Aktuelle Dermatologie 2018; 44(07): 310-315
DOI: 10.1055/a-0608-6517
Übersicht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Artefakte in der Dermatologie – erkennen und dann?

Artificial Disorders in Dermatologic Patients – Identification and then?
G. Rapp
Hautklinik Bad Cannstatt, Stuttgart
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. Gabriele Rapp
Hautklinik Bad Cannstatt
Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart

Publication History

Publication Date:
02 July 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Selbstverletzendes Verhalten, welches verschiedene Aspekte beinhaltet, wird als nichtsuizidales, (fast immer) bewusstes Verhalten mit direktem Schaden an der Haut beschrieben. Selbstverletzungen sind ein häufiges Phänomen unter Jugendlichen, insbesondere während der Pubertät. Jedoch auch unter Erwachsenen ist die Prävalenz des selbstverletzenden Verhaltens höher als angenommen. Dermatologen sehen sich somit regelmäßig mit diesen Krankheitsbildern konfrontiert und sollten sich des schweren psychologischen Leids, das meist hinter dem Verhalten steckt, bewusst sein. Eine reine Behandlung der Haut wird dem Leid nicht gerecht. Die Basis der Behandlung stellt die Arzt-Patient-Beziehung dar. Oft ist ein multidisziplinärer Ansatz für die Behandlung der verschiedenen Arten des selbstverletzenden Verhaltens notwendig.


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Abstract

Self-inflicted skin lesions, which include several aspects of behaviour to the skin, is described as a non-suicidal, conscious and direct damage to the skin. Self-injury is a common phenomenon among adolescents and young adults, especially in regard to patients during puberty. But also amongst adults self-inflicted skin lesions (SILS) are more prevalent than previously believed. Dermatologists are therefore regularly called upon to treat patients with symptoms of SISL and should be aware of the psychological suffering that generally underlies this behavior. Simply treating the skin lesions does not deal with the suffering. The basis is the patient-doctor relationship. Often a multidisciplinary approach is required for the management of the different types of SISL.


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Selbstverletzendes Verhalten

Epidemiologie und Vorkommen

Die Häufigkeit für selbstverletzendes Verhalten (SVV) wird mit 1,4 % bis 4 % im Erwachsenenalter, im Jugendalter mit 17,2 %, angegeben [1]. Im Vergleich dazu liegt die Prävalenz der atopischen Dermatitis im Erwachsenenalter bei ca. 2 – 3 % [5].

Das Verhalten tritt also häufig und insbesondere während der ohnehin emotional oft sehr angespannten Phase der Pubertät im Alter von 12 bis 14 Jahren (verlorene Liebe, Aggression gegen Eltern etc.) auf [2]. Die Ursachen bzw. Gründe werden dennoch vorwiegend in der Kindheit gesucht. Innere Konflikte, die dort nicht ausgetragen werden konnten, bzw. Strukturen zur emotionalen Verarbeitung dieser Konflikte, die nicht entwickelt werden konnten, und körperliche wie emotionale Traumatisierungen können in der Pubertät hervorbrechen und von manchen als SVV „bearbeitet“ bzw. wiederbelebt werden. Vorwiegend sind weibliche Personen von SVV betroffen. Die Angaben schwanken stark zwischen 3:1 und 9:1 (Frauen : Männer). Lediglich in der Gruppe der Simulationen sind Männer häufiger betroffen.

Wer an SVV leidet, hat im Erwachsenenalter ein erhöhtes Risiko, Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen zu entwickeln, ohne Arbeit zu sein oder in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken [4].

Selbstverletzendes Verhalten ist keine eigenständige Entität [2] und kann als Symptom im Rahmen folgender Erkrankungen/Umstände auftreten: Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe auch Parasuizid), fetales Alkoholsyndrom, Depressionen, Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimie, Adipositas, Missbrauchserfahrungen, Deprivation (Entzug von Zuwendung und „Nestwärme“), Traumatisierung, während der Pubertät, Kontrollverlust, Zwangsstörungen, schwere Zurücksetzungen und Demütigungen, psychotische oder schizophrene Schübe und ähnliche seelische Störungen.


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Einteilung

Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV), autoaggressivem Verhalten oder auch Artefakthandlung beschreibt man eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich oder auch unbewusst im Rahmen dissoziativer Zustände Verletzungen oder Wunden zufügen. Differenziert werden kann zwischen folgenden Gruppierungen, die Übergänge können fließend sein:

  1. Offene Selbstverletzung (benignes Artefaktsyndrom, Paraartefakte, nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten): Der Betroffene weiß, dass er selbst sich die Verletzungen beigebracht hat.
    Compulsive spectrum: Hierzu gehören Dermatosen wie z. B. das Skin Picking (früher auch als neurotische Exkoriation bezeichnet, aufgenommen in der DSM-V-Klassifikation), die Akne excoriee, Morsicatio buccarum, Cheilitis facticia, Pseudo-knuckle-Pads, Onychophagie, Onychotillomanie, Onychotemnomanie, Trichotillomanie, Trichoteiromanie [3].
    Impulsive spectrum: Bei den Jugendlichen werden die Selbstverletzungen durch die Kinder- und Jugendpsychiater auch als Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSVV) bezeichnet [2]. Hierbei handelt es sich um ein Symptom und nicht um eine eigenständige Entität. Das NSVV zeigt sich vorwiegend in Ritzen, Schneiden, Verbrennen (Zigaretten) usw.
    Als Hautärzte sehen wir diese Patientengruppen relativ häufig. Die Handlungen dienen meist der Affekt- bzw. Spannungsregulation. Es ist dem Patient nicht möglich, trotz besseren Wissens dem Impuls zu widerstehen, eine Handlung auszuführen, die schädlich für die Person selbst ist. Die Patienten beschreiben oft ein ansteigendes Gefühl von Spannung oder Erregung vor Durchführung der Handlung. Während der Handlung kann ein Erleben von Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung auftreten. Nach der Handlung können Reue, Selbstvorwürfe oder auch Schuld- bzw. Schamgefühle sich einfinden. Personen mit selbstverletzendem Verhalten erleben unangenehme Gefühle wie Angst, Schuld oder Traurigkeit intensiver, nehmen aber positive Emotionen wie Heiterkeit weniger deutlich wahr. Diesem Erleben stehen wenige Möglichkeiten zur Selbstberuhigung und eine starke Tendenz gegenüber, sich nicht mit den Problemen, die solche Gefühle hervorrufen, auseinandersetzen zu können. Oft besteht auch ein Defizit darin, Emotionen nach außen zu zeigen oder in Worte zu fassen [1].
    Der Patient kann zumeist das Verhalten einer Vertrauensperson gegenüber zugeben.
    Die Erkrankung, insbesondere das NSSV, beginnt mehrheitlich zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr, das am häufigsten genannte Alter ist 13. Diese leichteren Verlaufsformen (benigne Artefaktkrankheit) führen vorwiegend zu folgenlos ausheilenden Manipulationsformen. Z. T. handelt es sich auch um Gelegenheitsartefakte in umschriebenen Auslösesituationen (insbesondere Pubertät). I. d .R. besteht eine stabile Lebenssituation, eine Psychotherapie ist möglich (siehe Fallbeispiel 1).

  2. Artifizielle Störung (Artefakte im eigentlichen Sinne) [7] [10]: Durch heimliche Manipulation bestimmter Körperteile oder Körperfunktionen werden Problembereiche eröffnet, die multiplen ärztlichen Maßnahmen ausgesetzt werden. Auf diese Weise wird eine Aufnahme in ein Krankenhaus mit entsprechenden meist invasiven diagnostischen und operativen Maßnahmen erreicht.
    Patienten mit einer artifiziellen Störung sind im Durchschnitt 30 – 40 Jahre alt und überwiegend in Helferberufen tätig (Krankenschwestern, Schwesterhelferinnen, in Laborberufen Beschäftigte, Medizinstudenten, fast nie Ärzte).
    Die Motivation besteht – oberflächlich gesehen – scheinbar darin, die Patientenrolle anzunehmen, und sie ist nicht von äußeren Anreizen, z. B. finanziellem Gewinn, geprägt. Die tieferen Gründe sind zunächst schwer zu verstehen. Es handelt sich meist um das Leiden an einer missbrauchenden Beziehung zum eigenen Körper, welche in einer sado-masochistischen Beziehung zum Arzt inszeniert wird. Dabei handelt es sich um ein zwanghaftes Verhalten, denn die Patienten können in 80 % der Fälle das Verhalten nicht beenden. Meist sind diese Patienten schwer traumatisiert. Die autoaggressiven Handlungen können als Reinszenierung der biografischen Traumatisierung verstanden werden. Die Organ- bzw. Symptomwahl wird sowohl von äußeren, praktischen als auch von inneren, unbewussten Einflüssen bestimmt und kann eine dem Patienten unbewusste symbolische Bedeutung aufweisen. So können z. B. Harnblasenartefakte mit der Folge multipler, vom Arzt durchgeführter Zystoskopien als eine eher unbewusste sexuelle Symbolik verstanden werden. Andere Artefaktformen bleiben zunächst rätselhaft, da es für sie keine allgemein nachvollziehbaren Assoziationen gibt (z. B. artifizielle Insulinkomata, Strangulationsödeme, artifizielle Thyreotoxikosen usw.). Die oft mehrschichtige Bedeutung erschließt sich erst in der analytischen Therapie, sofern durchführbar.
    Z. T. findet das SVV im Rahmen dissoziativer Zustände statt und ist in diesem Falle den Patienten somit nicht bewusst.
    Die klinischen Erscheinungsbilder sind vielschichtig und abhängig von der Manipulationsmethode [8] [9].

    • Manipulation von Infekten: Abszesse, Wundheilungsstörungen, Fiebererzeugung durch Injektion von Bakterienkulturen, Fäkalien, Blumenwasser, Urin, Speichel, Milch …

    • Manipulation von Blutungen: mechanische Schleimhautverletzung, Gerinnungsstörung durch Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten, Anämie durch Aderlass …

    • Medikamentenmanipulationen: Diuretikaeinnahme mit der Folge von Elektrolytstörungen oder Ödembildung, Thyreotoxikosen bei Einnahme von Schilddrüsenhormonen, Einnahme von Laxanzien oder Enteritis erzeugenden Chemikalien …

    • Mechanische Manipulationen: Strangulation mit Ödembildung, trophischen Störungen, Gangrän, Klopf- und Schlagartefakte, Unfallinszenierungen, thermische Manipulationen (Verbrennungen) …

    • Schildern alarmierender Schmerzsymptome: herzbezogene Thoraxschmerzen, akute Bauchschmerzen, Gelenkschmerzen, akute Unterbauchschmerzen an blinddarmtypischer Stelle, gynäkologische Schmerzen …

    • Beschreibung angeblich beobachteter Alarmsymptome: epileptische Anfälle, Bluthusten, Kopfschmerzattacken mit Bewusstlosigkeit, Herzrhythmusstörungen, Lähmungen, akute Halbseitensymptomatik …

    • Manipulation von Messwerten: Thermometermanipulation, Elektrodenmanipulation in der EKG-Ableitung, Blutschlucken mit der Folge scheinbarer Teerstühle …

    Die extrem schweren Krankheitsverläufe werden auch als maligne Artefaktkrankheit bezeichnet, u. a. wenn multiple, lebensbedrohliche oder verstümmelnde Manipulationen oder Manipulationsfolgen vorliegen. Zu diesen Verläufen zählen auch die Patienten, bei denen ärztliche Eingriffe wie Amputationen durchgeführt werden oder zusätzliche Begleitsymptome (Unfälle, operationssüchtiges Agieren, Suchtentwicklung usw.) vorhanden sind. Bei diesen schweren Erkrankungsformen fehlen stabile Lebensepisoden und es zeigen sich eine soziale Entwurzelung mit einer Reduktion auf die Artefaktkrankheit als Lebensinhalt, ein Verlust des Arbeitsplatzes sowie der Familien- und Sozialbindungen. Meist besteht keinerlei Zugang zu psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung (siehe Fallbeispiel 2).

  3. Simulation [8]: Selbstverletzungen werden bewusst zu einem bestimmten Zweck durchgeführt, z. B. um an einer Klassenarbeit nicht teilnehmen zu müssen, um bedauert zu werden oder um eine Rente zu erreichen. In dieser Gruppe überwiegen die Männer. Beispiel: Bauarbeiter mit Hautläsionen durch ständiges absichtliches Eintauchen der Hände in flüssigen Beton ohne Schutzmaßnahmen mit zahlreichen Arbeitsunfähigkeitszeiten von verschiedenen Ärzten und Berufsunfähigkeitsbegehren.

Fallbeispiel 1

Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter ([Abb. 1 – 3])

16-jährige Patientin mit über mehrere Wochen immer wieder neu auftretenden, therapieresistenten Hautveränderungen, lediglich an der Körpervorderseite auftretend.

In der Exploration zeigten sich keine offensichtlichen psychopathologischen Auffälligkeiten, bis auf nicht ganz adäquate emotionale Stimmung. So war die Patientin eher positiv gestimmt und gut gelaunt trotz unklarer Genese ihrer Hautstörung und mehreren Krankenhausaufenthalten. Eindeutige Hinweise auf eine artifizielle Störung waren nicht gegeben. Allerdings auch nicht gänzlich auszuschließen.

Es bestand ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Symptomatik und neuerlicher epileptischer Anfälle bei der Mutter, die eine Krankenhausbehandlung verweigerte, weswegen die Patientin sie zuhause versorgen musste.

Zur erweiterten Anamneseerhebung wurde ein Termin mit den Eltern in der Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie empfohlen, laut der Patientin möchten dies die Eltern jedoch nicht. Wahrscheinlich waren die Hautveränderungen durch längere Anwendung von Deospray an der jeweiligen Stelle entstanden.

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Abb. 1 Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter.
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Abb. 2 Nahaufnahme der Läsionen, wahrscheinlich durch längeres Anwenden von Deospray entstanden.
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Abb. 3 Körperrückseite frei von Läsionen.
Fallbeispiel 2

Schwerstes Skin Picking im Sinne einer artifiziellen Störung ([Abb. 4 – 6]) mit mehreren stationären Aufnahmen in der Hautklinik, ursprünglich zum Ausschluss eines Pyoderma gangraenosum bei bekannter Colitis ulcerosa

40-jähriger Patient, der von einer Vielzahl biografischer und aktueller Belastungen berichtet. Epilepsieerkrankung im jungen Erwachsenenalter, damals psychotherapeutische Krisenintervention. Vor 2,5 Jahren Erstdiagnose einer Colitis ulcerosa, auch im zeitlichen Zusammenhang mit einer gravierenden Erkrankung des Vaters. Aktuell wiederkehrend Frustrationen in seinem Beruf. Der Patient erlebe sich beruflich gleichermaßen als unter- als auch als überfordert, hiermit assoziierte Kränkungen/Frustrationen/Ärger sehe er auch mit rezidivierenden Schüben seiner Colitis ulcerosa verknüpft. Seit einem Jahr nun auch Probleme mit einem „Manipulationsdrang“ im Bereich von Hautwunden. Der Patient benennt dies als „Spannungsventil“, schließe selbstschädigende/autoaggressive Komponenten nicht aus. Insbesondere unter Stress würde er mit den Fingern an den Hautveränderungen „knibbeln“. Auffällig war, dass der Patient invasive Eingriffe forderte (u. a. zentraler Venenzugang, Behandlung mit dem Versajet als Hydrochirurgie usw.) und die Zeit auf Station zu genießen schien. Der Patient war enttäuscht, dass im Rahmen des letzten stationären Aufenthaltes eine Wiedervorstellung erst in 4 Wochen geplant wurde, er wollte sich früher wieder in erneute stationäre Behandlung begeben. Er schien inadäquat gut gelaunt trotz des schweren Hautbefundes. Die Kürettage im Rahmen des Wunddebridements schien ihn nicht zu schmerzen, im Gegenteil, er schien es zu genießen und war enttäuscht, dass dieses lediglich auf Station und nicht im Operationssaal stattfand.

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Abb. 4 Beispiel für eine artifizielle Störung.
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Abb. 5 Mehrere Krankenhausaufenthalte waren bisher bereits aufgrund der schweren Verletzungen notwendig. Im Rahmen des stationären Aufenthaltes fand ein psychosomatisches Konsil statt.
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Abb. 6 Alte wie neue Verletzungen, Schnürringe und Narben sowie tiefe, teils nekrotische Ulzerationen sichtbar als Zeichen für wiederkehrendes selbstschädigendes Verhalten.

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Alarmzeichen

Alarmzeichen, die für selbstverletzendes Verhalten als Ursache von Hautveränderungen sprechen können [8]:

  1. ein untypischer Krankheitsverlauf: z. B. Wundheilungsstörungen bei einer kerngesunden jungen Frau

  2. eine ungewöhnliche Lokalisation: z. B. Hautveränderungen lediglich an der gesamten Vorderseite des Körpers, Rückseite symptomfrei (siehe Fallbeispiel 1)

  3. eine seltsame Morphologie: z. B. parallele strichförmige Erosionen oder Schnürringe (siehe Fallbeispiel 2)

  4. Therapieresistenz: trotz adäquater Therapie keine Veränderung bzw. immer wieder neu auftretende Hautveränderungen

  5. nicht zu erwartende emotionale Verfassung des Patienten: z. B. eine zum Krankheitsverlauf und -ausmaß unangepasste fröhliche Stimmung mit fehlendem Leidensdruck (bei beiden Fallbeispielen vorhanden)

  6. Auftreten der Symptome im Rahmen der Pubertät oder psychischer Erkrankungen

  7. Reaktion des Behandlers (sog. Gegenübertragung)


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Reaktionen und Möglichkeiten des Umgangs mit selbstverletzendem Verhalten

Nach der Diagnosestellung einer schweren artifiziellen Störung in der somatischen Klinik, z. B. in der Hautklinik, ist ein psychosomatisches Konsil notwendig, um dem Patienten Gelegenheit zu einem Gespräch über psychisches Leiden zu geben und die Behandlungsmotivation einzuschätzen.

Bei den Paraartefakten ist ein Ansprechen in der Praxis meist möglich und führt eher zu einer Erleichterung des Patienten, insofern es dem Arzt gelingt, die Konfrontation wertfrei zu gestalten [3]. Meist haben die Patienten schon häufig erfolglos versucht, dem Impuls der Selbstverletzung zu widerstehen. Ratschläge wie „Sie sollten aufhören sich selbst zu verletzen“ sind entsprechend kontraproduktiv.

In dem Wissen, dass das selbstverletzende Verhalten meist im Rahmen einer Zwangs- oder Impulskontrollstörung stattfindet, kann eine empathische Frage wie z. B. „Haben Sie sich kratzen müssen?“ dazu führen, den Raum zu eröffnen. Wenn auch oft scham- bzw. schuldbesetzt, so können die Patienten meist vom selbstverletzenden Verhalten berichten. In diesem Falle kann mit dem Patienten überlegt werden, ob er unabhängig von der weiteren dermatologischen Diagnose und Behandlung zusätzliche Unterstützung benötigt. Diese kann z. B. das Erlernen eines Entspannungsverfahrens oder auch eine ambulante Psychotherapie, z. B. Verhaltenstherapie sein. Wichtig für die Arzt-Patient-Beziehung mit dem Dermatologen ist, dass der Patient sich darauf verlassen kann, dass die dermatologische Behandlung weiterhin stattfindet, also kein Abschieben in die „Psycho-Ecke“, kein Beziehungsabbruch bzw. Verlassen werden von Seiten des Dermatologen, unabhängig von einer zusätzlichen psychologischen Behandlung. Patienten verweigern seltener eine psychiatrische-psychotherapeutische Behandlung, solange sie sich nicht von ihrem Dermatologen zurückgewiesen fühlen [3].

Die Artefaktkrankheit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Patienten ihr unbewusstes, hochpathologisches Elternbild auf Ärzte übertragen. Die Dynamik der Arzt-Patient-Beziehung lässt sich deshalb als Reinszenierung einer traumatischen Erfahrung verstehen [7]. Die Wahl des Arztes als Übertragungsobjekt scheint gerade von dem für die Medizin typischen und einzigartigen Spannungsbogen zwischen Helfen und Verletzen herzurühren. Bei den behandelnden Ärzten können je nach Patient und abhängig von der Persönlichkeit des Arztes/der Ärztin verschiedene Reaktionen (Gegenübertragung) hervorgerufen werden.

Die einen verspüren große Sorge und entwickeln eine enorme Aktivität (noch eine Probebiopsie trotz der bereits durchgeführten, weitere invasive Diagnostik und Therapie), im Sinne einer unbewussten Allianz mit der Autoaggression des Patienten.

Andere reagieren gleichgültig, als ob die Verleugnung und die dissoziative Abwehr des Patienten scheinbar mitgemacht werden. Dabei wird der Arzt in das Spiel mit eingebunden.

Wieder andere verspüren den Impuls, detektivisch das selbstverletzende Verhalten zu entlarven, sind dabei stolz ob ihres scharfen Verstandes mit dem Drang, den Patienten bloßzustellen und gar zu beschämen. Auch dies ist als eine Form der unbewussten Allianz mit der (Auto-) Aggression des Patienten zu verstehen.

Manche Patienten mit schwerer artifizieller Störung können zwar später eine Art Bewusstseinsspaltung (Dissoziation) beschreiben, in der sie auf der einen Seite wussten, dass sie die Symptome verursacht hatten, aber dennoch zugleich die Verdachte und Vorwürfe der Ärzte als zutiefst ungerecht empfanden. Somit führt ein „Vorführen“ oder „Beweisen“, dass der Patient für seine Symptome selbst verantwortlich ist, meist zu einem Vertrauensbruch und möglicherweise zu einem Beziehungsabbruch von Seiten des Patienten, weswegen dies vermieden werden sollte [7].

Der Arzt steht also vor der Aufgabe, die Widersprüche zwischen Symptomatik, Verlauf und angeblicher Diagnose zu erkennen und das Krankheitsbild quasi zu dechiffrieren. Es hat sich allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass die Patienten mit ihrer verleugneten Selbstmanipulation auf eine unaggressive und das Krankhafte akzeptierende Weise konfrontiert werden sollten [10]. Für eine gelingende Konfrontation mit der wahren Natur der Erkrankung kann es deshalb erforderlich sein, zunächst sich selbst über die eigenen Gefühle sowie die innere Haltung dem Patienten gegenüber klar zu werden. Dieser Vorgang ist für den Hautarzt erst einmal ungewöhnlich und neu. Bei der Vielzahl von zu behandelnden Patienten bleibt meist keine Zeit und ist auch keine Notwendigkeit gegeben, sich über die eigenen Gefühle Gedanken zu machen, die ein Patient in einem auslöst (sog. Gegenübertragung). Im Falle einer artifiziellen Störung kann das Reflektieren der durch den Patienten ausgelösten Emotionen sowohl zur Diagnostik als auch zur Therapie hilfreich sein. So kann eine Distanzierung gewonnen werden, die wiederum ermöglicht, empathisch mit dem Patienten weiter zu arbeiten. Bei der Reflektion kann ein Gespräch mit anderen Teammitgliedern, einem Kollegen oder auch einem Supervisor/Coach oder einer Balintgruppe hilfreich sein, um einen anderen Blickwinkel auf die Situation zu erhalten. Insbesondere sollten die eigenen Grenzen der emotionalen und beruflichen Belastbarkeit bedacht werden. Als innere Haltung und zur emotionalen Distanzierung kann es hilfreich sein, sich (ggf. mithilfe von Dritten) bewusst zu machen, dass diese Patienten emotional zutiefst erschüttert sind, massiv leiden und es ihnen nicht möglich ist, dieses Leiden anders zum Ausdruck zu bringen. Jedoch ist aufgrund der oben beschriebenen Psychodynamik (destruktive Arzt-Patient-Beziehung) eine Grenzsetzung in Bezug auf die in der Erkrankung ausgelebte Destruktivität wichtig, vor der der Behandler den Patienten, das Team, sich selbst und die Therapie schützen muss [10]. Dies kann sich konkret darin zeigen, dass mit dem Patient klare und verbindliche Vereinbarungen getroffen werden, ein Rahmen gesetzt wird. Dies kann z. B. die Häufigkeit und Dauer der Termine beinhalten, aber auch die Vereinbarung, dass nicht weiter operiert wird, keine erneute invasive Diagnostik durchgeführt wird usw.

Die Diagnosestellung und Konfrontation beenden nicht die Behandlung, sondern ändern lediglich ihre Schwerpunkte. Der Konfrontationsvorgang sollte nicht als einseitige Überführung des Patienten, sondern als gemeinsame Rückkehr zu Authentizität gestaltet werden. Damit ist gemeint, dass das hinter den Symptomen stehende Leiden des Patienten empathisch auf- und ernstgenommen wird. Es ist wichtig, diese Realität regelmäßig vorsichtig mit einzubringen.

Somit steht dem Dermatologen eine wichtige, oft unterschätzte Rolle zu: Wenn es gelingt, eine empathische, wertfreie Arzt-Patient-Beziehung aufzubauen, kann der behandelnde Arzt eine wichtige Stütze im Verlauf der Behandlung für den Patienten sein [3]. Die gemeinsame Konzentration auf die Behandlung der Hautläsionen kann sowohl für den Patienten als auch für den Behandler entlastend sein, da dies weniger bedrohlich oder auch beschämend ist, als über die Selbstverletzungen oder biografische Inhalte zu sprechen. Dennoch kann der Patient auf nichtsprachlicher Ebene z. B. durch die regelmäßigen Verbandswechsel lernen, mit seinem Körper und seiner Haut fürsorglich umzugehen. Durch Einbeziehung weiterer Fachkräfte wie z. B. Pflegepersonal werden dem Patienten zusätzliche Kontakte ermöglicht, die wiederum stützend sei können. Insbesondere auch im Falle von sexuell traumatisierten weiblichen Patienten, die zu einem männlichen Hautarzt gehen, kann die Beziehung zum weiblichen Pflegepersonal wichtig sein.

Frustration und Entmutigung treten auf beiden Seiten häufig auf. Zum einen lehnen 15 – 30 % der Patienten eine psychotherapeutische/psychiatrische Mitbehandlung ab. Des Weiteren kommt es häufig lediglich zu einer sehr langsamen Verbesserung, im Verlauf auch immer wieder zu Verschlechterungen. Diese Schwankungen beziehen sich sowohl auf den Hautzustand als auch auf das Beziehungsangebot des Patienten zum behandelnden Arzt, welches oft zwischen misstrauisch/ablehnend und unsicher/anhänglich oszillieren kann. Wenn der Patient dennoch das Gefühl bekommt, dass die Beziehung zum Dermatologen bleibt, auch wenn es immer wieder Rückfälle mit Verschlechterung des Hautbefundes gibt, so kann die Arzt-Patient-Beziehung zum Dermatologen im besten Fall eine sehr wichtige und Sicherheit gebende Funktion einnehmen. Eine längere Arzt-Patient-Beziehung kann Patienten überzeugen, ihre Meinung zu ändern und die zuvor abgelehnte psychiatrisch-psychotherapeutische Therapie doch in Anspruch zu nehmen [3].


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Fazit

Generell kann die Morphologie der Hauterscheinungen bei selbstverletzendem Verhalten alle Dermatosen imitieren. Deshalb sollte bei untypischem Krankheitsverlauf, bei ungewöhnlicher Lokalisation oder Morphologie, bei Therapieresistenz, zur Situation unpassender Stimmung des Patienten und/oder des Arztes selbst bereits von Anfang an − also parallel zur weiteren Diagnostik zum Ausschluss anderer Hauterkrankungen − an Artefakte gedacht werden.

Insbesondere aber sollte bei einer für den Behandler unpassend wirkenden emotionalen Haltung des Patienten, im Speziellen bei Jugendlichen in der Pubertät, an selbstverletzendes Verhalten gedacht werden. Ein weiterer Hinweis kann die Gegenübertragung des Behandlers sein, wenn z. B. ein solcher Patient ungewöhnliche Gleichgültigkeit oder aber übertriebene Besorgnis, ggf. sogar Wut beim behandelnden Arzt auslöst. Die Grundhaltung gegenüber den Patienten sollte sich darin zeigen, dass der Arzt weiß, dass der Patient mit seinem schweren psychischen Leid aktuell nicht anders umgehen kann, als sich selbst zu verletzen.

Wichtig ist es, die eigenen, durch den Patienten ausgelösten Impulse und Affekte zu reflektieren, um mit dem Patienten gemeinsam empathisch die Krankheit zu verstehen. Im besten Fall ist eine Psychotherapie möglich, meist bei den Paraartefakten. Zudem kann eine stabile, wertneutrale Arzt-Patienten-Beziehung zum Dermatologen eine sehr wichtige, stützende Funktion für den Patienten einnehmen.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Petermann F, Nitkowski D. Selbstverletzendes Verhalten: Merkmale, Diagnostik und Risikofaktoren. Psychother Psych Med 2011; 61: 6-15
  • 2 Plener L, Kaess M, Schmahl C. et al. Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Deutsches Ärzteblatt 2018; 1125: 23-30
  • 3 Tomas-Aragones L, Consoli SM, Consoli SG. Self-Inflicted Lesions in Dermatology: A Management and Therapeutic Approach – A Position Paper from the European Society for Dermatology and Psychiatry. Acta Derm Venereol 2017; 97: 159-172
  • 4 Borschmann R, Becker D, Coffey C. et al. 20-year outcomes in adolescents who self-harm: a population-based cohort study. The Lancet Child & Adolescent 2017; 1: 195-202
  • 5 Werfel T, Heratizadeh A, Aberer W. et al. Leitlinie Neurodermitis: AWMF-Registernummer: 013-027. 2015
  • 6 Lenkiewicz K, Racicka E. Self-injury – placement in mental disorders classifications, risk factors and primary mechanisms. Review of the literature. Psychiatr Pol 2017; 51: 323-334
  • 7 Hoffmann SO, Hochapfel G. Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin. Stuttgart: Schattauer; 2009
  • 8 Hart W, Gieler U. Psychosomatische Dermatologie. Heidelberg: Springer; 2006
  • 9 Wang DL, Powsner S, Eisendrath SJ. Factitious disorder. In: Sadock BJ, Sadock VA, Ruiz P. eds. Kaplan & Sadock’s Comprehensive Textbook of Psychiatry. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 2009: 1949
  • 10 Adler RH, Hermmann JM. Uexküll Psychosomatische Medizin. München: Urban & Fischer; 2003

Korrespondenzadresse

Dr. Gabriele Rapp
Hautklinik Bad Cannstatt
Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart

  • Literatur

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  • 10 Adler RH, Hermmann JM. Uexküll Psychosomatische Medizin. München: Urban & Fischer; 2003

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Abb. 1 Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter.
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Abb. 2 Nahaufnahme der Läsionen, wahrscheinlich durch längeres Anwenden von Deospray entstanden.
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Abb. 3 Körperrückseite frei von Läsionen.
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Abb. 4 Beispiel für eine artifizielle Störung.
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Abb. 5 Mehrere Krankenhausaufenthalte waren bisher bereits aufgrund der schweren Verletzungen notwendig. Im Rahmen des stationären Aufenthaltes fand ein psychosomatisches Konsil statt.
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Abb. 6 Alte wie neue Verletzungen, Schnürringe und Narben sowie tiefe, teils nekrotische Ulzerationen sichtbar als Zeichen für wiederkehrendes selbstschädigendes Verhalten.