Zahnmedizin up2date 2008; 2(5): 431-447
DOI: 10.1055/s-2008-1038734
Oralmedizin

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bürstenbiopsie: Tumorfrüherkennung in der Zahnarztpraxis

Torsten W. Remmerbach
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Publication Date:
09 October 2008 (online)

Grundlagen

Im Arbeitsgebiet des Zahnarztes ist das Problem der Früherkennung bösartiger Tumoren bis heute nicht gelöst. Schon Spiessl [[1]], Seela [[2]], Neuman und Pape [[3]] haben vor mehr als dreißig Jahren ausführlich dargestellt, dass die rechtzeitige Diagnosestellung sowohl vom Patienten selbst, aber auch durch den erstbehandelnden Zahnarzt oder Arzt verzögert und damit die Prognose des Patienten deutlich verschlechtert wird. Die Gründe für diese Verschleppung sind zum einen beim Patienten selbst, aber auch in der ambulanten Diagnostik und somit bei den Ärzten und Zahnärzten zu suchen. Während die Zeitverluste vom Auftreten einzelner Symptome bis zum ersten Arzt- oder Zahnarztbesuch aufgrund der unterschiedlichen Reagibilität der Patienten nur sehr ungenau festgestellt werden können, lässt sich hingegen der iatrogene zeitliche Verzug zwischen Erstvorstellung des Patienten und der exakten Diagnosestellung überprüfen. Neumann und Pape hatten bereits 1970 für das Zungenkarzinom eine durchschnittliche Verschleppungszeit von fünf Monaten errechnet, wobei drei Monate allein auf die ambulante Diagnostik entfielen. Dabei handelte es sich in 30 % der Fälle um Patienten, die zuerst einen Arzt und dann einen Zahnarzt aufsuchten. Ein Fünftel der Patienten erhielt überhaupt keine Behandlung, in Zweidrittel der Fälle wurde eine symptomatische Therapie mit Spülungen, Pinselungen sowie Antibiotikagaben über mehrere Wochen eingeleitet bzw. kontraindizierte Maßnahmen wie Verätzungen, Zahnextraktionen, Abtragungen von Granulationen oder Probeentnahmen an falscher Stelle durchgeführt. Internationale Studien gehen von einer iatrogenen Verschleppungszeit von 2–4 Monaten aus.

Merke: Diese Verzögerung bei der Tumordiagnose ist als maßgeblich negativer Prognosefaktor in zahlreichen Studien belegt [[4], [5], [6], [7], [8]].

Kurative Behandlungsmöglichkeiten bestehen vor allem im frühen Stadium des oralen Plattenepithelkarzinoms. Daher ist die Tumorgröße für das Überleben des Patienten von entscheidender Bedeutung. Mehr als drei Viertel der Patienten, deren Tumor kleiner als 2 cm ist, haben eine Überlebenschance in den ersten fünf Jahren von 80 %, wohingegen diese auf unter 20 % sinkt, wenn der Tumor bereits Nachbarstrukturen befallen hat oder Metastasen in lokoregionären Lymphknoten gefunden werden. Da die Tumorgröße ein wichtiger prognostischer Faktor ist, muss neben einer Intensivierung der Patientenaufklärung über die Ätiologie des Plattenepithelkarzinoms (Primärprävention) die Früherkennung dieses Tumors in der (zahn-) ärztlichen Praxis verbessert werden (Sekundärprävention). Nur durch frühzeitiges Erkennen und Abklären von unklaren Mundschleimhautveränderungen wird es möglich sein, die unakzeptabel hohe Mortalität und Morbidität des oralen Plattenepithelkarzinoms zu senken.

Lokalisation des Primärtumors im Kopf-Hals-Bereich

  • Mundboden (36 %)

  • Zunge (21 %)

  • Wangenschleimhaut (15 %)

  • Lippen (8 %)

  • Tonsillenregion (2 %)

  • Oropharynx (2 %)

Merke: Da die Prognose eines oralen Plattenepithelkarzinoms in direkter Abhängigkeit zur Tumorgröße steht, kommt dem Erkennen vor allem kleiner Tumoren eine besondere Bedeutung zu.

Hierbei spielt der Zahnarzt eine wichtige Rolle hinsichtlich der Frühdiagnostik, denn er sieht den Patienten in der Regel häufiger zu Routinekontrollen als Ärzte anderer Fachrichtungen.

Epidemiologie

Plattenepithelkarzinome der Mundhöhle gehören weltweit zu den sechs häufigsten Tumoren des Menschen. In Europa entfallen 5–10 % aller Malignome auf Karzinome des Mund-Rachen-Raumes, die Inzidenz in Deutschland liegt bei etwa 10,3 Neuerkrankungen pro Jahr für 100 000 Einwohner, wobei 85 % der Patienten älter als 50 Jahre sind. Trotz deutlicher technischer und medizinischer Fortschritte hat sich die Heilungsrate von Plattenepithelkarzinomen der Mundhöhle in den vergangenen 20 Jahren nicht signifikant verbessert. Noch immer liegt die mittlere Fünf-Jahres-Überlebensrate für die Kollektive überregionaler Tumorregister bei nur etwa 50 %. Die Zahl der Krebssterbefälle in Deutschland liegt für Tumorerkrankungen der Mundhöhle und des Rachens laut dem Statistischen Bundesamt für das Jahr 2000 bei den unter 60-jährigen Männern mit 1646 Fällen auf Platz zwei hinter den 5763 durch Lungenkrebs verursachten Todesfällen [[9]].

Literatur

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  • 2 Seela W. Zur Früherkennung maligner Geschwülste im Kiefer-Gesichtsbereich.  Dtsch Z Stomatol. 1968;  18 676
  • 3 Neumann D, Pape H D. The loss of time in the diagnosis of tumors of the jaw and facial regions.  Dtsch Zahnarztl Z. 1970;  25 156-160
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  • 34 www.dimdi.de

Prof. Dr. Torsten Remmerbach

School of Dentistry & Oral Health
Gold Coast Campus
Griffith University

Queensland

Australia 4222

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