Psychiatr Prax 2008; 35(7): 318-320
DOI: 10.1055/s-2008-1067526
Debatte: Pro & Kontra

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Nehmen psychische Störungen zu?

Do Mental Disorders Really Increase?Pro: Hermann  Spießl Kontra: Frank  Jacobi
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Publication Date:
17 October 2008 (online)

Pro

„Psychische und Verhaltensstörungen: Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?” [1], so titelte das Deutsche Ärzteblatt den Artikel zum Thema der Zeit am 31.3.2006 und forderte, dass der Erhalt und die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden müsse. Neben den jetzt auch in Fachkreisen wahrgenommenen hohen Prävalenzzahlen für psychische Störungen zeigen insbesondere die Ergebnisse der WHO Global Burden of Disease Study die Bedeutung seelischer Störungen für Gesellschaft und Gesundheitssystem. Zudem lassen Berichte der Krankenkassen bezüglich der Arbeitsunfähigkeit aufhorchen, z. B. habe laut DAK Gesundheitsreport von 2005 [2] die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Störungen im Vergleich zu 1997 um 68,7 % zugenommen. Seit 2001 sind psychische Erkrankungen zudem die Hauptursache von Erwerbsunfähigkeit. So werden laut der Deutschen Rentenversicherung jährlich etwa 50 000 Menschen wegen einer seelischen Erkrankung frühberentet.

Somit stellt sich (wieder) die Frage, ob Inzidenz und / oder Prävalenz psychischer Störungen tatsächlich zunehmen. Die Daten z. B. der Gesundheitsberichterstattung für Deutschland lassen diesbezüglich keine Antwort zu. Wie Richter in seiner aktuellen Übersicht überzeugend darlegt [3], lässt sich anhand von epidemiologischen Daten, die mit ähnlicher Methode an vergleichbaren Stichproben an mindestens 2 Zeitpunkten erhoben wurden, keine Zunahme psychischer Störungen zeigen. Eine generelle Argumentation „pro Zunahme psychischer Störungen” soll damit hier auch gar nicht erfolgen. Berücksichtigt man aber über die strengen Einschlusskriterien des Reviews von Richter weitere epidemiologische Studien, so finden sich zumindest diskussionswürdige Hinweise auf eine mögliche Zunahme depressiver Störungen. So zeigt zum Beispiel eine große, methodisch hochwertige Bevölkerungsstudie in den USA mit über 42 000 Personen eine Zunahme der Prävalenz der Major Depression von 3,3 % (1991 / 1992) auf 7,1 % (2001 / 2002) [4]. Aber es bleibt schwierig: Eine im gleichen Zeitraum durchgeführte Studie (NCS und NCS-R) findet dagegen eine Abnahme der Major Depression von 10,1 % (1990–1992) auf 8,7 % (2000–2002) [5] [6]; Klassifikationssysteme, Studienpopulation und Fragebögen waren im Vergleich zur Studie von Compton et al. [4] unterschiedlich.

Bezüglich der möglichen Zunahme depressiver Störungen wird u. a. ein sog. Alterskohorteneffekt diskutiert, der sich unabhängig von sozialen und kulturellen Unterschieden zeigt. Das sinkende Ersterkrankungsalter und das erhöhte Erkrankungsrisiko in jüngeren Kohorten lässt sich auch bei Kontrolle möglicher artifizieller Einflussfaktoren nachweisen. Epidemiologische Studien mit jüngeren Kohorten finden höhere Prävalenzen als Studien, die Patienten über 65 Jahre mit einschließen. Zudem zeigt sich eine Zunahme im Schweregrad bei jüngeren Geburtskohorten. Die Betroffenen erkranken häufiger und früher an einer Depression, das Risiko für eine Depression wird pro Dekade verdoppelt – vorausgesetzt, die (retrospektiven) Angaben der Studienteilnehmer sind valide [7]. Hier zeigt sich, dass das Alter beim Interview ein Prädiktor für eine Depression während der Lebensspanne ist. Neben den für den Alterskohorteneffekt möglichen ursächlichen sozialen Faktoren (wie zunehmende Urbanisierung, größere geografische Mobilität, sich rasch verändernde Lebensbedingungen, Veränderungen in der Lebensstruktur, sinkende soziale Unterstützung) und dem Faktor Alter selbst (verringerte emotionale Ansprechbarkeit Älterer für negative Erfahrungen, höhere emotionale Kontrolle negativer Emotionen, psychologische Immunisierung) sind mögliche methodische Artefakte zu bedenken: Neben der vermehrten Wahrnehmung depressiver Symptome bei Jüngeren bzw. der falschen Bewertung bei Älteren werden sog. Erinnerungseffekte („Recall Bias”) diskutiert, denn es fällt auf, dass die Lebenszeitprävalenz für Depression nur zweimal höher als die aktuelle Prävalenz ist. Bezieht man andererseits diesen „Recall Bias” in die Prävalenzberechnung mit ein, müsste bei Männern von einer Lebenszeitprävalenz der Depression von 30 % und bei Frauen von 40 % ausgegangen werden [8]. Damit wären die bisherigen Prävalenzzahlen völlig hinfällig, da viel zu niedrig.

Versorgungspolitisch aktuell relevanter als die Frage der Zunahme der „wahren” Prävalenz – und auch klarer zu beantworten – ist die unzweifelhaft zunehmende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch Patienten mit psychischen Störungen. Zunehmend mehr psychisch Kranke werden – über alle Diagnosen und Schweregrade hinweg – ambulant und stationär behandelt. Gemäß NCS nahmen die Behandlungsquoten psychischer Störungen im Vergleich von 1990 / 1992 zu 2001 / 2002 um über 10 % zu [9]. Dies ist eine an sich erfreuliche Entwicklung angesichts der bekanntermaßen niedrigen sog. Behandlungsprävalenz [10]. So haben nur etwa 50 % der Patienten mit Depression eine professionelle Behandlung aufgesucht oder erhalten. Obgleich sich im Vergleich zu den 90er-Jahren die Versorgungssituation im primärärztlichen Bereich verbessert hat, ist der Anteil nicht erkannter bzw. unbehandelter Patienten noch immer zu hoch, die Überweisungsrate in den psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachbereich und die Verordnung von Antidepressiva und Psychotherapie zu niedrig. Dennoch findet sich auch in der stationär-psychiatrischen Behandlung ein seit Jahren zunehmender Anteil von Patienten mit affektiven Störungen.

Aufgrund der erheblichen gesundheitsökonomischen Implikationen psychischer und gerade depressiver Störungen sollten zukünftig neben regelmäßigen Bevölkerungssurveys und prospektiven Kohortenstudien auch routinemäßig erhobene Daten der ambulanten und stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung (z. B. DGPPN-BADO und Krankenkassendaten) systematisch analysiert werden, um Morbiditätsverschiebungen genauer evaluieren zu können, um – neben der Frage der Zunahme psychischer Störungen – auch frühzeitig und gezielt Präventionsmaßnahmen einleiten zu können [11].

Literatur

  • 1 Weber A, Hörmann G, Köllner V. Psychische und Verhaltensstörungen: Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?.  Dt Ärztebl. 2006;  103 A 834-841
  • 2 DAK Versorgungsmanagement .DAK Gesundheitsreport 2005. 2005; online: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/DAK-Gesundheitsreport_2005.pdf [accessed 3.1.2008]
  • 3 Richter D, Berger K, Reker T. Nehmen psychische Störungen zu? Eine systematische Literaturübersicht.  Psychiat Prax. 2008;  35 321-330
  • 4 Compton W M, Conway K P, Stinson F S. et al . Changes in the prevalence of major depression and comorbid substance use disorders in the United States between 1991–1992 and 2001–2002.  Am J Psychiatry. 2006;  163 2141-2147
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  • 8 Kruijshaar M E, Barendregt J, Vos T. et al . Lifetime prevalence estimates of major depression: An indirect estimation method and a quantification of recall bias.  Eur J Epidemiol. 2005;  20 103-111
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  • 10 Jacobi F, Wittchen H U. „Diagnoseträger” und Patienten: Zur Epidemiologie behandelter und unbehandelter psychischer Störungen in Deutschland. In: Kosfelder J, Michalak J, Vocks S, Willutzki U, Hrsg Fortschritte der Psychotherapieforschung. Göttingen; Hogrefe 2005: 25-36
  • 11 Spießl H, Hübner-Liebermann B, Hajak G. Depression – und viele schauen (noch) weg!.  Psychiat Prax. 2007;  33 53-54
  • 12 Wittchen H U, Jacobi F. Size and burden of mental disorders in Europe – a critical review and appraisal of 27 studies.  Eur Neuropsychopharmacol. 2005;  15 357-376
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Priv.-Doz. Dr. Hermann Spießl

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg

Universitätsstraße 84

93053 Regensburg

Email: hermann.spiessl@medbo.de

Priv.-Doz. Dr. Frank Jacobi

Klinische Psychologie und Psychotherapie, TU Dresden

Chemnitzer Straße 46

01187 Dresden

Email: jacobi@psychologie.tu-dresden.de

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