Intensivmedizin up2date 2008; 4(4): 265-267
DOI: 10.1055/s-2008-1077548
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wellen in der Intensivmedizin

Felix  Kolibay, Bernd  W.  Böttiger
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Publikationsdatum:
06. November 2008 (online)

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Viele Dinge unseres alltäglichen Lebens unterliegen wellenartigen Schwankungen. Eine Reihe von neuen Entwicklungen verebbt einfach, ein anderer Teil löst gravierende Veränderungen aus. Und es gibt Trends, die nach vorübergehender Aktualität über viele Jahre hinweg verschwinden, um dann plötzlich wieder modern zu werden.

Betrachtet man die Entwicklung der Intensivmedizin in den vergangenen Jahrzehnten, findet man Ähnliches. Zahlreiche Therapiekonzepte und Verfahren wurden je nach Studienlage und Erfahrung zeitweise empfohlen und dann wiederum verworfen. Manche Konzepte scheinen nach Jahrzehnten des Dornröschenschlafes zu neuer Bedeutsamkeit zu erwachen.

Als aktuelles Beispiel hierfür kann man die in zunehmendem Maße durchgeführte therapeutische Hypothermie nach erfolgreicher kardiopulmonaler Reanimation anführen. Im Jahre 2002 zeigten erst eine europäische Multicenterstudie [1] und dann eine Untersuchung einer australischen Arbeitsgruppe [2], dass Patienten mit initialem Kammerflimmern ein deutlich besseres neurologisches Ergebnis aufwiesen, wenn sie für 12 – 24 Stunden gekühlt wurden. Seitdem wird auf immer mehr Intensivstationen und in einigen Regionen bereits präklinisch das Prinzip der therapeutischen Hypothermie angewendet. Neu sind diese Erkenntnis und das Verfahren allerdings nicht. Bereits im Jahre 1961 empfahl Peter Safar, einer der Väter der modernen Wiederbelebung, eine therapeutische Kühlung, falls der Patient innerhalb der ersten 30 Minuten nach erfolgreicher kardiopulmonaler Reanimation bewusstlos bleiben sollte. Der Anästhesist und Intensivmediziner Lawin beschrieb 1968 in der ersten Auflage seines Lehrbuches „Praxis der Intensivtherapie” das Prinzip der therapeutischen Kühlung. Er widmete diesem Prinzip ein eigenes Lehrbuchkapitel und empfahl die Anwendung unter anderem bei Patienten nach erfolgreicher Wiederbelebung sowie nach Schädel-Hirn-Trauma. Diese Empfehlungen blieben bis zur 4. Auflage dieses Buches im Jahre 1975 unverändert bestehen. In der 5. Auflage aus dem Jahre 1989 wurde das Konzept erstmals wieder eingeschränkt, da verschiedene Autoren einen negativen Einfluss der Hypothermie auf die postischämische Kapillarobstruktion postulierten. In der 6. Auflage aus dem Jahre 1994 wurde die Indikation zur Hypothermie bei cerebraler Hypoxie unterschiedlicher Genese gar als „wenig stichhaltig” bezeichnet, da verschiedene Autoren und Arbeitsgruppen über enttäuschende Erfahrungen mit der therapeutischen Hypothermie berichteten [3] [4] [5]. Heute existieren zur therapeutischen Hypothermie nach Herz-Kreislaufstillstand eindeutige, evidenzbasierte Empfehlungen [6] [7] und die „Number-Needed-to-Treat” (Maßzahl, die angibt, wie viele Patienten behandelt werden müssen, um das gewünschte Therapieziel bei einem Patienten zu erreichen) liegt bei nur 6 [8]. Trotzdem wird dieses Verfahren aktuell auf vielen Intensivstationen noch nicht angewendet. Eine 2007 publizierte Umfrage an 735 deutschen Krankenhäusern mit Intensivstationen [9], von denen 58 % den Fragebogen beantworteten, ergab, dass auf 77 % der Intensivstationen keine therapeutische Hypothermie nach Kreislaufstillstand durchgeführt wurde.

Ähnlichen wellenförmigen Schwankungen unterliegt die Empfehlung zur Gabe von Kortikosteroiden beim septischen Schock. In den 60er- und 70er Jahren wurden hohe Dosen (3 g Hydrokortison oder entsprechende Äquivalenzdosen) empfohlen. In den frühen 80er Jahren wurden diese Empfehlungen modifiziert und die empfohlene Dosis mit 50 mg/kg KG Hydrokortison oder entsprechende Äquivalenzdosen präzisiert. In den späten 80er Jahren wurden die Empfehlungen zur Gabe von Kortikosteroiden im septischen Schock dann erstmals wieder eingeschränkt und kontrovers diskutiert [10] [11]. Grundlage hierfür war eine prospektive Studie mit 59 Patienten [12], aus der die Autoren schlossen, dass die hochdosierte Gabe von Kortikosteroiden die Überlebenschancen von Patienten mit einer schweren Sepsis nicht verbessert. Weitere Studien [13] [14] führten dazu, dass die adjuvante Behandlung des septischen Schocks mit hochdosierten Kortikosteroiden in den 90er Jahren als „nicht gerechtfertigt” eingestuft wurde. Die Arbeitsgruppe von Annane untersuchte von 1995 bis 1999 septische Patienten auf französischen Intensivstationen [15] und testete primär, ob eine relative Nebenniereninsuffizienz vorlag (fehlender Anstieg des Plasmakortisolspiegels nach Gabe von Kortikotropin). Dann wurden die Patienten entweder mit niedrig dosierten Kortikosteroiden oder mit Plazebo behandelt. In der Untergruppe der Patienten mit einem negativen Kortikotropintest zeigte sich eine geringere Mortalität bei den Patienten, die mit niedrig dosierten Kortikosteroiden behandelt wurden, so dass die Empfehlung einer niedrig dosierten Kortikosteroidgabe 2002 auch Eingang in die S2-Leitlinie der Deutschen Sepsisgesellschaft fand. Aktuell ist diese Empfehlung durch die Ergebnisse der Kortikusstudie [16] erneut ganz wesentlich in die Diskussion geraten. In diese Multicenterstudie wurden insgesamt 500 septische Patienten eingeschlossen. 252 Patienten erhielten alle 6 Stunden 50 mg Hydrocortison, 248 Patienten erhielten Plazebo. Bezogen auf die Mortalität war kein Unterschied nachweisbar, auch nicht in der Untergruppe der Patienten mit negativem Kortikotropintest. Es zeigte sich lediglich, dass der Schockzustand in der Hydrocortisongruppe schneller beherrschbar war, allerdings begleitet von einer vermehrten Zahl an Superinfektionen. In dieser Studie wurden keine Patienten mit einem katecholaminrefraktären Schock untersucht, so dass wir unseren septischen Patienten weiterhin dann niedrig dosiertes Hydrokortison verabreichen, wenn trotz hochdosierter Katecholamintherapie und adäquater Volumenzufuhr der Schockzustand persistiert.

Die Diskussion um den Zielwert des Blutglukosespiegels und die entsprechenden Empfehlungen wird aktuell ebenfalls kontrovers geführt. Im Jahre 2001 zeigte eine Untersuchung von van den Berghe et al., dass die auf einen Blutglukosezielwert von 80 – 110 mg/dl eingestellte Subgruppe von insgesamt 1548 schwerkranken, chirurgischen Intensivpatienten eine um 34 Prozent geringere Mortalität im Vergleich zur Kontrollgruppe mit einem Zielwert von 180 – 200 mg/dl aufwies [17]. Die hieraus resultierenden Empfehlungen einer intensivierten Insulintherapie fanden weitläufige Verbreitung. Die gleiche Arbeitsgruppe untersuchte dann nach demselben Prinzip Patienten einer medizinischen Intensivstation. In dieser Studie [18] fand sich zwar eine deutliche Reduktion der Blutglukosespiegel bei den entsprechend therapierten Patienten. Es konnte jedoch lediglich ein Unterschied bezüglich der Morbidität, aber nicht bezüglich der Mortalität zwischen den zwei Gruppen nachgewiesen werden. In der VISEP-Studie [19] wurde bei septischen Patienten einerseits der Flüssigkeitsersatz mittels Hydroxyethylstärke (HES; 200/0,6) gegen den mit Ringer-Lactat-Lösung verglichen, andererseits aber auch das intensivierte Insulinschema untersucht. Es konnte kein Mortalitätsunterschied zwischen der Gruppe der konventionell und der mit dem intensivierten Insulinschema behandelten Patienten gezeigt werden. Aufgrund einer deutlich erhöhten Rate von Hypoglykämien in der Gruppe der nach dem intensivierten Insulinschema behandelten Patienten wurde dieser Teil der VISEP-Studie abgebrochen. Interessanterweise wurden auch die Flüssigkeitsarme abgebrochen, da sich in der HES-Gruppe eine erhöhte Rate an Nierenversagen zeigte. Diese Ergebnisse werden aktuell kontrovers diskutiert, da es grundlegende, methodische Kritikpunkte an der Studie gibt. Es sind weitere Studien erforderlich, um die Empfehlungen zur Insulintherapie und den Blutzuckerzielwerten präzisieren zu können. Bevor solche Studien vorliegen, scheint es sinnvoll zu sein, einen Blutzuckerzielwert kleiner als 150 mg/dl unter Vermeidung von Hypoglykämien anzustreben.

In der Medizin sind Studien die Grundlage für die Optimierung unserer Behandlungsmöglichkeiten und für die Entwicklung neuer Therapiekonzepte. Dementsprechend sollten überzeugende Ergebnisse vorliegen, bevor – im Einzelfall voreilig – aufgrund letztendlich zweifelhafter Studienergebnisse Therapieempfehlungen abgeleitet oder bestehende Therapieverfahren verworfen werden. Notwendig sind Studien mit ausreichend großen Vergleichskollektiven. Weiterhin ist - zur definitiven Absicherung – eine zweite Studie zu einer entsprechenden Fragestellung von einer zweiten Arbeitsgruppe zu fordern. Wenn eine solche „Kontrollstudie” das Ergebnis der ersten Studie bestätigt, können mit hoher Sicherheit stabile Empfehlungen abgeleitet werden. Durch ein solches Vorgehen könnten sowohl die Stärke als auch die Häufigkeit von Wellen deutlich reduziert werden, so dass unser Schiff noch leichter auf Kurs bleibt.

Literatur

Dr. med. F. Kolibay
Prof. Dr. med. B. W. Böttiger

Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
Universität zu Köln

Kerpener Strasse 62
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