Der Klinikarzt 2018; 47(04): 113-114
DOI: 10.1055/a-0586-1985
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Cannabis treibt weiter Blüten – Cui bono?

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
09 May 2018 (online)

Inhaltlicher Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe des klinikarzt Ist der Schlaganfall. Sachlich mische ich mich hier traditionsgemäß nicht ein, schon gar nicht in die kompetente Einführung in das Thema durch Prof. Dr. Wolfram Döhner auf Seite 121.

Indes habe ich mich neulich erschrocken, als ich anlässlich einer Vortragsvorbereitung zum Thema Cannabis von Studien las, die da besagten, dass jugendliche Cannabiskonsumenten deutlich psychosegefährdeter sind als ältere Menschen und außerdem eben auch die Gefahr juveniler Schlaganfälle besteht. Hier ist die derzeitige Studienlage aber nicht eindeutig, da bei den betroffenen Jugendlichen gleichzeitig wohl ein hoher Tabakgenuss besteht. Schlimm genug, was auch weiterhin gegen eine totale Cannabis-Freigabe spricht. Außerdem haben insbesondere Cannabis-Blüten ein hohes Missbrauchspotenzial.

Bleiben wir hier einmal bei Cannabis zur Therapie. Sie wurde als Heilpflanze seit Kenntnis seiner chemischen Struktur wiederentdeckt und Versicherte haben seit einem Jahr, genau seit dem 10.3.2017, Anspruch auf eine Versorgung auf Medizinalhanf in Form getrockneter Blüten oder Extrakten in standartisierter Qualität und als Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (§ 31 SGB V). Und dies bei schwerwiegenden Erkrankungen, wenn es keine echten Alternativen mehr gibt und "wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht". Eine durchaus schwammige Formulierung. Auf jeden Fall hat der verordnende Arzt eine ausführliche Begleiterhebung für das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) zu erbringen. Zuvor ist ein Antrag zu erstellen und von der Krankenkasse zu genehmigen. Wegen der bürokratischen Hürden oder weil sie meinen, sich mit der Thematik nicht auszukennen, scheuen viele Kolleginnen und Kollegen vor der Verordnung zurück.

Zu den beiden wichtigen Cannabinoiden für eine medizinische Anwendung zählen das psychotrope Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und das nicht psychotrope Delta-8-Tetrahydrocannabinol Cannabidiol (CBD). Cannabionide aktivieren die körpereigenen CB-Rezeptoren CB1 (Überwiegend im zentralen Nervensystem) sowie CB2 (Überwiegend im Immunsystem). Dadurch ergeben sich die Hauptausrichtungen der Substanzen. Endogene Liganden eines körpereigenen Endocannabinoid-Systems helfen nach, z. B. das „Anandamid“, das es übrigens auch in Schokolade gibt und Glücksgefühle vermitteln soll.

Trotz einer großenteils fehlenden wissenschaftlichen Evidenzlage – so die gerade erschienene Meta-Analyse CaPRis –, sind positive Erfahrungen beschrieben in der Therapie mit Cannabinoiden zum Beispiel bei Spastik (Multiple Sklerose), im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen, bei Appetitlosigkeit, Übelkeit u. a. Eine milde euphorisierende Wirkung (THC) kann in der Therapie ggfs. positiv in Kauf genommen werden. In der Palliativmedizin habe ich persönlich recht gute Wirkungen bei der Behandlung von Appetitlosigkeit/ Kachexie unter dem Einsatz von Dronabinol beobachtet.

Abhängigkeiten unter Therapie sind bisher nicht bekannt geworden. Verfügbar zur medizinischen Anwendung sind Cannabisblüten, das Rezepturarzneimittel Dronabinol (In den USA als Fertigarzneimittel Marinol erhältlich), Sativex mit dem definierten Extrakt Nabiximols, sowie das synthetische Canemes mit dem Wirkstoff Nabilon. Neuerdings kommt auch ein Vollspektrumextrakt über eine kanadische Firma auf den Markt, das neben den beiden Hauptwirkstoffen THC und CBD alle weiteren Wirkstoffe der Cannabisblüte beinhaltet. Schon vor dem neuen Gesetz waren in Deutschland on Label zugelassen: Nabilon bei chemotherapiebedingtem Erbrechen und Sativex bei therapierefraktärer Spastik bei MS und in den USA Dronabinol bei chemotherapiebedingter Nausea sowie Kachexie bei AIDS. Cannabisblüten und -Extrakte konnten in Deutschland zuvor mit einer Ausnahmegenehmigung der Bundesopiumstelle verordnet werden.

Aus verschiedenen Gründen wird für die therapeutische Applikation von Cannabis grundsätzlich Schlucken vor Rauchen oder Inhalieren empfohlen. Die Inhalation bringt eine schnelle Anflutung, aber ebenso einen schnellen Abfall von THC. Zur Vermeidung von möglichen Nebenwirkungen wie psychomotorischen Veränderungen gilt der Grundsatz „start low, go slow“.

Obwohl derzeit rund die Hälfte aller Cannabisanträge von den Krankenkassen abgelehnt werden und obwohl die Ausschreibung für den Anbau von medizinischem Hanf in Deutschland aufgrund einer Klage jüngst gestoppt wurde, treibt der Handel Blüten. Genauer genommen wurden im zweiten Quartal 2017 ca. 5000 Rezepte für Cannabisblüten ausgestellt, im vierten Quartal waren es bereits knapp 13 000. Und das bei nicht gerade geringen Kosten. Man rechnet grob mit etwa 500 € monatlicher Therapiekosten.

Das „Cui bono“, also das „Wem nützt es“, wird hoffentlich zugunsten von Schwerkranken ausgehen.