Psychiatr Prax 2007; 34(8): 408-409
DOI: 10.1055/s-2007-993277
Serie · Szene · Media Screen
Media Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Virtuose Prodromi

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Publication Date:
06 November 2007 (online)

 

Diese Novelle - was fast schon Understatement ist, "Roman" wäre auch nicht übertrieben - ist das neueste Werk des Autors, der mit "Nachtzug nach Lissabon" breite Bekanntheit erlangte. Eine anrührende, packende, mitreißende Erzählung über eine schicksalhafte Vater-Tochter-Geschichte, geschickt eingebettet in eine Begegnung zweier gescheiterter Männer, der eine ein Chirurg, der andere ein ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Biokybernetik, beide im Selbstverständnis eher Naturwissenschaftler als Virtuosen des Ausdrucks und der Bewältigung von Emotionen. Für den Psychiater ist die Erzählung neben dem genuinen Lesevergnügen von besonderem Interesse, weil eine beginnende schizophrene Psychose mit sorgfältig beobachteten Details eine zentrale Bedeutung im Handlungsablauf der Novelle hat. Die Schizophrenie in der Literatur wie auch im Spielfilm ist bekanntlich ein vielfältig bearbeitetes Thema und für den Psychiater leider meistens ein Anlass zu mit zunehmender Langeweile unterlegter betrübter Resigna„tion. Viele Kunstschaffende haben gar zu gerne alle Klischees über psychische Erkrankungen und psychiatrische Institutionen aufgegriffen, die alle Anti-Stigma-Programme mit so viel Engagement bekämpfen. Der Rezensent ist es längst leid, diese Filme zu sehen, in denen die Protagonistin nach schwerer seelischer Erschütterung "verrückt" wird und in eine graue Klinik eingewiesen wird, wo sie von herzlos-kalten Psychiatern und entsprechendem Pflegepersonal auf unbestimmte Dauer medikamentiert wird, es sei denn, es findet eine "Erlösung" durch Suizid, Beihilfe zu diesem oder gar gezielte Tötung statt. Wie anders ist da doch "Lea". Das kommt an das historische Glanzstück der Schizophrenieliteratur heran, Georg Büchners "Lenz", der freilich noch vor der Konstituierung der Psychi„atrie als wissenschaftliche Disziplin verfasst wurde. Bemerkenswerterweise sind es aber nicht die bestens bekannten psychischen Symptome, die in der Novelle von Pascal Mercier im Vordergrund stehen, sondern die diskreten Prodromi, die wir ja erst so richtig aus den Forschungen der letzten höchsten zwei Jahrzehnte kennen: die sehr diskreten motorischen Auffälligkeiten, die bis in das Kindesalter zurückreichen; ein Missverhältnis zwischen musisch-kreativer und koordinativer Begabung; subtile formale Denkstörungen unter affektiver Belastung; eine zunehmend vermehrte affektive Instabilität und Gereiztheit und eine frühe Neigung zur sozialen Isolierung. Gerade für den Psychiater ist das alles faszinierend geschrieben und es geht zwar doch, wie schon zu Beginn des Buches klar wird, im Unglück aus, aber dann auch wieder überraschend und keineswegs so klischeehaft, wie man es hätte befürchten können. Auch der Psychiater in dieser Geschichte, der nur im Rückblick in der dritten Person auftritt, ist eine sehr differenzierte Gestalt, hoch ambivalent besetzt, Projektionsfläche von viel Wut und Verzweiflung, fast dämonisch-genialisch, jedoch auch mit Unzulänglichkeiten, aber auch gerade darin vermag man sich wieder zu erkennen. Der psychiatrisch vorgebildete Leser fragt sich angesichts dieser teils geradezu klinisch genauen Schilderungen - woher weiß der Autor das alles, woher hat er seinen Stoff genommen? Alles bloße literarische Inspiration und Einfühlung?

Dies wohl doch nicht. Pascal Mercier ist ein Pseudonym - der Autor ist in Wirklichkeit Peter Bieri, Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Philosophie in Marburg bis 1993, seitdem Inhaber des Lehrstuhls für Sprachphilosophie an der Freien Universität Berlin und Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes Kognition und Gehirn bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dass so aus Wissenschaft Literatur werden kann - wunderbar, ein Lesevergnügen.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Mercier P. Lea. Novelle. München: Hanser, 2007. Geb. 256 Seiten, € 19,90. ISBN-10: 3-446-20915-8

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