OP-Journal 2018; 34(03): 261-268
DOI: 10.1055/a-0592-8571
Fachwissen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter – Konzepte zu Diagnostik und Therapie

Injuries of the Pediatric Spine – Concepts for Diagnostics and Therapy
Michael Kreinest
,
Sven Y. Vetter
,
Paul A. Grützner
,
Klaus Wendl
,
Stefan Matschke
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. Dr. Michael Kreinest
Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie
BG Klinik Ludwigshafen
Ludwig-Guttmann-Straße 13
67071 Ludwigshafen
Phone: 06 21/68 100   
Fax: 06 21/68 10 34 56   

Publication History

Publication Date:
09 November 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Nur 5 – 10% aller Wirbelsäulenverletzungen betreffen Kinder. Über 90% dieser Kinder mit einer Verletzung der Wirbelsäule haben ihr 16. Lebensjahr bereits erreicht. Bei Kindern unter dem 10. Lebensjahr ist am häufigsten die Halswirbelsäule betroffen. Zwischen 12 und 27% der Kinder mit einer Verletzung der Wirbelsäule haben begleitende neurologische Defizite bis hin zur kompletten Querschnittsymptomatik. Sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie von Verletzungen der Wirbelsäule im Kindesalter sind Kenntnisse über die Ossifikation der Wirbelkörper sowie über weitere anatomische und biomechanische Besonderheiten der heranwachsenden Wirbelsäule erforderlich. Neben der klinischen und neurologischen Untersuchung erfolgt die Diagnostik hauptsächlich mittels Röntgen und kernspintomografischer Bildgebung. Für die Frakturen der Wirbelsäule im Kindesalter existieren spezielle Klassifikationssysteme. Im Vergleich zum Erwachsenen ist bei Kindern mit Verletzungen der Wirbelsäule häufiger eine konservative Therapie möglich. Alle stabilen Frakturen sowie die typischen Verletzungen der Endplatten können prinzipiell funktionell nachbehandelt werden. Auch Verletzungen, die eine geringgradige Veränderung des physiologischen Alignments verursachen, können oftmals noch konservativ therapiert werden. An der Halswirbelsäule wird die Indikation zur Stabilisierung vor allem bei deutlich gestörtem zervikalen Alignment gestellt. Oftmals erfolgt die Therapie im Halofixateur. Alternativ kann die Stabilisierung mittels Fixateur interne oder direkter Verschraubung erfolgen. Bei Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule wird eine operative Therapie empfohlen, wenn sich eine posttraumatische Segmentkyphose von über 20° ausbildet. Nach Reposition erfolgt hier meist die dorsale Instrumentierung. Generell zeigen Kinder mit Verletzungen der Wirbelsäule ein gutes Outcome.


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Abstract

Around 5 – 10% of all spinal injuries are related to children. More than 90% of these children are already 16 years of age or older. Cervical spine injuries are more frequent in children below the age of 10. Around 12 – 27% of the children suffering a spinal injury complain accompanying neurological symptoms up to a complete spinal cord injury. Detailed knowledge of the vertebral columnʼs ossification as well as further anatomical and biomechanical specialties of the growing spine are essential for diagnostics and therapy of spinal injuries in children. Apart from clinical and neurological examination, diagnostics of spinal injuries in children is mainly performed by X-ray and nuclear magnetic resonance imaging. Special classification systems are available for injuries of the growing spine. Compared to adults, in children a non-operative therapy is indicated more often. All stable fractures as well as all typical endplate injuries could be treated non-operatively. In case of highly interference of the cervical vertebral columnʼs alignment, operative stabilization is indicated. In general, children suffering from a spinal injury have a better outcome. Knowing the specialities of the growing spine toward anatomy and biomechanics is essential for diagnosis and therapy of pediatric spinal injuries. In addition to the systematic clinical and neurological examination, X-ray imaging as well as nuclear magnetic resonance imaging are the main keys to the diagnosis of pediatric spinal injuries. In most cases, a non-operative treatment is possible. In cases of instable injuries, operative stabilization may be indicated at the cervical spine as well as at the thoracic and lumbar spine.


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Einleitung

Verletzungen der Wirbelsäule bei Kindern sind selten [1]. Die Lokalisation der Verletzung sowie die entsprechenden Ursachen variieren deutlich mit dem Lebensalter der jungen Patienten [2]. Anatomische Charakteristika, wie z. B. die altersabhängige Variation der Apophysen, stellen besondere Herausforderungen an die bildgebende Diagnostik. Aufgrund der Besonderheiten der Biomechanik der heranwachsenden Wirbelsäule im Vergleich zum Erwachsenen können etablierte Therapien nicht undifferenziert übernommen werden.

Im folgenden Artikel möchten wir deshalb eine Übersicht über bestehende Konzepte zur Diagnostik und Therapie von Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter geben.


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Epidemiologie und Ätiologie

Nur 5 – 10% aller Wirbelsäulenverletzungen betreffen Kinder [3], [4]. Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen [5]. Unter allen verunfallten Kindern ist die Wirbelsäule nur in rund 1% der Fälle mitbetroffen [6]. Über 90% dieser Kinder mit einer Verletzung der Wirbelsäule haben ihr 16. Lebensjahr bereits erreicht. Bei Kindern unter dem 10. Lebensjahr ist am häufigsten die Halswirbelsäule betroffen. Zwei Drittel dieser Verletzungen betreffen die obere Halswirbelsäule [7]. Die Mortalität von Verletzungen der Wirbelsäule ist im Kindesalter im Vergleich zu Erwachsenen erhöht [8].

Verletzungen der Wirbelsäule bedürfen meist einer massiven Gewalteinwirkung. In rund zwei Drittel der Fälle zeigten sich relevante Begleitverletzungen des Schädels, des Thorax oder der Extremitäten [9].

Merke

Bei vorliegender Wirbelsäulenverletzung eines Kindes müssen weitere Wirbelsäulenverletzungen sicher ausgeschlossen werden.

Neben einem zunächst unbemerkten Geburtstrauma bei den Kindern im 1. Lebensjahr sind vor allem Stürze und passive Verkehrsunfälle die Hauptursache für Wirbelsäulenverletzungen bei Kleinkindern. Ab dem Schulalter kommen aktive Verkehrsunfälle sowie Sportunfälle hinzu [10].

Merke

Bei nicht schlüssigem Unfallmechanismus muss unabhängig vom Alter des Patienten an die Möglichkeit einer vorliegenden Kindesmisshandlung gedacht werden.

Zwischen 12 und 27% der Kinder mit einer Verletzung der Wirbelsäule haben begleitende neurologische Defizite ([Abb. 1]) bis hin zur kompletten Querschnittsymptomatik [2], [4], [11]. Das Outcome dieser schwer verletzten Kinder kann verbessert werden, wenn bereits initial der Transport in ein entsprechendes Schwerpunktzentrum erfolgt [12].

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Abb. 1 16-jähriger Junge mit Luxationsfraktur des 6. und 7. Halswirbelkörpers (a) mit neurologischem Defizit. Stabilisation durch ventrale Spondylodese des 6. und 7. Halswirbelkörpers mit Beckenkammblock und ventraler Plattenosteosynthese (b1 und b2).

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Anatomische Besonderheiten der Wirbelsäule im Kindesalter

Sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie von Verletzungen der Wirbelsäule im Kindesalter sind Kenntnisse über die anatomischen Besonderheiten der heranwachsenden Wirbelsäule erforderlich.

Ossifikation

Um die Fehldeutung von Apophysen als Frakturen zu verhindern, müssen die Grundsätze der Verknöcherung der Wirbelkörper beachtet werden. Der Atlas weist 3 Ossifikationszentren auf. Der dorsale Bogenschluss erfolgt um das 3. Lebensjahr herum, während der ventrale Bogenschluss um das 7. Lebensjahr herum erfolgt. Der Axis weist 4 Ossifikationszentren auf. Die Fusion erfolgt zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr. Erst um das 12. Lebensjahr herum erfolgt die Fusion mit dem Ossifikationszentrum an der Densspitze.

Merke

Synchondrosen des 2. Halswirbelkörpers am Übergang zum Dens axis werden in der Bildgebung häufig als Frakturen fehlinterpretiert.

Die Ossifikationszentren der restlichen Wirbel fusionieren mit den beiden Ossifikationszentren in den Wirbelbögen. Zunächst erfolgt die ventrale Fusion um das 5. – 6. Lebensjahr, während die dorsale Fusion der Wirbelbögen erst später erfolgt (zervikal: 6. – 7. Lebensjahr; thorakal: 7. – 9. Lebensjahr; lumbal: 9. – 10. Lebensjahr). Noch später fusionieren die Ossifikationszentren der Endplatten und der Querfortsätze (16. Lebensjahr) sowie der Dornfortsätze (25. Lebensjahr). Bis zum 8. Lebensjahr besitzen die Wirbelkörper der Brust- und Lendenwirbelsäule eine leichte Keilform.

Zwischen dem Anulus fibrosus und der Wachstumszone am Wirbelkörper liegt der Apophysenring. Die Ossifikation beginnt um das 6. Lebensjahr ([Abb. 2]). Im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule kommt es häufig zu einer Apophysenläsion, die oftmals mit einer Diskushernie verbunden ist.

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Abb. 2 Ossifikation der Apophysen ab dem 6. Lebensjahr. Zunächst bildet sich die Wirbelapophyse ringförmig aus (a1), verschmilzt aber noch nicht (a2). Wenn Apophyse und Wirbelkörper verschmelzen (b) ist die Skelettreife vervollständigt. Angepasst aus: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38.
Merke

Traumatische Läsionen der Wachstumsfugen der Wirbelkörper können Wachstumsstörungen zur Folge haben.


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Weitere Besonderheiten

Neben den genannten nicht vollständig entwickelten knöchernen Strukturen ist auch die geringer ausgebildete weichteilige Stabilisierung zu beachten. Eine noch laxe ligamentäre Stabilisierung und der noch schwache Muskelapparat treffen auf ein ungünstiges Größenverhältnis zwischen Kopf und Körper sowie auf eine horizontale zervikookzipitale Artikulation. Hierdurch kann es bei Kindern leichter zu Dislokationen kommen als bei Erwachsenen. Mit zunehmendem Alter nimmt der Neigungswinkel zwischen Kopf und Atlas zu, und die Stellung der Facettengelenke wird steiler. Neben dieser zunehmenden knöchernen Stabilität nimmt auch die muskuloligamentäre Stabilität zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr deutlich zu und ähnelt bald der des Erwachsenen.

Merke

Das Hauptbewegungssegment der Halswirbelsäule bei Kindern unter 8 Jahren ist zwischen dem 2. und 3. Halswirbelkörper.

Pseudoluxationen in diesem Bereich können deshalb bei mehr als einem Drittel aller Kinder beobachtet werden und haben zunächst keinen Krankheitswert ([Abb. 3]).

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Abb. 3 Seitliches Röntgenbild der Halswirbelsäule bei einem 35-monatigen Mädchen (a). In der Vergrößerung zeigt sich eine physiologische Pseudoluxation zwischen 2. und 3. Halswirbelkörper von < 5 mm (b).

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Erste Diagnostik

Kinder mit Verdacht auf Wirbelsäulenverletzung sollten zunächst wie mehrfachverletzte Kinder behandelt werden, da von einer großen Gewalteinwirkung auszugehen ist. Die entsprechenden Protokolle und Leitlinien geben hier eine prioritätenorientierte Diagnostik und Behandlung vor, in deren Verlauf auch die Wirbelsäule untersucht wird.

Anamnese

Auch bei voller Ansprechbarkeit sind die Anamneseerhebung und die Evaluation von Lokalisation und Ausstrahlung von Schmerzen in Abhängigkeit vom Alter deutlich erschwert. Auch der Unfallmechanismus kann durch das Kind meist nicht adäquat wiedergegeben werden. Da es sich oftmals um unbeobachtete Stürze handelt, führt hier auch die Fremdanamnese der Eltern nicht weiter.


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Klinische Untersuchung

Im Kindesalter hat die klinische Untersuchung eine hohe Sensitivität beim Erkennen von Wirbelsäulenverletzungen [13]. Im Rahmen der Inspektion der Wirbelsäule können Prellmarken und Schürfungen auf Verletzungen hinweisen. Weiterhin kann bei der Inspektion eine Fehlstellung z. B. der Halswirbelsäule auffallen.

Merke

Torticollis traumaticus bezeichnet eine Fehlstellung des Halses aufgrund eines akuten Traumas. Ursächlich kann z. B. eine rotatorische atlantoaxiale Dislokation sein.

Ist die anschließende Palpation der gesamten Wirbelsäule schmerzfrei, kann die Prüfung der Beweglichkeit folgen. Gerade bei den häufigen Verletzungen der oberen Halswirbelsäule im Kleinkindalter zeigt sich oftmals eine Einschränkung der Beweglichkeit. Ältere Kinder beschreiben bei einer Densfraktur auch oftmals ein Instabilitätsgefühl während der aktiven Bewegung oder stützen gar ihren Kopf.

Den Abschluss der klinischen Untersuchung bildet die neurologische Evaluation. Obwohl auch diese meist deutlich erschwert ist, muss versucht werden, Defizite von Sensibilität und Motorik zu erkennen.

Merke

Die Dokumentation neurologischer Defizite erfolgt auch bei Kindern am besten durch den ASIA-Score (ASIA = American Spinal Injury Association).

Bei einer vorliegenden Läsion des Apophysenrings mit begleitender Diskushernie ähnelt die beschriebene Symptomatik einer Lumboischialgie mit Radikulopathie oder Conus-cauda-Symptomatik.

Bei neurologischen Defiziten oder vorliegenden anderen Hinweise auf eine Verletzung der Wirbelsäule, die sich im Rahmen der durchgeführten klinisch orientierten Diagnostik zeigen, sollte eine weiterführende bildgebende Diagnostik durchgeführt werden. Spezielle Entscheidungshilfen können angewendet werden [14], [15].

Merke

Aus der Erwachsenenmedizin bekannte Entscheidungshilfen, ob eine weitere Bildgebung notwendig ist, wie die NEXUS-Kriterien [16] oder die Canadian C-Spine Rule [17] sind bei Kindern weniger gut anwendbar [18].


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Bildgebende Diagnostik

Röntgen Halswirbelsäule

Zunächst können Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule in 2 Ebenen mit zusätzlicher transoraler Zielaufnahme des Dens axis angefertigt werden. Bei der Durchführung ist auf die korrekte Lagerung des Kopfes zu achten; der Rumpf ist bei Kleinkindern zu unterpolstern. Die Halswirbelsäule sollte im anterior–posterioren und sagittalen Strahlengang vollständig abgebildet sein. Es erfolgt die Beurteilung des Alignments und der interpedikulären Distanz. Der Abstand zwischen Dens und Hinterhaupt (Basion) sowie der Abstand zwischen Dens und Atlas sollten jeweils kleiner als 5 mm sein. Eine Störung des Alignments zwischen 2. und 3. Halswirbelkörper von mehr als 5 mm gilt als pathologisch und sollte nicht als Pseudoluxation interpretiert werden.

Das Röntgenbild gibt eine statische Momentaufnahme wieder. Bei verbleibender Unklarheit bez. vorliegender Verletzungen kann die dynamische Durchleuchtung Klarheit bringen. Gerade bestehende Instabilitäten der Wirbelsäule können mithilfe der Durchleuchtung gut diagnostiziert und von Pseudoluxationen abgegrenzt werden ([Abb. 4]). Da diese Untersuchung bei Kindern oft in Narkose durchgeführt werden muss, handelt es sich allerdings um eine recht aufwendige Untersuchung im Vergleich zum Erwachsenen. Statische Funktionsaufnahmen in Flexion und Extension ohne Führung des Untersuchers werden nicht empfohlen [19].

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Abb. 4 Durchleuchtung der Halswirbelsäule eines 12-jährigen Mädchens in Neutralstellung (a), Extension (b) und Flexion (c) mit Instabilität zwischen 4. und 5. Halswirbelkörper.

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Röntgen Brust- und Lendenwirbelsäule

Nach einem akuten Trauma erfolgt die Röntgendiagnostik der Brust- und Lendenwirbelsäule zunächst im Liegen in jeweils 2 Ebenen. Im Verlauf können auch Aufnahmen im Stehen oder Funktionsaufnahmen durchgeführt werden.


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Kernspintomografie

Zeigen sich trotz fundiertem klinischen Verdacht in der radiologischen Bildgebung keine Hinweise auf eine Verletzung der Wirbelsäule, wird die Durchführung einer kernspintomografischen Bildgebung empfohlen. Sowohl knöcherne Verletzungen als auch diskoligamentäre Verletzungen und Rückenmarksverletzungen können hier sicher diagnostiziert oder ausgeschlossen werden. Auch diese bildgebende Untersuchung muss zumindest unter Sedierung erfolgen [20].

Die Häufigkeit der gestellten Diagnose „SCIWORA“ (siehe Infobox) geht mit der zunehmenden Qualität der kernspintomografischen Bildgebung immer weiter zurück. Immer häufiger können mittlerweile Veränderungen im Sinne eines Myelopathiesignals detektiert werden.

Infobox: SCIWORA

Eine Rückenmarksverletzung ohne Nachweis von Veränderungen in der Bildgebung nennt man SCIWORA (spinal cord injury without radiographic abnormality). Ursächlich hierfür ist die unterschiedliche Elastizität von Rückenmark und Wirbelsäule, wodurch es bei longitudinaler Distraktion, aber auch bei Hyperextension und Hyperflexion zu Verletzung des Rückenmarks kommen kann, ohne dass benachbarte knöcherne oder ligamentäre Strukturen verletzt werden.


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Computertomografie

Beim Verdacht einer vorliegenden Verletzung der Wirbelsäule wird aufgrund des Risikos durch die Strahlenbelastung [21] bei Kindern eher die Durchführung einer Kernspintomografie als einer Computertomografie empfohlen. Die wichtigste Indikation zur initialen computertomografischen Bildgebung besteht in der Durchführung einer sog. Traumaspirale bei mehrfachverletzten Kindern.


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Klassifizierung der Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter

Die seltene und oft letale atlantookzipitale Dislokation wird nach der Richtung der Dislokation eingeteilt ([Abb. 5]). Bei der deutlich häufigeren atlantoaxialen Dislokation kann die ligamentäre translatorische Dislokation von der rotatorischen Dislokation unterschieden werden ([Tab. 1]). Frakturen der ersten beiden Halswirbelkörper können nach den üblichen Klassifikationen eingeteilt werden (z. B. Gehweiler, Anderson-DʼAlonzo). Frakturen der Wirbelkörper der subaxialen Halswirbelsäule sowie der Brust- und Lendenwirbelsäule werden bei Kindern nach der Einteilung von Salter und Harris [22] klassifiziert ([Abb. 6]). Ab dem 8. – 10. Lebensjahr können dann die etablierten Klassifikationen der Wirbelfrakturen von Adulten angewendet werden [23], wie z. B. die Klassifikationssysteme der AOSpine [24], [25]. Für Apophysenverletzungen erfolgt die Einteilung nach Tahada und Epstein [26] ([Tab. 2]).

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Abb. 5 Klassifikation der atlantookzipitalen Dislokation: Normalbefund (a), Dislokation des Kopfes nach ventral (Typ I; b), nach dorsal (Typ II; c) und axial (Typ III; d). (Quelle: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38.)

Tab. 1 Einteilung der atlantoaxialen Dislokation (AAD).

ligamentäre translatorische AAD

rotatorische AAD

Ventralverschiebung des Atlas gegen den Axis durch Ruptur des Lig. transversum atlantis

Rotation des Atlas gegen den Axis mit Zerreißung des Kapsel-Band-Apparats und Gelenkluxation

Diagnostik durch Röntgen möglich

oft unauffälliges Röntgenbild

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Abb. 6 Klassifikation von Wirbelkörperfrakturen im Kindesalter nach Salter und Harris: Lösung der knorpeligen Grundplatte (Salter-Harris I; a) und Abbruch der vorderen Grundplatte (Salter-Harris III; b). (Quelle: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38)

Tab. 2 Einteilung der Dislokation bei Frakturen des Apophysenrings.

Typ

Kennzeichen

Alter

I

einfache Lösung des gesamten hinteren Randes

11 – 13

II

Randleiste mit spongiösen Anteilen des Wirbelkörpers

13 – 18

III

lateraler Teil der Randleiste mit Teilen des Wirbelkörpers

> 14

IV

Fraktur der gesamten Hinterwand zwischen den Endplatten

Merke

Als allgemeine Instabilitätskriterien von Wirbelkörperfrakturen im Kindesalter gelten: Fehlstellung in der Belastungsaufnahme, Wirbelkörperödem größer als zwei Drittel in der kernspintomografischen Bildgebung, Beteiligung einer Bandscheibe, Höhenminderung eines Wirbelkörpers um mehr als 50%, Fragmentdislokation um mehr als 2 mm, Spinalkanaleinengungen von 50%.


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Therapie

Im Vergleich zum Erwachsenen ist bei Kindern mit Verletzungen der Wirbelsäule häufiger eine konservative Therapie möglich. Alle stabilen Frakturen können prinzipiell funktionell nachbehandelt werden. Die im Kindesalter typischen Frakturen der Endplatte ([Abb. 6]) heilen unter konservativer Therapie meist folgenlos aus. Auch Verletzungen, die eine geringgradige Veränderung des physiologischen Alignments verursachen, können konservativ therapiert werden, da z. B. eine Keilwirbelbildung während des weiteren Wachstums ausgeglichen werden kann. Hier sind allerdings regelmäßige klinische und radiologische Verlaufskontrollen (z. B. nach 1, 3 sowie 6 und 26 Wochen) durchzuführen. Im Gegensatz zum Erwachsenen kann bei Kindern eine durchgeführte Laminektomie schneller zu Deformitäten führen, weshalb die Indikation streng zu stellen ist. Der Erhalt der kompletten Facettengelenke kann die Stabilität erhöhen.

Generell zeigen Kinder mit Verletzungen der Wirbelsäule ein gutes Outcome [27].

Therapie von Verletzungen der Halswirbelsäule

Die Indikation zur Stabilisierung wird vor allem bei deutlich gestörtem zervikalen Alignment gestellt. Bei Verletzungen der oberen Halswirbelsäule kann oftmals eine Therapie im Halofixateur für 8 – 10 Wochen erfolgen. Alternativ kann eine okzipitozervikale Instrumentierung Verletzungen wie die atlantookzipitale Dislokation oder Atlasfrakturen stabilisieren. Bei der translatorischen atlantoaxialen Dislokation ([Tab. 1]) empfiehlt sich eine Verschraubung des 1. und 2. Halswirbelkörpers, da die Stabilisierung im Halofixateur oftmals nicht gelingt. Auch Dens- und Axisfrakturen können mittels direkter Verschraubung stabilisiert werden. Bei komplexen Verletzungen der oberen Halswirbelsäule ([Abb. 7 a]) kann auch die kombinierte dorsoventrale Stabilisierung notwendig sein ([Abb. 7 a]). Im Verlauf wird dann die okzipitozervikale Fixierung wieder freigegeben ([Abb. 7 c]).

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Abb. 7 Computertomografische (a) und radiologische Bildgebung im sagittalen Strahlengang (b, c) eines 15-jährigen Jungen mit Atlasfraktur (a1) und Luxation zwischen 1. und 2. Halswirbelkörper (a2) sowie Luxationsfraktur zwischen 2. und 3. Halswirbelkörper (a3). Nach dorsoventraler Stabilisierung und okzipitozervikaler Fixierung (b) kann nach der knöchernen Durchbauung (c) die okzipitozervikale Beweglichkeit wieder freigegeben werden (c).
Infobox: Posttraumatisches Os odontoideum

Bei initial nicht behandelten Frakturen in der knorpeligen Wachstumszone des Dens axis kann es zur Ausbildung eines posttraumatischen Os odontoideum mit translatorischer Instabilität in sagittaler Richtung kommen. Hier sollte zunächst die Ruhigstellung in einer Orthese für 6 Wochen erfolgen. Bei persistierenden Beschwerden oder Instabilität kann im Verlauf die dorsale Verschraubung des 1. und 2. Halswirbelkörpers erfolgen.

Frakturen der subaxialen Halswirbelsäule können durch die Anlage eines Halofixateurs für 8 Wochen therapiert werden. Bei persistierender Instabilität kann auch die ventrale ([Abb. 1]) oder dorsale Stabilisierung erfolgen. Die Spontankorrektur des Alignments ist im Bereich der Halswirbelsäule weniger stark ausgeprägt als in der Brust- und Lendenwirbelsäule, weshalb hier engmaschige Verlaufskontrollen notwendig sind.


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Therapie von Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule

Beträgt die Kyphose im verletzten Segment weniger als 20°, kann eine konservative Therapie erfolgen. Hier wird eine physiotherapeutische Beübung und eine Sportkarenz von 3 Monaten empfohlen. Bei mehreren verletzten Wirbelkörpern mit Keilwirbelbildung kann die Anpassung eines Korsetts für 12 Monate erwogen werden, wenn das Kind das Risser-Stadium 2 noch nicht überschritten hat. In jedem Fall sind klinische und radiologische Verlaufskontrollen notwendig.

Bei Kindern mit einer Verletzung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit der Ausbildung einer posttraumatischen Segmentkyphose von über 20° ([Abb. 8 a]) und bei Kindern mit einem Alter über 10 Jahre ist die initiale anatomische Rekonstruktion anzustreben, da die Fähigkeit der wachstumsbedingten Spontankorrektur nicht mehr ausreichend ist. In beiden Fällen wird die dorsale Instrumentierung empfohlen ([Abb. 8 b]), die stets so kurz wie möglich gehalten werden sollte. Eine funktionelle Nachbehandlung ist möglich. Mit dieser Therapie können sehr gute Ergebnisse erzielt werden ([Abb. 8 c]). Die Spontankorrektur in der Frontalebene ist begrenzt. Bei einseitigen Kompressionsfrakturen, die eine posttraumatische Skoliose initiieren können, sollte ebenfalls frühzeitig an eine operative Stabilisierung gedacht werden [28].

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Abb. 8 Röntgenbilder im Stehen im sagittalen Strahlengang eines 10-jährigen Jungen mit Fraktur des 3. Lendenwirbelkörpers und traumatischer Kyphose > 20° (a). Nach geschlossener Reposition und perkutaner dorsaler Instrumentierung vom 2. auf den 4. Lendenwirbelkörper (b) zeigt sich im Verlauf ein Umbau des Wirbelkörpers, der nahezu seine ursprüngliche Form wieder erreicht (c).
Merke

Bei Apophysenverletzung mit begleitender Diskushernie kann die Durchführung einer Diskektomie mit Einbringen eines Bandscheibenersatzes sowie die dorsale Instrumentierung notwendig sein.


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Fazit

Bei Diagnostik und Therapie der äußerst seltenen Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter ist die genaue Kenntnis der Anatomie und Biomechanik der sich entwickelnden Wirbelsäule unabdingbar. Neben der klinisch-neurologischen Untersuchung erfolgt die Diagnostik hauptsächlich über die Bildgebung mittels Röntgen und Kernspintomografie. Häufig ist bei Kindern mit Wirbelsäulenverletzungen eine konservative Therapie möglich. Bei instabilen Verletzungen kann sowohl an der Halswirbelsäule als auch an der Brust- und Lendenwirbelsäule eine operative Stabilisierung indiziert sein.


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Autorinnen/Autoren

Michael Kreinest

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Dr. med. Dr. rer. nat., Koordinator des Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, BG Klinik Ludwigshafen

Sven Y. Vetter

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Dr. med., Leiter der Sektion Wirbelsäulenchirurgie der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie und Leiter des Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, BG Klinik Ludwigshafen

Paul A. Grützner

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Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Ludwigshafen

Klaus Wendl

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Dr. med., Stv. Leiter der Sektion Wirbelsäulenchirurgie der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Ludwigshafen

Stefan Matschke

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Dr. med., Praxis für Wirbelsäulenchirurgie, ATOS Klinik Heidelberg

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Dr. Michael Kreinest
Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie
BG Klinik Ludwigshafen
Ludwig-Guttmann-Straße 13
67071 Ludwigshafen
Phone: 06 21/68 100   
Fax: 06 21/68 10 34 56   


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Abb. 1 16-jähriger Junge mit Luxationsfraktur des 6. und 7. Halswirbelkörpers (a) mit neurologischem Defizit. Stabilisation durch ventrale Spondylodese des 6. und 7. Halswirbelkörpers mit Beckenkammblock und ventraler Plattenosteosynthese (b1 und b2).
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Abb. 2 Ossifikation der Apophysen ab dem 6. Lebensjahr. Zunächst bildet sich die Wirbelapophyse ringförmig aus (a1), verschmilzt aber noch nicht (a2). Wenn Apophyse und Wirbelkörper verschmelzen (b) ist die Skelettreife vervollständigt. Angepasst aus: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38.
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Abb. 3 Seitliches Röntgenbild der Halswirbelsäule bei einem 35-monatigen Mädchen (a). In der Vergrößerung zeigt sich eine physiologische Pseudoluxation zwischen 2. und 3. Halswirbelkörper von < 5 mm (b).
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Abb. 4 Durchleuchtung der Halswirbelsäule eines 12-jährigen Mädchens in Neutralstellung (a), Extension (b) und Flexion (c) mit Instabilität zwischen 4. und 5. Halswirbelkörper.
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Abb. 5 Klassifikation der atlantookzipitalen Dislokation: Normalbefund (a), Dislokation des Kopfes nach ventral (Typ I; b), nach dorsal (Typ II; c) und axial (Typ III; d). (Quelle: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38.)
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Abb. 6 Klassifikation von Wirbelkörperfrakturen im Kindesalter nach Salter und Harris: Lösung der knorpeligen Grundplatte (Salter-Harris I; a) und Abbruch der vorderen Grundplatte (Salter-Harris III; b). (Quelle: Nau C, Rose S, Laurer H et al. Wirbelsäulenverletzungen im Kindesalter. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2010; 5: 23 – 38)
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Abb. 7 Computertomografische (a) und radiologische Bildgebung im sagittalen Strahlengang (b, c) eines 15-jährigen Jungen mit Atlasfraktur (a1) und Luxation zwischen 1. und 2. Halswirbelkörper (a2) sowie Luxationsfraktur zwischen 2. und 3. Halswirbelkörper (a3). Nach dorsoventraler Stabilisierung und okzipitozervikaler Fixierung (b) kann nach der knöchernen Durchbauung (c) die okzipitozervikale Beweglichkeit wieder freigegeben werden (c).
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Abb. 8 Röntgenbilder im Stehen im sagittalen Strahlengang eines 10-jährigen Jungen mit Fraktur des 3. Lendenwirbelkörpers und traumatischer Kyphose > 20° (a). Nach geschlossener Reposition und perkutaner dorsaler Instrumentierung vom 2. auf den 4. Lendenwirbelkörper (b) zeigt sich im Verlauf ein Umbau des Wirbelkörpers, der nahezu seine ursprüngliche Form wieder erreicht (c).