Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(06): 333-334
DOI: 10.1055/a-0612-5378
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Von der Lust, ein Neurologe zu sein

About the joy to be a neurologist
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Publication Date:
28 June 2018 (online)

Liebe Leserinnen und Leser der Fortschritte,

sicherlich vergessen wir alle im Alltagsgeschäft, warum wir Neurologen geworden sind und mit welcher Begeisterung uns dieses Fach im Grunde erfüllt. Die Neurologie ist positiv in den Schlagzeilen, weil sie unabdingbar für die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist, weil wir immer bessere diagnostische Möglichkeiten haben, das Gehirn und seine Erkrankungen zu verstehen und insbesondere weil wir ein zunehmend therapeutisches Fach geworden sind. Nachdem Moritz Heinrich Romberg 1840 erstmals die Nervenkrankheiten des Menschen beschrieben hat und Wilhelm Erb uns zu einen „Specialfach“ gemacht hat, waren es dann so bedeutende Personen wie Alzheimer, Berger, Jung und viele mehr in Deutschland, die das Fach Neurologie zum Blühen brachten. Wir haben jetzt in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie über 8000 Mitglieder. Der Frauenanteil in der Neurologie liegt bereits bei 65 % und mehr als 60 % der Neurologen sind jünger als 50 Jahre, was zeigt, dass immer mehr junge Kollegen unser Fach wählen. Auf der anderen Seite sind 1/3 aller Gesundheitskosten neuropsychiatrisch bedingt, das heißt konkret, wir gaben in Europa 2010 800 Milliarden Euro für die psychiatrischen und 170 Milliarden Euro für die kardiovaskulären Erkrankungen aus. Nachdem die Neurologie insbesondere Patienten ab dem 65. Lebensjahr betreut, wächst die Fallzahl unserer Patienten im ambulanten und stationären Sektor ständig, was insbesondere durch den demographischen Faktor bedingt ist. Wir Neurologen behandeln so genannte Volkskrankheiten wie Schlaganfall, Demenz, Kopfschmerz, Schlafstörungen, Schwindel und vieles mehr. Wir sind in Notfall- und Intensivambulanzen mit 40 % des Patientenaufkommens außerordentlich gut vertreten. Die Auswirkungen dieses erfolgreichen Faches sind aber auch zum Teil negativ, weil wir immer mehr Nachwuchs-Neurologen benötigen, um bei steigender Bettenzahl die notwendige ärztliche, aber auch pflegerische Betreuung zu garantieren. Leider fehlt bei mindestens 10 % aller neurologischen Kliniken mehr als 25 % der eigentlich vorgegebenen Personalstärke und immer mehr Kliniken müssen auf ausländische Neurologen zurückgreifen, was deren Heimatländer schmerzlich trifft. Das faszinierende ist, dass gerade in unserem Fach durch eine sorgfältige Inspektion die Hautveränderungen bei Dermatomyositis, Veränderungen des Körperbaus mit Scapula alata, eingefallene Schläfenmuskulatur, Ruhezittern bereits Blickdiagnosen erlaubt. Faszinierend sind unsere zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten, die bei Laborparametern beginnen, wo es zunehmend auch Biomarker für neurodegenerative Erkrankungen gibt (Tau, Amyloid, Koffein-Metabolite). Weiter gibt es histologische Möglichkeiten zur Analyse von Muskel- und Nervenerkrankungen, die Neurophysiologie, Elektroenzephalographie, Sonographie der hirnversorgenden Arterien und der Nerven- und Muskelstrukturen, Bildgebung mittels CT, MRT, SPECT, PET, funktionelle Bildgebung, die genetische Diagnostik, das Schlaflabor und die Videoüberwachung.

Hans Berger aus Jena war derjenige, der die Elektroenzephalographie weltweit als erster beschrieb, die sich heute so weit entwickelt hat, dass wir invasive Ableitungen vor Einleitung z. B. einer epilepsie-chirurgischen Maßnahme vornehmen können. Richard Jung aus Freiburg hat die Elektrophysiologie weltweit etabliert. Heute sind es die Lysetherapie und die endovaskuläre Therapie bei Schlaganfall, die Bildgebung zur Differenzialdiagnose der Demenz oder die Bildgebung der Muskulatur zum Unterscheiden zwischen Entzündung und Degeneration des Muskels, die uns diagnostisch immer sicherer machen. Ganz neu ist das Schwalbenschwanzzeichen zu erwähnen, was bei einem 3-Tesla-Gerät in einer Mehrzahl der Fälle erlaubt, die Wahrscheinlichkeit eines vorliegenden Parkinsonsyndroms zu unterstützten, was schon lange für den Dopamintransporter-SCAN, das IMBG-Szintigramm und die PET Analyse des Dopaminstoffwechsels gilt. Wir können mittlerweile Erkrankungen wie Myasthenia gravis, Herpes-Enzephalitis, Epilepsien, Guillain-Barre-Syndrom, Morbus Pompe, Schlaganfälle, Neuroborreliose, Parkinson und Dystonie hervorragend therapieren. Ähnliches erwarten wir für die chronisch progrediente Form der multiplen Sklerose, den Morbus Alzheimer, die Muskeldystrophien, die amyotrophe Lateralsklerose, die Querschnittslähmung und für Hirntumore wie das Glioblastom. Modernste Methoden, die hier vielleicht ihren Ansatz finden werden, sind der Einsatz von pluripotenten Stammzellen, die Antisense-Technologie, um z. B. ein Exon-skipping zu erreichen und aus einem Duchenne-Kind einen Becker-Muskeldystrophie Patienten zu machen oder die neueste Errungenschaft, die Gabe von Nusinersen, um das survival motor neuron Gen 2 zu korrigieren und so die Produktion von SMS Protein für Patienten mit spinaler Muskelatrophie wieder zu ermöglichen.

Zusammengefasst sind neurologische Erkrankungen häufig. Jeder zweite konservative Notfall ist ein neurologischer Notfall. Neurologische Krankheiten können zunehmend besser diagnostiziert und insbesondere behandelt, ja zum Teil geheilt werden. Die Neurowissenschaften sind aufregende Grundlagenfächer und sind zusammen mit klinischer Forschung unverzichtbar für den weiteren Fortschritt in Diagnostik und Therapie neurologischer Erkrankungen. Das Fach Neurologie hat eine große Zukunft. Wir müssen aber um geeigneten Nachwuchs ringen und insbesondere für Frauen ein attraktives Fach bleiben.

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Prof. Dr. med. Heinz Reichmann