer sich nach einer langjährigen Ehe wegen einer sehr viel jüngeren Frau trennen. Das kann verschiedene Ursachen haben. Zum Beispiel, dass sich das Paar weit auseinander gelebt hat. Oft es hat damit zu tun, dass für den Mann eine jüngere Frau bedeutet: ich bin noch nicht so alt. Das heißt, die jüngere Frau nährt beim Mann die Illusion, er könnte so seinem eigenen Alterungsprozess entgehen. Und für die junge Frau hat oft der ältere Mann etwas durchaus Attraktives, weil er verständnisvolle Väterlichkeit ausstrahlt. Insofern ist die Angst der Ehefrau durchaus berechtigt, wobei sicher auch dazukommen mag, dass diese Frauen, wenn sie älter werden und ihr eigenes Älterwerden beobachten, sich als Frau abwerten, und meinen, zum alten Eisen zu gehören und nicht mehr anziehend zu sein.

Das ist ja dann nicht nur ein Thema für Biologen, sondern hat sehr stark mit dem Bild vom Älterwerden oder der Angst vor dem Älterwerden in unserer Gesellschaft zu tun. Mit welchen Problemen kommen nun die Paare zu Ihnen in die Beratung?

Wenn die Paare älter sind und nicht mehr so eingespannt sind für die Familie einerseits und Beruf andererseits, dann wird oft einiges, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist, wieder aktualisiert. Verletzungen, die in der früheren Geschichte passiert sind, wo der eine sich vom anderen übergangen gefühlt hat, wo er untreu geworden ist oder wo irgendwelche massiven Beleidigungen oder Abwertungen geschehen sind, wurden einige Zeit überdeckt. Die Partner sind immer wieder zur Tagesordnung übergegangen, aber das Belastende war nicht wirklich bewältigt. Und jetzt im Alter, wo die Tagesgeschäfte nicht mehr so drängen, kommt das plötzlich wieder hoch und schiebt sich trennend zwischen die beiden. Wenn sie z. B. bei jeder Kleinigkeit miteinander in Konflikt geraten, steckt das oft dahinter. Die eigentlichen Ursachen sind die vergangenen Verletzungen. Da brauchen die Paare oft Hilfe von außen.

Fast alle Partnerinnen und Partner schleppen ja aus der Vergangenheit zumindest einen Rucksack, wenn nicht sogar einen Container mit alten Kränkungen, Verletzungen und ungelösten Konflikten aus der Partnerschaft mit sich herum. Sind Sie der Meinung, dass diese ganzen Themen bearbeitet werden müssen, auf den Tisch kommen müssen, damit die Partnerschaft im Alter glücklich geführt werden kann?

Ich glaube, dass es kaum möglich ist, alles zu „erledigen”. Und es ist auch nicht notwendig. Oft hat ja eine oder haben wenige Verletzungen gewissermaßen einen symbolischen Charakter für all das, was in der Partnerschaft insgesamt geschehen ist. Wenn es möglich ist, solch typische Verletzungen herauszugreifen und sich damit nochmals eingehend zu beschäftigen, sie zuzugeben und um Verzeihung zu bitten, dann wird es oft auch möglich, alles andere loszulassen und einander zu vergeben.

Das heißt, dass das Loslassen von alten Geschichten durchaus auch ein wichtiger Teil in Ihrer therapeutischen Arbeit mit älteren Paaren ist?

Das ist ein ganz wichtiger Teil. Nur wenn man einander die Verletzungen, die man sich angetan hat, auch verzeihen kann, ist eine gemeinsame Zukunft möglich, die den Jahren nach ja häufig noch recht lange dauern wird.

Sie haben viele Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Paaren unterschiedlichen Alters. Was macht das Besondere der therapeutischen Arbeit mit alten Paaren aus?

Das Besondere in der Arbeit mit alten Paaren ist, dass sie oft eine große Sehnsucht danach haben, diese letzte Strecke des Lebens miteinander zu gehen, dass also der Versöhnungswille und der Wille, einen Weg zu finden, es wirklich gut miteinander zu haben, sehr stark sind. Das macht sicher etwas Besonderes aus. Die älteren Paare sind oft nicht mehr so auf Kampf eingestellt wie die jüngeren.

Nutzen Sie spezielle Methoden für die Arbeit mit alten Paaren?

Da gibt es für mich keinen wesentlichen Unterschied zur Arbeit mit anderen Paaren. Bei mir hat sich ein Konzept herausgebildet, zunächst das konflikthafte Grundmuster herauszuarbeiten, wie das systemische Therapeutinnen und Therapeuten gewohnt sind. Diese Grundmuster enthalten häufig die Lebensthemen, die aus der Herkunftsfamilie mitgebracht werden, und da spielen dann auch Konzepte, wie ich sie aus der Tiefenpsychologie und aus der Transaktionsanalyse kenne, eine Rolle, z. B. das Skriptkonzept, also die ineinander hakenden Lebensskripts, die die beiden wieder aneinander in ihrem Zusammenleben aktivieren. Die wichtigste Frage ist für mich dann: Zu welcher Entwicklung fordert euch dieser Konflikt jetzt heraus. Das ist mein spezieller Entwicklungsaspekt, den ich auch aus der systemischen Therapie übernommen habe.

In der Verhaltenstherapie würden ja das Sammeln neuer Erfahrungen und die Bearbeitung der Probleme und Konflikte, die sich aus dem Weg nach vorne ergeben, im Vordergrund stehen. Ist Ihre Alternative dazu, zunächst Konflikte zu bearbeiten und dann erst Neues zu erproben. Welches ist Ihre vorrangige Strategie?

Ich frage: Was ist das eigentliche Thema in all den einzelnen Auseinandersetzungen? Was ist das Grundmuster? Gibt es zum Beispiel einen Konflikt im Ausbalancieren von Autonomie und Bindung? Der eine betont stärker den Aspekt der Autonomie, der andere betont stärker den Aspekt der Bindung. Es gilt dann, deutlich zu machen, wie die Konflikte des Paares immer wieder Variationen dieses Grundmusters sind. Das ist ein erster Zugang, und hier lässt sich natürlich auch schon einiges auf der Verhaltensebene ändern und zu mehr Ausgleich bringen. Darüber hinaus ist mir aber der zweite Zugang wichtig: zu erspüren, was die beiden mit dieser Auseinandersetzung an Lebensthemen aktivieren, die sie aus der Vergangenheit, aus ihren Familien, mitbringen. So erkennen sie den tieferen Sinn dieser Auseinandersetzung, was den Streit abmildern hilft, weil sie dann wieder mehr mit dem Anderen mitzufühlen beginnen. Und vor allem sehen sie dann, dass es auch eine Chance ist, wenn sie diese Themen jetzt in ihrem Zusammenleben wieder aktivieren: Es bedeutet die Herausforderung zu individueller Entwicklung und Entwicklung ihrer Beziehung.

Inwieweit spielen Konflikte zwischen dem alten Paar und den Kindern, d. h. familiäre Konflikte der eigenen Familie eine Rolle?

Das können natürlich ein großer Konflikt und ein Thema sein, das für das alte Paar sehr schmerzlich ist. Eine typische Situation ist, wenn es um Fragen des Erbes geht. Das wird ganz brisant, wenn es z. B. um einen Familienbetrieb geht und um die Frage, wie wird der übergeben? Wann wird er übergeben? Und wird er überhaupt übergeben? Fühlt sich da jemand benachteiligt? Leidet der Sohn z. B. darunter, dass der alte Vater nicht aus dem Betrieb rausgeht und er keine freie Hand hat? Oder auch Konflikte um die Enkelkinder. Zum Beispiel wenn die Schwiegertochter oder die Tochter überhaupt nicht damit einverstanden ist, wie die Großeltern mit den Kindern umgehen. Dann kann es dazu kommen, dass die Enkelkinder von den Großeltern ferngehalten werden, was für das alte Paar oft ein ganz großer Schmerz ist.

Das Thema ist also auch Einmischung? Einmischungen von den Eltern in das Leben der erwachsenen Kinder?

Ja, die Einmischung der Eltern in das Leben der erwachsenen Kinder und umgekehrt auch das Zurückweisen der Angebote, die vonseiten des alten Paares an das junge Paar kommen.

Ein weiterer Konflikt kann sein, dass die Eltern nicht einverstanden sind mit der Frau, die der Sohn geheiratet hat, sodass es zu keinem herzlichen Verhältnis zwischen den beiden Generationen kommt. Generell glaube ich aber, dass die Generationenkonflikte in ihrer Brisanz und Häufigkeit abgenommen haben im Vergleich zu früher. Man kann feststellen, dass die heutige ältere Generation und die Generation der erwachsen gewordenen Kinder sich sehr viel besser vertragen, als es noch in der Zeit der „Achtundsechziger” der Fall war. Diese heftigen Konflikte kann man heute bei Weitem seltener feststellen.

Arbeiten Sie bei solchen Generationskonflikten dann auch mit beiden oder vielleicht drei Generationen?

Mit zwei Generationen ist es auf jeden Fall sinnvoll. Es ist dabei sehr hilfreich, wenn es mir als Therapeut gelingt, einen emotionalen Zugang zum alten Paar zu finden. Dann ist das auch eine Brücke, auf der die erwachsenen Kinder einen neuen Zugang zu den Eltern finden. Darum halte ich es für sehr angemessen, bei Generationenkonflikten die erwachsenen Kinder mit ihren Eltern zusammen einzuladen und sie miteinander wieder ins Gespräch zu bringen.

Auch im therapeutischen Setting stellt sich ja öfter die Generationenfrage. Denken Sie, dass jüngere Therapeutinnen und Therapeuten älteren Menschen in der Behandlung überhaupt gerecht werden können?

Ja, ich kann mir das gut vorstellen. Das Problem scheint mir aber zu sein, dass die jüngeren Therapeutinnen und Therapeuten oft Elternübertragungen auf ältere Patienten haben, d. h. sie fühlen sich ihnen gegenüber wie Sohn oder Tochter. Es ist eine Situation, die das Selbstwertgefühl des Therapeuten hart auf die Probe stellt. Kann er sich einem älteren Paar gegenüber wirklich als Experte in Beziehungsfragen selber erleben und dies auch zeigen? Oder bekommt er Angst, von dem älteren Paar nicht für voll genommen zu werden? Das ist oft die Schwierigkeit für jüngere Therapeutinnen und Therapeuten. Das ging mir nicht anders. Ich arbeite heute sehr gerne mit älteren Paaren, die ja dann meistens gleich alt oder nur wenig älter oder etwas jünger sind als ich. Wenn ich früher mit sehr viel Älteren gearbeitet habe, hatte ich Mühe, nicht zu denken, das ältere Paar würde sich fragen: Was kann uns denn der Junge schon sagen? Das muss gar nicht real gewesen sein, es war meine eigene Idee, die mich aber unsicher gemacht und mich in meinem Selbstwertgefühl infrage gestellt hat.

Es gibt ja zu diesem Thema wenig in der Literatur zu lesen. Können Sie sich da auch noch besondere Herausforderungen vorstellen, was die unterschiedliche Geschlechterkonstellation ausmacht?

Die Konstellation jüngere Therapeutin - ältere Frau ist insofern schwierig, weil da leicht Konkurrenzgefühle eine Rolle spielen können. Wenn die ältere Frau neidisch ist auf die viel jüngere, attraktivere Therapeutin, könnte sie innerlich ihre größere Erfahrung ausspielen nach dem Motto: Was will mir denn die junge Frau da sagen. Hingegen bei jüngerer Therapeutin - älterem Patienten, da ist es ähnlich wie oft auch in Paarbeziehungen, diese Konstellation geht oft überraschend gut. Die junge Frau „belebt” den älteren Mann. Auch die Konstellation jüngerer Therapeut - ältere Patientin ist oft eine ganz günstige, weil die ältere Frau das toll findet, wenn sich ihr da ein jüngerer Mann mit Einfühlungsvermögen und Verständnis widmet. Die gleichgeschlechtliche Situation hingegen scheint auch schwieriger zu sein bei der männlichen Variante „junger Therapeut - älterer Mann”.

Hätten Sie Tipps für jüngere Therapeutinnen und Therapeuten, worauf sie vielleicht bei der Beziehungsgestaltung besonders achten sollten?

Wenn der Therapeut oder die Therapeutin sich ständig in solche Übertragungssituationen verwickelt erleben, kann es der bessere Weg sein, nicht mit erheblich Älteren zu arbeiten. Und im Übrigen wird es natürlich immer notwendig sein, eine mögliche Übertragungssituation zu beachten und zu analysieren, d. h. immer die Frage zu stellen, was löst der oder die bei mir, dem Therapeuten, aus, was für Themen werden bei mir angesprochen? Das sollte in der Supervision deutlich durchgesprochen werden, damit man die eigenen Themen, in die man sich verstricken kann, auf die bewusste Ebene bekommt. Dann wird es leichter, sich soweit davon zu distanzieren, dass es nicht mehr den therapeutischen Prozess behindert.

Spielt der Umgang mit dem bevorstehenden Lebensende oder dem Sterben in Ihren Beratungen auch eine Rolle?

Ich bin hauptsächlich beschäftigt mit der Phase der sogenannten jungen Alten, also zwischen 60 und 75. Da geht es eher darum, das Leben auszuschöpfen als auf den bevorstehenden Tod zu schauen. Aber das Thema ist natürlich im Untergrund da, weil man auch bei guter Konstitution schon Verfallserscheinungen spürt. Da wird bewusst, dass man den größten Teil des Lebens hinter sich hat. Diese Erfahrung ist schon da, sie wird aber ganz selten thematisiert, es sei denn, es spielen Krankheiten eine Rolle, eine chronische Krankheit, Krebs oder Parkinson oder etwas Ähnliches. Dann wird das Thema Tod schon eher angesprochen.

Sie haben vorhin gesagt, dass das Geben der Partnerinnen und Partner ein wichtiger Aspekt für eine glückliche Beziehung im Alter ist. Das Nehmen-Können wird ja auch zunehmend wichtiger, gerade durch die eben genannten Einschränkungen durch Behinderungen und Erkrankungen. Viele Menschen können nicht gut annehmen, und für diese ist es auch wichtig, dieses Annehmen-Können von Unterstützung zu lernen. Hätten Sie da Hinweise, was in der therapeutischen Arbeit relevant sein könnte?

Ältere Paare sind ja oft herausgefordert, noch einmal eine totale Umstrukturierung der bisherigen Muster zu schaffen. Zum Beispiel, wenn die Frau sehr krank wird, die bis jetzt immer die schwerpunktmäßig Versorgende war, und der Mann derjenige war, der sich mehr versorgen hat lassen. Dann ist der Mann wirklich sehr stark herausgefordert, diesen Teil, den er nicht gelebt hat, jetzt zu leben. Und umgekehrt: Die Frau ist herausgefordert, jetzt das Nehmen zu lernen. Meist verlebendigt sich aber dadurch eine Beziehung erheblich, weil so ein Ausgleich zu früheren Jahren geschaffen wird: Er kann etwas zurückgeben, und sie erlebt zum ersten Mal, umsorgt zu werden. Diese Herausforderung ist also zugleich eine Chance, Gleichgewicht und Flexibilität in der Beziehung herzustellen, und damit auch eine Chance, persönlich zu reifen.

„Geben und Nehmen” gilt doch aber auch in dem Bereich Autonomie und Bindung …

Natürlich. Ein Beispiel: In der bisherigen Ehe war die Frau stärker für alles, was mit Bindung und Beziehung zu tun hatte, zuständig, und der Mann lebte eine Art Single-Leben in seinem Beruf. Nun ist er im Ruhestand. Und genau zu diesem Zeitpunkt nimmt die Frau wieder eine volle Stelle an. - Das kann eine totale Irritation des bisherigen Beziehungsmusters von Autonomie und Bindung sein: Er wird anhänglich, und sie möchte jetzt die Flügel ausbreiten. Das macht Paaren oft sehr stark zu schaffen. Sie sind plötzlich mit Themen konfrontiert, die sie bis jetzt vermieden haben. So auch beim Muster „Bestimmen und sich anschließen”. Solange der Mann draußen im Beruf war, hatte die Frau zu Hause das Sagen. Jetzt ist er plötzlich zu Hause und fängt an, ihr überall dreinzureden. Das kann die Frau als eine riesige Störung erleben. Auch hier geht es also um eine Flexibilisierung des bisher einseitigen und rigiden Musters. Die große Chance liegt darin, die Beziehung dadurch lebendiger zu machen.

Wir wissen, dass sexuelle Lust bei Frauen und Männern bis ins hohe Alter vorhanden ist. Die Rahmenbedingungen sind ebenfalls dafür geschaffen: Die Kinder sind groß, Verhütung spielt keine Rolle mehr, es ist mehr Zeit da. Warum ist aus Ihrer Sicht Sexualität im Alter immer noch ein Tabuthema?

Das ist so eine Tradition, die wir haben, dass Sexualität nicht mehr in diese Lebensphase gehört. Es kommt oft vor, dass langjährig zusammenlebende Paare keine Sexualität mehr haben. Nicht, weil sie dazu keine Lust hätten, sondern weil das zwischen beiden eingeschlafen ist. Keiner greift das Thema mehr auf, es ist peinlich. Jeder hat zwar so seine eigenen Lustfantasien, die werden aber nicht ausgetauscht. Es ist tatsächlich so, dass die äußere Situation so ab 60 eigentlich sehr dazu angetan wäre, die Sexualität wieder neu zu beleben. Vor allem auch deshalb, weil bei den Männern die Intensität oder die Geschwindigkeit, mit der sie sexuell erregt sind, abgenommen hat. Das kommt dem sexuellen Erleben und dem sexuellen Rhythmus der Frauen durchaus entgegen. Bei den Frauen ist es so, dass sie, wenn sich nach der Umstellung des Klimakteriums alles wieder normalisiert hat, durchaus bis ins hohe Alter sexuell ähnlich erlebnisfähig sind, wie sie es davor waren.

Und darin liegt eine Chance …

… diesen ganzen Bereich neu zu beleben, selbst wenn das vielleicht nicht mehr mit der früheren Leidenschaft vonstatten geht. Die Sexualität kann eine neue Qualität bekommen, das erotische Spiel und die sinnliche Erfahrung können gegenüber dem Orgasmus bedeutsamer werden. Wenn Männer das realisieren, kann es durchaus sein, dass zwar vielleicht die Intensität der Potenz schwächer wird, aber nicht die Intensität des erotischen Erlebens. Da stehen sich Männer oft selber im Weg, weil ihr Bild vom allzeit bereiten und immer potenten Mann, der eine Erektion und einen Orgasmus nach dem anderen haben kann, durch die körperlichen Veränderungen im Alter nicht mehr realisierbar ist. Und dann entsteht Angst, die zum Rückzug führt. Wenn die Paare den Mut hätten, diese Tabuisierung aufzuheben und neu zu experimentieren, dann könnte das die Sexualität sogar erfüllender machen, als sie früher erlebt wurde.

Sie haben vorhin ein wichtiges Thema älterer Paare angesprochen, nämlich das Loslassen vom Beruf. Sie sind 69 Jahre alt und beruflich ja immer noch sehr engagiert. Fällt es Ihnen auch schwer, vom Beruf loszulassen?

Ich erlebe schon immer wieder die Sehnsucht, mehr loszulassen, aber auf der anderen Seite auch von außen immer wieder den Anspruch, weiterzumachen. Das macht mir das Loslassen schwer. Ich habe gerade vor Kurzem von Klaus Dörner eine Formulierung gelesen, die mir sehr gefallen hat, nämlich dass wir ein Grundbedürfnis haben, für andere Menschen Bedeutung zu haben.[2] Und gerade durch meinen Beruf habe ich für andere Menschen oft eine große Bedeutung. So muss ich aufpassen, mir da nicht zu viel zuzumuten. Auf der anderen Seite ist es so, dass man gerade in meinem Beruf körperlich nicht im Stress ist, nicht täglich unter Druck steht und auch nicht immer wieder verreisen muss. Daher kann ich meinen Beruf auch länger machen als bis zur gesellschaftlich festgelegten Altersgrenze.

Sie haben mit Ihren Veröffentlichungen vielen Menschen und Paaren Wege aufgezeigt, Leben und Beziehungen zu gestalten. Gibt es weitere Projekte, die für Sie anstehen?

Ich akzentuiere in den letzten Jahren stärker den Bereich Fortbildung gegenüber dem Bereich der unmittelbaren Basisarbeit. Allerdings, wenn ich in der Fortbildung bin, dann muss ich auch einen gewissen Anteil an Basisarbeit haben, damit die Fortbildung nicht steril wird, sondern von meiner eigenen therapeutischen Erfahrung lebt. Aber das ist eine Akzentuierung, die man nicht ein Projekt nennen kann. Das andere Projekt: Ich habe mich in letzter Zeit stärker auf die besprochene Altersgruppe in der Paarbeziehung konzentriert. Wenn ich mit Paaren arbeite, dann gebe ich eher Paaren dieser Altersgruppe den Vorrang. Ich halte es für sehr wichtig, gerade hier Hilfestellung zu geben, sowohl den Paaren unmittelbar als auch Kolleginnen und Kollegen, die immer häufiger auch mit dieser Altersgruppe arbeiten.

Wenn ich mich hier umschaue in Ihrem Garten und in Ihrer Wohnumgebung, dann erlebe ich, dass Sie sich ein sehr geruhsames und entspanntes Umfeld gesucht haben für Ihr Leben und für Ihre Arbeit. Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch in dieser angenehmen Atmosphäre und wünsche Ihnen alles Gute.

1 Hans Jellouschek. Wenn Paare älter werden. Die Liebe neu beleben. Stuttgart: Kreuz-Verlag, 2008.

2 vgl. Interview mit Klaus Dörner in „Psychotherapie im Dialog” 4/2006: Zum Verhältnis von (Sozial-)Psychiatrie und Psychotherapie: Rückblicke und Visionen.

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