Die infantile Zerebralparese ist als Mischbild einer primären neurologischen Störung
aufzufassen, die nur in den leichten Fällen ausschließlich die statomotorische Entwicklung
der Kinder betrifft. In den schwereren Verlaufsformen ist regelmäßig eine Störung
der allgemeinen und neurophysiologischen Entwicklung koexistent. Das spastische Bewegungsmuster
ist Ausdruck dieser Störung. Es ist bereits als Kompensation zu betrachten. Die Bewegungsform
wird vom Kind erlernt und genutzt. Sie stellt aber insgesamt für das Kind eine erhebliche
Einschränkung seiner motorischen Möglichkeiten dar. Im Rahmen der weiteren Entwicklung
stellt sich eine ständige Wechselwirkung zwischen der neurologischen Störung und den
persönlichen kompensatorischen Möglichkeiten (motorisch, kognitiv, verbal) ein. Dies
führt zu einem immer stärker werdenden individuellen Mischbild. Die Problematik der
Kinder wird durch eine unterschiedlich ausgeprägte Wahrnehmungsstörung und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung
(Perzeptionsstörung) zusätzlich erschwert.
Grundsätzlich lassen sich aus dieser Überlegung heraus die ICP-Kinder in 2 Gruppen
einteilen:
-
die Gruppe, die Bewegung als angenehm empfindet, die Bewegung nutzen kann, erlernte
Funktion in den Alltag integrieren kann und damit eine günstige Entwicklungsprognose
aufweist,
-
die Gruppe, die Bewegung als unangenehm störend, irritierend erlebt, da sie deren
Reiz nicht tolerieren kann und darauf nur mit Primärreaktion reagiert, die die Entwicklung
von anderen zielgerichteten, funktionellen Bewegungsabläufen hemmen und deren innere
Ruhe (Ausgeglichenheit, Wohlbefinden) durch ein äußeres (passives) Bewegungsangebot
stark beeinträchtigt ist. Diese Gruppe versucht eigene Bewegung zu vermeiden und sie
weist eine schlechte Entwicklungsprognose auf.
Für den Therapeuten ist es wichtig, diese Gruppen zu trennen. Ist die Zuordnung klar,
ist auch das therapeutische Konzept eindeutig.
Der therapeutische Ansatz kann nur individuell sein. Da wir das ideale Ziel einer
Auslöschung (Heilung) der Störung nicht erreichen können, müssen wir reale Ziele,
d. h. Modifikationen der Störung als Therapieziel anstreben. Die therapeutische Intervention
erfolgt konservativ oder operativ. Beide Verfahrensweisen sollten sich ergänzen. Sie
sollten in der Hand von in der Behandlung von ICP-Kindern ausgewiesenen Spezialisten
liegen. Ob und wann operiert werden soll, ist nur nach Kenntnis der Gesamtsituation
zu entscheiden. Die Operation schafft häufig irreversible Verhältnisse und muss vorher
in Absprache mit allen an der Therapie beteiligten Personen (Kind, Eltern, Physiotherapeuten,
Kinderneurologen, Orthopäden usw.) abgesprochen werden. Wichtige, sich anbahnende
statomotorische Entwicklungsschritte sollten durch operative Maßnahmen nicht unterbrochen,
sondern unterstützt werden. Die Operation ist keine isolierte Maßnahme, sondern sie
muss mit den sie begleitenden Folgemaßnahmen koordiniert werden. Zu diesen gehört
möglichst frühe Aufnahme der Physiotherapie, um das Kind bei der Testung und Anwendung
neuer Bewegungsmöglichkeiten zu unterstützen. Eine Orthesenversorgung (Lagerungs-
und Funktionsorthesen) sichert und stabilisiert das operative Ergebnis.
Ein therapeutischer Abschnitt ist dann beendet, wenn die erreichte Funktion vom Kind
in seinen Alltag integriert worden ist. Alle therapeutischen Maßnahmen haben zum Ziel,
die Wahlfreiheit der Kinder zu erweitern.
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Dr. med. Bernd Doll
Klinik für Kinderorthopädie
HELIOS Klinikum Emil von Behring
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