B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2008; 24(2): 43
DOI: 10.1055/s-2008-1004752
Editorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Editorial

Von Evaluation, Evolution und Eigenverantwortung!A. Baldaus
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Publication Date:
09 April 2008 (online)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Studien um Studien. Expertisen über Expertisen. Umfragen um der Fragen Willen. Konkurrierende Bundesberichte der Ministerien für Gesundheit und des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz „en masse”. Und dennoch keine neuen Botschaften seit der Wirtschaftswunderzeit, sondern: Die Deutschen sind zu dick! Sie liegen fernsehend auf dem Sofa und knabbern dabei zu viel, zu salzig, zu fett und zu nährstoffarm. Klar, kein spezifisch deutsches Problem, sondern ein Problem der technisierten Wirtschaftsländer.

Warum auch nicht? Die Zeiten des männlichen Jagens und des weiblichen Sammelns sind vorbei. Zumindest ernährungstechnisch. Unsere deutschen Körper signalisieren Winterzeit, Ruhezustand, Reservezeit. Und daher stammen die Fettreserven.

Wozu auch nicht? An nährwertgekennzeichneten Light-Produkten, Ernährungsergänzungen, medizinischen Behandlungen bei Bewegungsmangelkrankheiten und Pharmaka verdienen ganze dienstleistende und produzierende Wirtschaftszweige. Auch bestattende. Und Lebensversicherungen sparen langfristig Überschussbeteiligungen.

Warum also gesündere Ernährung? Warum also richtige Bewegung?

Weil als Ausdruck des Gemeinsinnes die politisch Verantwortlichen „christlich”, „sozial” und „liberal” sind. Gemeinwohl geht über Einzelwohl. Und weil gemein ist, dass viele fette und kranke Versicherten finanziert werden von einzelnen schlanken und ernährungsklugen Mitmenschen. Und weil in der Folge für wahrhaft soziale Notwendigkeiten keine Finanzmittel mehr zur Verfügung stehen werden: für sozial Schwache, für arme Bevölkerungsgruppen, für die Versorgung und Pflege alter und behinderter Menschen. Nicht nur in Deutschland.

Evolutionär unterscheiden sich Menschenaffen von Menschen durch das Leistungsvermögen des Gehirns. Gibt es übergewichtige Gorillas, die mit Schokobananen auf der grünen Wiese liegen statt hangelnd auf Bäumen nach Blättern zu suchen? Nein, denn Menschenaffen haben Instinkt - beispielsweise den zu überleben.

Bundesministerien fordern aufgrund der vorliegenden Studien Präventionsgesetze (die möglicherweise scheitern werden) und Aktionspläne „Ernährung und Bewegung” (in dieser Reihenfolge). Besonders Kinder und Jugendliche sollen Angebote im direkten „Setting” erhalten: im direkten Lebensumfeld, in den Stadtteilen, den Schulen und Kindertagesstätten. Die Lebensmittelindustrie soll mit einbezogen werden. Auch die Länder und Kommunen. Die Vereine. Die Schulen. Ernährungskunde statt Mathe, Bewegung statt Physik.

Eines bleibt allerdings unberücksichtigt: das liegende, fernsehende, knabbernde Individuum. Diesem signalisiert der Körper trotz Settingansätzen, Selbstverpflichtungen für den Lebensmittelmarkt und schulischen Sportstunden Ruhezeit. Und Sinnfragen nach korrektem Ernährungs- und Bewegungsverhalten sind evolutionär in Ruhezeiten überflüssig. Sinnfragen stellt sich das winterzeitlich orientierte Individuum erst mit auftretenden entsprechenden Motiven: Sorge vor Alter, Krankheit und Tod, Angst vor Altersarmut und Pflegestufe III im Heim. Oder mittels schimpansenhaften Instinkten: Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung oder ein jüngerer Lebensgefährte.

Das lässt folgern: wer Menschen zur klügeren Bewegung und Ernährung motivieren will, darf Instinkte nicht unberücksichtigt lassen. Erst dann lassen sich für den Motivierten Ziele und Wege ableiten. Ferngesteuerte Konzepte ersetzen nicht das Fernsehen. Wer jemals etwas von „extrinsischer” und „intrinsischer” Motivation gehört hat, weiß das. Möglicherweise helfen (gesundheits-)pädagogische Interventionen, die evolutionären Institutionen zu knacken. Und möglicherweise gelänge es dem eigenverantwortlichen Menschenaffen dann, zwischen dem Disease- und dem Healthease-Wipfel zu hangeln. Und möglicherweise ging es dann nicht nur dem Menschenaffen instinktiv besser, sondern auch der sozialen Gemeinschaft.

Als neue, unregelmäßige Rubrik wird Ihnen fortan die Glosse in B & G begegnen. Wir wünschen Ihnen dabei viel Freude - und die ein oder andere Anregung.

Herzlichst
Ihre Angelika Baldus
Geschäftsführerin DVGS

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