PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(3): 309-310
DOI: 10.1055/s-2008-1067493
Im Dialog

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Die Unversorgtheit spezieller PatientInnengruppen ist bundesweit ein Thema”

Barbara  Eifert im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publication Date:
05 September 2008 (online)

PiD: Wie bewerten Sie die Entwicklung der Psychotherapie für Jugendliche in den letzten Jahren?

Barbara Eifert: Aus unserer Sicht nehmen bei jungen Menschen psychische Erkrankungen, wie Depressionen etc., zu. Die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Jugendlichen war und ist aber nicht ausreichend. Es sind zu lange, nicht zumutbare Wartezeiten bis zur Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie, es gibt keine zeitnahe poststationäre Überleitung. PatientInnen mit komplexen medizinischen Diagnosen und sozial brüchigen Hintergründen sind in nur wenigen spezialisierten niedergelassenen Praxen unterzubringen. Aus unserer Sicht besteht ein zunehmender Vernetzungsbedarf von ambulanten und stationären multiprofessionellen Versorgern, z. B. Anbieter der ambulanten Wohnhilfen mit Kliniken, niedergelassenen Psychotherapeuten etc. Wir sehen eine Zunahme dafür speziell bei bulimischen und anorektischen jungen PatientInnen mit komplexem Versorgungsbedarf bei der Notwendigkeit enger Abstimmung von allen ambulanten und stationären Versorgern.

Hat sich die Versorgung mit Psychotherapie für die Patienten verbessert? Wenn ja, können Sie die Verbesserung beschreiben?

Verbesserungen sind eingetreten durch die zunehmende Informiertheit der PatientInnen, die gezielter bei Krankenkassen und Psychotherapeuten nachfragen und Rechte einfordern. Durch die Psychotherapeutenkammern werden Informationen gebündelt und es gibt vermehrt Spezialisierung von einzelnen Praxen, z. B. Traumatherapie, DBT etc.

Wo liegen die heutigen Probleme in der psychotherapeutischen Versorgung? Wo sehen Sie Lösungen für die Probleme?

Das größte Problem ist die mangelnde Transparenz in der Versorgung in Bezug auf freie Platzkapazitäten. Es sollte eine Meldepflicht freier Plätze geben. Probleme gibt es auch durch die Methodeneinengung durch Beschränkung auf die zwei Richtlinienverfahren entgegen der Patienteninteressen für eine Methodenerweiterung. Zum Beispiel ist die GT immer noch im Anerkennungsverfahren. Es gibt auch keine Übergabe- und Überleitungsstandards zwischen stationären und ambulanten psychotherapeutischen und psychosomatischen, psychiatrischen Versorgern. Es müsste auch eine Flexibilisierung in den Therapieeinheiten z. B. bezüglich Kurzfrequenzen bei Persönlichkeitsstörungen etc. erarbeitet werden durch Änderung der Standards. Auch wäre eine Auflösung der strukturellen Abgrenzung ärztlicher Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Psychologischer Psychotherapeut notwendig, und die regionale Zusammenarbeit müsste forciert werden. Es müssten die nicht besetzten KV-Sitze der ärztlichen Psychotherapeuten für KJ und Psychotherapeuten unbedingt geöffnet werden. Die Unversorgtheit spezieller PatientInnengruppen wie MigrantInnen, Jugendliche und junge Erwachsene ist auch bundesweit ein Thema, wo Gerichtsurteile zur Erweiterung der Sonderbedarfe anstehen. Eine Erweiterung der Zulassung in diesen Bereichen wäre sinnvoll mit Abstimmung der Versorgungszielgruppe. Überlegungswert wäre auch, inwieweit sich die Psychotherapeuten beteiligen an Bereitschaftsdiensten für psychotherapeutisch orientierte Krisenintervention.

Sehen Sie Aufgaben der Prävention für die Psychotherapie?

Psychotherapie kann prinzipiell auch als ein präventives Element in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen angesehen werden. Sie deckt Primär-, Sekundär- wie auch Tertiärpräventives ab. Würde sie bei Kindern und Jugendlichen verstärkter eingesetzt werden können, könnten z. B. Krankheitsmanifestationen bzw. -verschlechterungen und Labilisierungen durch lebensbedingt krisenhafte Zeiten z. B. durch Krankheit der Eltern, Schulprobleme frühzeitiger vermieden werden. Ähnliches gilt selbstverständlich auch bei erwachsenen Patienten in besonderen Lebensereignissen oder entwicklungsbedingten schwierigen Lebensphasen mit hohem Bedarf an individuellen Anpassungsleistungen bei Arbeitslosigkeit, im Klimakterium, nach Unfällen, bei Pflegefällen in der Familie oder im Alter.

Haben Sie eine Vision, wohin die Psychotherapie für Jugendliche sich entwickeln soll? Was ist Ihr Wunsch: Wohin sollte es aus Ihrer Sicht gehen?

Eine Vision: Wenn die Entscheidung für eine Therapie gefällt ist, sollte ein konkretes Therapieangebot zeitnah erfolgen können. So sollte es ablaufen: Jugendhilfedienste, Eltern, der Jugendliche selbst signalisieren einen psychotherapeutischen Bedarf, dann: eine Koordinierungsstelle nennt freie Plätze, sodass der Betroffene / die Betroffenen individuell entscheiden können (Person, Setting etc.) und vergibt Ersttermine, und dann geht es los mit der psychotherapeutischen Versorgung in einem flexibilisierten System an Abrechnungen und Leistungsangeboten. Damit meine ich Krisenintervention, 20-minütige Kurzkontakte, Kurztherapien, Überleitungsgespräche zu anderen Versorgern und so weiter mit enger Verzahnung zwischen verschiedenen Versorgern. Wir brauchen trägerübergreifende und budgetübergreifende Modelle mit sozialer, psychosozialer und psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung.

Dafür hält unser gegenwärtiges System leider keine geeigneten Strukturen vor, und ich fürchte, dass konservative Interessensgruppen das behindern.

Dem kann ich zustimmen, schon jetzt gibt es immer mehr Menschen, die im Dickicht der Kostenträgerstrukturen und Leistungszuständigkeit unversorgt resignieren. Deshalb bedarf es unbedingt für die Bevölkerung transparenter Anlaufstellen mit einen fachkompetenten Fallmanagement.

Frau Eifert, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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