Im Sinne einer familienzentrierten Pflegepraxis sollten Angehörige ihre Besuche möglichst
flexibel gestalten können. (Quelle: Paavo Blåfield)
Wenn ein geliebter Mensch kritisch krank auf einer Intensivstation medizinisch und
pflegerisch durch ein interprofessionelles Team versorgt wird, so durchleben Familienangehörige
diese krisenhafte Zeit oftmals in ständiger Angst und Sorge um diesen Menschen. Hilflosigkeit
und Anspannung bis hin zu psychosomatischen Begleiterscheinungen können die Folgen
sein. Zudem steigt der emotionale Stress in der ihnen unbekannten Welt der Intensivstation
voller neuer Sinneseindrücke, die von einer unbekannten Geräuschkulisse begleitet
sind, der Geschäftigkeit und einer hochtechnisierten Umgebung, von der sie eingeschüchtert
und überwältigt werden können – und mittendrin ihr krankes, optisch verändertes Familienmitglied.
Die nicht selten vorherrschenden Besuchsregelungen und die räumliche Trennung von
ihrem kranken Familienmitglied führen oftmals dazu, dass Familienangehörige nur Momentaufnahmen
wahrnehmen und sie nur eine ungenaue Zustandsbeurteilung erfassen können. [1]
Auf vielen Intensivstationen herrscht trotz neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse
zur Angehörigenintegration noch immer ein reglementierter Besucherzugang, der häufig
begrenzt ist auf eine bestimmte Uhrzeit und die Dauer der Besuche. Dies führt dazu,
dass Familienangehörige nicht nach ihren individuellen Bedürfnissen ihre schwerstkranken
Familienmitglieder besuchen und Besuche nur von kurzer Dauer sein können. In einer
qualitativen pflegewissenschaftlichen Studie belegte Metzing [2], dass gerade Intensivpatienten die Anwesenheit von Angehörigen als „überlebenswichtig“
erleben. Somit lässt sich der Rückschluss ziehen, dass Patienten von der Anwesenheit
der Familie profitieren.
Im folgenden Beitrag soll ein Blick auf die Besuchsregelungen auf Intensivstationen
in deutschen Krankenhäusern fallen. Hierbei werden Ideen zur Umsetzung für die Handlungspraxis
im Umgang mit Angehörigen, speziell die der Besuchsregelung herausgearbeitet. Diese
sind nicht nur für eine familienzentrierte Pflegepraxis von Bedeutung, sondern auch
für die Organisationsweiterentwicklung im Rahmen von Organisationsgestaltung wertvoll.
Problemlage
Betrachtet man die insgesamt 2.162.221 intensivmedizinischen bzw. intensivpflegerischen
Behandlungsfälle aus dem Jahr 2016 in deutschen Krankenhäusern, erhält man einen Einblick,
wie viele Familien und Angehörige ebenfalls von dieser lebensbedrohlichen Krise des
einzelnen Intensivpatienten betroffen sind. [3] Um dieser großen Zahl der betroffenen Angehörigen und den damit verbundenen möglicherweise
traumatischen Begleiterscheinungen präventiv zu begegnen, ist eine Auseinandersetzung
mit der Thematik der Besuchsregelung auf Intensivstationen im Sinne einer Reflexion
und Rekonstruktion bestehender Handlungspraxis von Krankenhäusern nötig.
Besucherregelung auf Intensivstationen
Besucherregelung auf Intensivstationen
Eine deutschlandbezogene quantitative Befragung aus dem Jahr 2005 ergab, dass rund
88 % der Befragten einen reglementierten Besucherzugang zur Intensivstation erhielten.
Von den befragten Pflegenden sind rund 75 % mit dem vorhandenen reglementierten Besucherzugang
einverstanden, wobei 9 % dieser Befürworter die Reglementierung strikt einhalten.
Somit ergibt sich, dass rund 88 % der Befürworter situativ von der Reglementierung
abweichen, beispielsweise bei unvereinbaren Arbeitszeiten der Angehörigen oder kritischen
Situationen, insbesondere in der Sterbephase oder beim Tod eines Patienten. [2] „Die Aussage ,Wenn Angehörige sehr drängen, gebe ich nach und lasse sie rein‘ wurde
von fast 58 % der Pflegenden bestätigt. Nur 42 % gaben an, auch bei Drängen der Angehörigen
nicht nachzugeben.“ [2]
Willkommenskultur etablieren
Willkommenskultur etablieren
Das Forschungsprojekt „Angehörige jederzeit willkommen!“ der Stiftung Pflege e. V.
setzt sich für eine stärkere Einbeziehung von Familienangehörigen als Teil des therapeutischen
Konzepts im stationären intensivmedizinischen/-pflegerischen Kontext im Rahmen einer
„Angehörigenfreundlichen Intensivstation“ auf Basis von pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen
ein. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die flexible und individuelle Gestaltung der
Besuchszeiten und Besuchsdauern für Angehörige von Intensivpatienten.
Bei der flexiblen Gestaltung der Besuchszeiten können im Hinblick auf das Warten vor
der Intensivstation präzisere Absprachen bzw. Kooperationen zwischen Pflegenden und
Angehörigen mögliche Wartezeiten verkürzen oder diesen entgegenwirken. Hierbei können
Angehörige von Pflegenden dahingehend beraten werden, dass diese sich vor einem geplanten
Besuch des kranken Familienmitgliedes von zu Hause telefonisch ankündigen und Pflegende
ggf. wichtige Hinweise geben, ob der Besuch in Hinblick auf mögliche medizinische
oder pflegerische Maßnahmen sinnvoll ist oder dieser zu einem anderen Zeitpunkt möglicherweise
sinnvoller wäre. Diese und andere wichtige Informationen – etwa zum Stationsablauf
einschließlich Visitenzeiten, zu wichtigen Telefonnummern, den wichtigsten medizinischen
Geräten, Hinweise zu einer möglichen verlängerten Zeitwahrnehmung wegen unvermeidbarer
Wartezeiten und wie Angehörige den Patienten unterstützen können – können beispielsweise
in einem Informationsflyer für Angehörige zusammengefasst dargestellt werden, der
ihnen zusätzliche Orientierung gibt. Durch diese und andere Maßnahmen, die Familienangehörige
zum Teil des therapeutischen Konzepts machen und durch die eine „Willkommenskultur“
sichtbar wird, können Intensivstationen ein Qualitätszertifikat „Angehörige jederzeit
willkommen“ durch die Stiftung Pflege e. V. verliehen bekommen, das drei Jahre gültig
ist. [4] Im Rahmen der Qualitätsentwicklung, insbesondere der Organisationsweiterentwicklung
auf strategischer Ebene im Sinne der Corporate Identity eines Unternehmens, könnte
solch ein Qualitätszertifikat zusätzlich die Außenwahrnehmung eines Unternehmens stärken.
Impulse zum Aufbau und Umsetzung
Impulse zum Aufbau und Umsetzung
Wenn Angehörige nicht nur als „Besucher“ gesehen werden, sondern als Teil des therapeutischen
Konzepts, können durch das Herstellen von Nähe zu ihrem kranken Familienmitglied Ängste
abgebaut und Bewältigungsressourcen der Angehörigen durch Wertschätzung vonseiten
der Akteure einer Intensivstation gestärkt werden.
Eine Möglichkeit, um eine Angehörigenintegration im Sinne einer „Angehörigenfreundlichen
Intensivstation“ vor dem Hintergrund der Praxisentwicklung innovativ aufzubauen und
stetig weiterzuentwickeln, sind stationsinterne Arbeitskreise im Sinne eines Projekts
in Kooperation mit dem hausinternen Qualitätsmanagement, die sich mit der konzeptionellen
Gestaltung und Durchführung befassen. Mögliche Themen könnten hier sein: Ist-Analyse
sowie Problemanalyse der vorherrschenden Besuchsregelung, Erarbeitung und Auswertung
einer stationsinternen Befragung der Pflegekräfte zum betreffenden Thema, Gestaltung
eines Konzepts mit Einbeziehung von Pflegemanagement und Geschäftsführung, Einführung
möglicher weiterer Konzepte (z. B. aktives Angehörigentelefonat [5], strukturierte Familienkonferenzen, Krisenintervention), Gestaltung von Informationsmaterial
und Gestaltung des Besucherbereichs.
Innerhalb eines Pflegeteams könnte ein Familienfürsprecher als Prozessverantwortlicher
benannt werden, der sich speziell um die „[…] Vorbereitung und Nachbesprechung der
Besuche […]“, das Erstellen von strukturiertem themenbezogenen Informationsmaterial
bzw. Besucherbroschüren (z. B. Warten vor der Intensivstation/Zeitwahrnehmung) und
die bedarfs- und bedürfnisbezogene Beratung von betroffenen Familien kümmert. Der
Familienfürsprecher könnte darüber hinaus im Sinne der Personalentwicklung interne
Fortbildungen zu „familienrelevanten Themen“ in Bezug auf neuste wissenschaftliche
Erkenntnisse der „Familien(pflege)forschung“ vor dem Hintergrund der Personalentwicklung
planen und durchführen. [6]
Empfehlungen
Damit Pflegende im Sinne einer „Willkommenskultur“ Angehörige besser integrieren und
damit Ängste, Unsicherheiten und Hilflosigkeit sowie ferner die Gefahr einer posttraumatischen
Belastungsstörung verringert werden können, braucht es eine Konsensentscheidung über
Veränderungen der strukturellen Rahmenbedingungen innerhalb des Teams und der Managementebene,
inwieweit eine Willkommenskultur erarbeitet wird. Nur so kann eine Akzeptanz und Motivation
vonseiten der Pflegenden zu einer effektiven Angehörigenintegration und zu einer umfassenden
Willkommenskultur führen. Auf Basis einer einheitlichen Entscheidung könnte ein Konzept
im Rahmen von Qualitätszirkeln oder Projektmanagement für die Angehörigenintegration
vor dem Hintergrund einer „Angehörigenfreundlichen Intensivstation“ innerhalb der
jeweiligen Organisation erarbeitet werden. Nicht zuletzt kann sich eine gelungene
Willkommenskultur auch auf die Außenwirkung eines Unternehmens positiv auswirken.