intensiv 2018; 26(04): 180-182
DOI: 10.1055/a-0594-1817
Intensivpflege
Besuchsregelungen
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Wege zu einer „Angehörigenfreundlichen Intensivstation“

Stefanie Voß
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Publication Date:
06 July 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Die Besuchszeiten sind auf den meisten Intensivstationen streng reglementiert. Das widerspricht nicht nur den Bedürfnissen der Angehörigen, sondern wirkt sich auch negativ auf den Genesungsprozess der Patienten aus. Dabei ist es gar nicht so schwierig, die Besuchsregelungen flexibel und individuell zu gestalten.


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Im Sinne einer familienzentrierten Pflegepraxis sollten Angehörige ihre Besuche möglichst flexibel gestalten können. (Quelle: Paavo Blåfield)

Wenn ein geliebter Mensch kritisch krank auf einer Intensivstation medizinisch und pflegerisch durch ein interprofessionelles Team versorgt wird, so durchleben Familienangehörige diese krisenhafte Zeit oftmals in ständiger Angst und Sorge um diesen Menschen. Hilflosigkeit und Anspannung bis hin zu psychosomatischen Begleiterscheinungen können die Folgen sein. Zudem steigt der emotionale Stress in der ihnen unbekannten Welt der Intensivstation voller neuer Sinneseindrücke, die von einer unbekannten Geräuschkulisse begleitet sind, der Geschäftigkeit und einer hochtechnisierten Umgebung, von der sie eingeschüchtert und überwältigt werden können – und mittendrin ihr krankes, optisch verändertes Familienmitglied. Die nicht selten vorherrschenden Besuchsregelungen und die räumliche Trennung von ihrem kranken Familienmitglied führen oftmals dazu, dass Familienangehörige nur Momentaufnahmen wahrnehmen und sie nur eine ungenaue Zustandsbeurteilung erfassen können. [1]

Auf vielen Intensivstationen herrscht trotz neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Angehörigenintegration noch immer ein reglementierter Besucherzugang, der häufig begrenzt ist auf eine bestimmte Uhrzeit und die Dauer der Besuche. Dies führt dazu, dass Familienangehörige nicht nach ihren individuellen Bedürfnissen ihre schwerstkranken Familienmitglieder besuchen und Besuche nur von kurzer Dauer sein können. In einer qualitativen pflegewissenschaftlichen Studie belegte Metzing [2], dass gerade Intensivpatienten die Anwesenheit von Angehörigen als „überlebenswichtig“ erleben. Somit lässt sich der Rückschluss ziehen, dass Patienten von der Anwesenheit der Familie profitieren.

Im folgenden Beitrag soll ein Blick auf die Besuchsregelungen auf Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern fallen. Hierbei werden Ideen zur Umsetzung für die Handlungspraxis im Umgang mit Angehörigen, speziell die der Besuchsregelung herausgearbeitet. Diese sind nicht nur für eine familienzentrierte Pflegepraxis von Bedeutung, sondern auch für die Organisationsweiterentwicklung im Rahmen von Organisationsgestaltung wertvoll.

Problemlage

Betrachtet man die insgesamt 2.162.221 intensivmedizinischen bzw. intensivpflegerischen Behandlungsfälle aus dem Jahr 2016 in deutschen Krankenhäusern, erhält man einen Einblick, wie viele Familien und Angehörige ebenfalls von dieser lebensbedrohlichen Krise des einzelnen Intensivpatienten betroffen sind. [3] Um dieser großen Zahl der betroffenen Angehörigen und den damit verbundenen möglicherweise traumatischen Begleiterscheinungen präventiv zu begegnen, ist eine Auseinandersetzung mit der Thematik der Besuchsregelung auf Intensivstationen im Sinne einer Reflexion und Rekonstruktion bestehender Handlungspraxis von Krankenhäusern nötig.


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Besucherregelung auf Intensivstationen

Eine deutschlandbezogene quantitative Befragung aus dem Jahr 2005 ergab, dass rund 88 % der Befragten einen reglementierten Besucherzugang zur Intensivstation erhielten. Von den befragten Pflegenden sind rund 75 % mit dem vorhandenen reglementierten Besucherzugang einverstanden, wobei 9 % dieser Befürworter die Reglementierung strikt einhalten. Somit ergibt sich, dass rund 88 % der Befürworter situativ von der Reglementierung abweichen, beispielsweise bei unvereinbaren Arbeitszeiten der Angehörigen oder kritischen Situationen, insbesondere in der Sterbephase oder beim Tod eines Patienten. [2] „Die Aussage ,Wenn Angehörige sehr drängen, gebe ich nach und lasse sie rein‘ wurde von fast 58 % der Pflegenden bestätigt. Nur 42 % gaben an, auch bei Drängen der Angehörigen nicht nachzugeben.“ [2]


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Willkommenskultur etablieren

Das Forschungsprojekt „Angehörige jederzeit willkommen!“ der Stiftung Pflege e. V. setzt sich für eine stärkere Einbeziehung von Familienangehörigen als Teil des therapeutischen Konzepts im stationären intensivmedizinischen/-pflegerischen Kontext im Rahmen einer „Angehörigenfreundlichen Intensivstation“ auf Basis von pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ein. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die flexible und individuelle Gestaltung der Besuchszeiten und Besuchsdauern für Angehörige von Intensivpatienten.

Bei der flexiblen Gestaltung der Besuchszeiten können im Hinblick auf das Warten vor der Intensivstation präzisere Absprachen bzw. Kooperationen zwischen Pflegenden und Angehörigen mögliche Wartezeiten verkürzen oder diesen entgegenwirken. Hierbei können Angehörige von Pflegenden dahingehend beraten werden, dass diese sich vor einem geplanten Besuch des kranken Familienmitgliedes von zu Hause telefonisch ankündigen und Pflegende ggf. wichtige Hinweise geben, ob der Besuch in Hinblick auf mögliche medizinische oder pflegerische Maßnahmen sinnvoll ist oder dieser zu einem anderen Zeitpunkt möglicherweise sinnvoller wäre. Diese und andere wichtige Informationen – etwa zum Stationsablauf einschließlich Visitenzeiten, zu wichtigen Telefonnummern, den wichtigsten medizinischen Geräten, Hinweise zu einer möglichen verlängerten Zeitwahrnehmung wegen unvermeidbarer Wartezeiten und wie Angehörige den Patienten unterstützen können – können beispielsweise in einem Informationsflyer für Angehörige zusammengefasst dargestellt werden, der ihnen zusätzliche Orientierung gibt. Durch diese und andere Maßnahmen, die Familienangehörige zum Teil des therapeutischen Konzepts machen und durch die eine „Willkommenskultur“ sichtbar wird, können Intensivstationen ein Qualitätszertifikat „Angehörige jederzeit willkommen“ durch die Stiftung Pflege e. V. verliehen bekommen, das drei Jahre gültig ist. [4] Im Rahmen der Qualitätsentwicklung, insbesondere der Organisationsweiterentwicklung auf strategischer Ebene im Sinne der Corporate Identity eines Unternehmens, könnte solch ein Qualitätszertifikat zusätzlich die Außenwahrnehmung eines Unternehmens stärken.


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Impulse zum Aufbau und Umsetzung

Wenn Angehörige nicht nur als „Besucher“ gesehen werden, sondern als Teil des therapeutischen Konzepts, können durch das Herstellen von Nähe zu ihrem kranken Familienmitglied Ängste abgebaut und Bewältigungsressourcen der Angehörigen durch Wertschätzung vonseiten der Akteure einer Intensivstation gestärkt werden.

Eine Möglichkeit, um eine Angehörigenintegration im Sinne einer „Angehörigenfreundlichen Intensivstation“ vor dem Hintergrund der Praxisentwicklung innovativ aufzubauen und stetig weiterzuentwickeln, sind stationsinterne Arbeitskreise im Sinne eines Projekts in Kooperation mit dem hausinternen Qualitätsmanagement, die sich mit der konzeptionellen Gestaltung und Durchführung befassen. Mögliche Themen könnten hier sein: Ist-Analyse sowie Problemanalyse der vorherrschenden Besuchsregelung, Erarbeitung und Auswertung einer stationsinternen Befragung der Pflegekräfte zum betreffenden Thema, Gestaltung eines Konzepts mit Einbeziehung von Pflegemanagement und Geschäftsführung, Einführung möglicher weiterer Konzepte (z. B. aktives Angehörigentelefonat [5], strukturierte Familienkonferenzen, Krisenintervention), Gestaltung von Informationsmaterial und Gestaltung des Besucherbereichs.

Innerhalb eines Pflegeteams könnte ein Familienfürsprecher als Prozessverantwortlicher benannt werden, der sich speziell um die „[…] Vorbereitung und Nachbesprechung der Besuche […]“, das Erstellen von strukturiertem themenbezogenen Informationsmaterial bzw. Besucherbroschüren (z. B. Warten vor der Intensivstation/Zeitwahrnehmung) und die bedarfs- und bedürfnisbezogene Beratung von betroffenen Familien kümmert. Der Familienfürsprecher könnte darüber hinaus im Sinne der Personalentwicklung interne Fortbildungen zu „familienrelevanten Themen“ in Bezug auf neuste wissenschaftliche Erkenntnisse der „Familien(pflege)forschung“ vor dem Hintergrund der Personalentwicklung planen und durchführen. [6]


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Empfehlungen

Damit Pflegende im Sinne einer „Willkommenskultur“ Angehörige besser integrieren und damit Ängste, Unsicherheiten und Hilflosigkeit sowie ferner die Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung verringert werden können, braucht es eine Konsensentscheidung über Veränderungen der strukturellen Rahmenbedingungen innerhalb des Teams und der Managementebene, inwieweit eine Willkommenskultur erarbeitet wird. Nur so kann eine Akzeptanz und Motivation vonseiten der Pflegenden zu einer effektiven Angehörigenintegration und zu einer umfassenden Willkommenskultur führen. Auf Basis einer einheitlichen Entscheidung könnte ein Konzept im Rahmen von Qualitätszirkeln oder Projektmanagement für die Angehörigenintegration vor dem Hintergrund einer „Angehörigenfreundlichen Intensivstation“ innerhalb der jeweiligen Organisation erarbeitet werden. Nicht zuletzt kann sich eine gelungene Willkommenskultur auch auf die Außenwirkung eines Unternehmens positiv auswirken.


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Stefanie Voß

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Gesundheits- und Krankenpflegerin, Studium des Pflege- und Case Management B.Sc. (Frankfurt University of Applied Sciences), Stabstelle Pflegequalität, langjährige Erfahrungen in der klinischen Intensivpflege. Ab Ende 2017 Studium der Pflegewissenschaft M.Sc. an der Universität Witten/Herdecke.


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Im Sinne einer familienzentrierten Pflegepraxis sollten Angehörige ihre Besuche möglichst flexibel gestalten können. (Quelle: Paavo Blåfield)