Geburtshilfe Frauenheilkd 2007; 67(12): 1364-1366
DOI: 10.1055/s-2007-989400
Nachruf

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Nachruf auf Prof. Dr. med. Christian Lauritzen

Prof. Dr. med. Christian Lauritzen - ObituaryH. P. G. Schneider1
  • 1Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde der Universität Münster, Münster
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Publication Date:
20 December 2007 (online)

Prof. Dr. Christian Lauritzen, emeritierter o. Professor und Direktor der Universitäts-Frauenklinik Ulm, verstarb am 12. Oktober dieses Jahres. Im Beisein seiner Familie, Schüler, Freunde und Kollegen wurde er auf dem Ulmer Hauptfriedhof beigesetzt.

Abb. 1 Prof. Dr. med. Christian Lauritzen.

Lauritzen wurde 1923 in Rendsburg, Schleswig-Holstein, geboren zu einer Zeit maximaler ökonomischer Depression. Ein Brot kostete fünf Millionen Reichsmark, die Zahl der Arbeitslosen betrug mehr als drei Millionen. Tonfilm und Rundfunk wurden entwickelt. Expressionismus und Dadaismus erreichten die Öffentlichkeit. Allen und Doisy entwickelten ihren Östrogen-Bioassay. Im Dritten Reich hat Christian Lauritzen als Abiturient der Kieler Gelehrtenschule 1942 noch eine Wehrdienst-Ausbildung erfahren. Nach vorklinischem Studium in Berlin, unter anderem bei Stieve und Waldeyer, folgten Fronteinsatz im Osten, Verwundung und Gefangenschaft. Im Herbst 1945 Aufnahme des klinischen Studiums im damals stark zerstörten Kieler Klinikum. Staatsexamen 1948 und eine Dissertation aus der Orthopädie: Die Veränderungen der Dura mater spinalis bei Bewegungen der Wirbelsäule. Nach einer Medizinalassistenz in der inneren Medizin, der Chirurgie, Orthopädie und Frauenheilkunde schloss sich eine Volontärassistenz in der Kieler Frauenklinik an. Zwei Jahre ohne Bezahlung an einer Universitätsklinik galten seinerzeit als besonders ehrenhaft. Eine zwischenzeitliche Oberarzttätigkeit am Kreiskrankenhaus Bad Segeberg bei Herrenberger, einem Schüler Heinz Kirchhoffs, ebnete 1954 den Weg für die Rückkehr an die Kieler Klinik für ein halbes Gehalt von 250 DM. In der damals jungen westdeutschen Bundesrepublik waren solche Starts aus der Asche des Nichts in eine klinische Laufbahn durchaus an der Tagesordnung.

Der Kieler Klinik-Chef Ernst Philipp, als Berliner Stoeckel-Schüler seit 1936 nach Kiel berufen, hatte in einer Kontroverse mit Bernhard Zondek die plazentare Herkunft des Choriongonadotropins nachgewiesen. Außerdem gelang ihm die Analyse von Progesteron im Neugeborenenharn. Als wissenschaftlicher Adept ließ sich Christian Lauritzen für die Endokrinologie der Schwangerschaft begeistern. Ein Forschungsaufenthalt 1959 bis 1961 am Karolinska-Institut in Stockholm unter Egon Diczfalusy führte ihn in die Welt des Steroidhormon-Metabolismus. Ein mit diesem endokrinologischen Urgestein gemeinsam verfasstes Buch über Östrogene beim Menschen legte die Grundlagen für Lauritzens lebenslange Auseinandersetzung mit dem Hormonstoffwechsel der Frau in allen Lebensphasen. Eine weitere schriftstellerische Pionierleistung resultierte aus einem Gastaufenthalt in Edinburgh und Aberdeen bei Arnold Klopper: das erste moderne Lehrbuch zur Endokrinologie der Schwangerschaft.

In Kiel gab es gute Laboratorien. Es wurde über Amenorrhö, Sterilität, Intersexualität, Endometriose und Endokrinologie der Schwangerschaft gearbeitet. Lauritzen konnte nachweisen, dass die Basaltemperatur nicht durch Progesteron, sondern seine Metaboliten Pregnanolon und Pregnandiol erhöht wird. 1961 habilitierte er sich mit dem Thema biologische Wirkungen von Östrogen- und Gestagenmetaboliten. Es war insofern ein dramatisches Ereignis, als Professor Philipp verstarb, damaliger Präsident der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und unerlässlicher Habilitationsvater für die Einführung in die Fakultät zur Verteidigung der Thesis. In dieser Situation erbot sich der Altmeister der gynäkologischen Endokrinologie, Professor Karl Kaufmann aus Köln, Ernst Philipp vor der Kieler Fakultät zu vertreten. Mit der Geschichte unseres Faches Vertraute wissen, dass Philipp und Kaufmann aus zwei konkurrierenden Berliner Schulen Walter Stoeckels, Universitäts-Frauenklinik in der Artilleriestraße, und Georg August Wagners, Frauenklinik an der Charité, stammten. Etwas von dieser Spannung lebte in dem Kölner Ausspruch Karl Kaufmanns fort: „… dass mir kein Schüler Philipps über die Elbe kommt …“ Christian Lauritzen konnte diesen Bann brechen.

Mit seiner Berufung 1967 auf das Ordinariat für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der neu gegründeten Universität Ulm, wiederum gestützt durch die Weitsicht Karl Kaufmanns, war eine Basis geschaffen für die Fortsetzung der großen Kieler Tradition. Diese ist verbunden mit Namen wie Michaelis, Pfannenstiel, Stoeckel und Robert Schröder, der als erster die Beziehungen zwischen Ovar und Endometrium erkannte, aber auch Gräfenberg, der als Assistent die Intrauterinspirale erfand. Auch hatte an der Kieler Frauenklinik unter Richard Werth, der die Schichtnaht der Bauchdecke entwickelte, dessen Mitarbeiter Mond 1896 placebokontrolliert Frauen von klimakterischen Hitzewallungen durch Trockenpräparate aus Rinderovarien erfolgreich befreit. Damit war der Grundstein gelegt für die Hormontherapie im Klimakterium. Die Wiege der gynäkologischen Endokrinologie hat zweifellos ein Standbein in der Kieler Frauenklinik. Christian Lauritzen hat diese Tradition in Ulm fortgeführt mit Untersuchungen der Endokrinologie der Schwangerschaft und Studien der hormonalen Steuerungsvorgänge zwischen Mutter und Feten. Ihm gelang der Nachweis, dass HCG die fetale Nebenniere zur Bildung von DHEA stimuliert und sich damit als fetales adrenocorticotropes Hormon erwies. Viel Mühe wurde darauf verwendet, das fetale DHEA, Substrat der plazentaren Östriol-Biosynthese, als Funktions- und Reifesignal zu verstehen und diagnostisch zu nutzen.

Professor Lauritzens kreative Freundschaft mit Robert Greenblatt und Pieter van Keep, dem Gründer und Förderer der internationalen Menopausegesellschaft und späteren Forschungsdirektor bei Organon, legte den Grundstein für eine Serie von Buchveröffentlichungen in den 70er- bis 90er-Jahren zum Thema Wechseljahre und Altersgynäkologie. Das Bewusstsein um die Bedeutung der Hormone hinsichtlich Lebensqualität und geschlechtsgebundenen Alterserkrankungen steigerte sich erheblich am Ausgang des letzten Jahrhunderts. Die Notwendigkeit eines geeigneten Forums zur Weiterentwicklung dessen, was heute gender-related medicine genannt wird, erkannte Lauritzen bereits in den 80er-Jahren, als er die „Menopausegesellschaft deutschsprachiger Länder“ ins Leben rief. Freundschaftlich verbundene Kollegen aus Österreich, der Schweiz sowie Deutschland-West und ‐Ost erörterten in regelmäßigen Abständen den aktuellen Stand der Wissenschaft. Aus diesem Kern entwickelten sich die später gegründeten deutschen, österreichischen und schweizerischen Menopausegesellschaften. Christian Lauritzens persönliches Vermächtnis lebt fort in dem nach ihm benannten Wissenschaftspreis der deutschen Menopause Gesellschaft.

Die Fortschritte unseres Faches an der Ulmer Frauenklinik, zunächst in der Gemeinschaftsleitung Christian Lauritzens mit Karl Knörr und später unter Christian Lauritzen, waren im Land und über die Grenzen hinaus anerkannt. Während Karl Knörr, unterstützt von seiner Frau Professor Henriette Knörr-Gärtner, die pränatale Diagnostik etablierte, setzte Lauritzen seine wissenschaftlichen Akzente zunächst auf Kindheit, Pubertät und Adoleszenz des Mädchens. Er wurde Vorsitzender der deutschen Arbeitsgemeinschaft für pädiatrische Gynäkologie und diente später acht Jahre als Präsident der Weltorganisation für Kinder- und Jugendgynäkologie, FIGIJ.

Wer wie ich über vier Jahrzehnte eng mit Christian Lauritzen kooperiert hat, weiß um seine über jeden Zweifel erhabene Integrität. Aus einer nordschleswigschen Familie im deutsch-dänischen Grenzgebiet stammend, waren seine väterlichen Vorfahren nahezu ausschließlich Akademiker, überwiegend deutsch und dänisch sprechende Pastoren. Sein Vater, 1892 in ein nordschleswigsches Pastorenhaus geboren, hat 1973 mit 80 Jahren noch zum Dr. jur. promoviert. Christian Lauritzen hat diesen Vater sehr verehrt und sah in einem solchen Erbe seine ungebrochene geistige Frische begründet, die wir selbst bei unserem schwer erkrankten Lehrer und Freund bis in die letzten Lebenstage hinein erleben durften.

Christian Lauritzen hinterlässt ein umfangreiches literarisches Werk. In seinen eigenen Worten hat der Frauenarzt die Aufgabe und das schöne Vorrecht, der Frau in allen Phasen des Lebens, aber insbesondere in den existenziellen Augenblicken ihres Daseins hilfreich zur Seite stehen zu dürfen. Das habe er stets als großes Privileg empfunden. Seine im besten Sinne humanistische Bildung und umfangreichen Kenntnisse in der deutschen Literatur sowie ein enzyklopädisches medizinhistorisches Wissen ermöglichten ihm originelle Untersuchungen zu Fragen künstlerischer Kreativität in verschiedenen Lebensphasen der Frau. Am Beispiel historischer Schriftstellerinnen wie Annette von Droste-Hülshoff, Ricarda Huch, Ina Seidel, Luise Rinser, Gabriele Wohmann und Margarete Hansmann oder auch bildender Künstlerinnen wie Angelika Kaufmann, Käthe Kollwitz, Alice Berendt-Corinth, Virginia Woolf und Simone de Beauvoir stieß er auf in den Wechseljahren begründete Brüche der Kreativität. Deren Ursache und Vermeidbarkeit sollten weiter analysiert werden, ein letzter persönlich geäußerter Wunsch Lauritzens.

Die deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die internationale Menopausegesellschaft und auch viele weitere nationale und internationale Fachgesellschaften verlieren in Christian Lauritzen ein Ehrenmitglied. Sein Weg der historischen Meditation, der Geschichtsforschung, der Literatur und der schönen Künste hat ihn wie kaum ein anderer deutscher gynäkologischer Hochschullehrer über den Tellerrand des Fachgebietes blicken lassen. Seine umfangreiche Bibliothek, die den verlorenen Medizinhistoriker und Germanisten auf den ersten Blick erkennen ließ, diente ihm nicht nur zur Wertanlegung, sondern als Gesprächspartner, der ihm erlaubte, eine europäische Geistigkeit höchsten Ranges zu kommunizieren.

Als Hochschullehrer erfreute er sich besonderer Anerkennung bei seinen Schülern und Kollegen. Erworbenes Wissen und Können machen Freude, aber echte Freude kommt erst auf, wenn man Wissen und Können zeigen oder seine Anwendung demonstrieren, also lehren kann. Docendo discimus hat er oft Seneca zitiert und gleich danach den französischen Moralisten Joubert Wer lehrt, lernt zweimal. Auf unzählbaren wissenschaftlichen Tagungen, Seminaren, Workshops und Fortbildungsveranstaltungen war er ein stets höchst willkommener Gast und äußerst kenntnisreicher Gesprächspartner. Entsprechende Anerkennung erfuhr er durch die Verleihung der Ernst-von-Bergmann-Plakette sowie der Medaillen nach Vesalius, Laqueur, Goecke und von Dobszay. Als deutschem „Östrogen-Papst“ wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen.

Eine ungemein schöpferische ärztliche Persönlichkeit ist von uns gegangen. Mit Christian Lauritzen verlieren wir aber auch einen Vertreter der Gründergeneration der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, der wesentlich deren hohen internationalen Rang mitgestaltet hat. Christian Lauritzen lebt in uns fort als passionierter Humanist im Gewande eines visionären Arztes.

Prof. Dr. med. Hermann P. G. Schneider

Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde

Albert-Schweitzer-Straße 33

48149 Münster

Email: HPG.Schneider@uni-muenster.de

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