Abb. 1 Statue des Hippokrates: Die Schriftsammlung „Corpus Hippocraticum“ beschreibt
die theoretische Grundlage der Humoralmedizin. Doch nur wenige Werke aus der Sammlung
lassen sich wirklich auf Hippokrates selbst zurückführen. Foto: © Adobe Stock / markara
ÜBERLIEFERTE WISSENSSCHÄTZE aus Antike, Mittelalter und Moderne: Gegensatz- und Ähnlichkeitsprinzip, Temperamenten-
und Säftelehre, traditionelle und rationale Phytotherapie
Iris Eisenmann-Tappe
DIE KLOSTERMEDIZIN fiel in eine Epoche, in der man auf Traditionen baute und eine hohe Achtung vor Autoritäten
hatte. Als solche galten nicht nur kirchliche Würdenträger, sondern auch charismatische
und berühmte antike Ärzte wie Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) und Galen (ca. 129–205
n. Chr.). Denn das gesamte medizinische Wissen des Mittelalters wurzelt in der Antike.
Dem Fleiß unzähliger Mönche beim Kopieren, Bewahren und Verwalten der damals schon
alten, hoch geschätzten Wissensliteratur verdanken wir unsere Einsicht in die Ursprünge
der heutigen Medizin.
Zweitausend Jahre Temperamentenund Säftelehre
Man ging in der Medizin des Mittelalters davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an
ein bestimmtes Temperament ausprägt und damit überwiegend als Choleriker, Melancholiker,
Phlegmatiker oder Sanguiniker einzustufen ist. Hervorgerufen werden diese Unterschiede
durch das Vorherrschen eines der vier Körpersäfte (Humores) – Chole (Gelbe Galle),
Melanchole (Schwarze Galle), Phlegma (Schleim) oder Sanguis (Blut). Diese theoretische
Grundlage der Humoralmedizin wurde im „Corpus Hippocraticum“ beschrieben, einer Sammlung
von medizinischen Schriften aus der Zeit zwischen dem 6. Jh. vor und dem 2. Jh. nach
Christus. Nur wenige Werke stammen jedoch von Hippokrates selbst.
Durch das ganze Mittelalter hindurch war es für die Menschen von großer Bedeutung,
ihr eigenes Temperament zu kennen. Ziel für jedermann war, seine Lebensweise danach
auszurichten und dadurch ein Ungleichgewicht in der persönlichen Säftemischung zu
vermeiden. Denn eine solche Disharmonie (Dyskrasie) wurde als Hauptursache von Krankheiten
angesehen.
Erkenne dich selbst und deine Bedürfnisse, vermeide Extreme und Übertreibungen in
jeder Richtung.
Sechs nicht natürliche Dinge als Meilensteine gesunden Lebens
Damit die Menschen die als gültig betrachteten Theorien auch umsetzen konnten, verfasste
man im Mittelalter sogenannte Regimen sanitatis (zu Deutsch: Gesundheitsregeln) mit
kompakt formulierten Empfehlungen. Wegbereiter für diese ersten Gesundheitsratgeber
war die „Epistula de observatione ciborum“ des byzantinischen Arztes Anthimus aus
dem 6. Jh. nach Christus, die im „Lorscher Arzneibuch“ aus dem 8. Jahrhundert überliefert
ist. In den Regimen sanitatis wurden die sogenannten Sex res non naturales (sechs
nicht natürliche Dinge) erläutert. Diese galten als entscheidend für die Bewahrung
der Gesundheit, da sie nicht als „natural“ (sozusagen gottgegeben und damit unabwendbar),
sondern als vom Menschen verantwortlich steuerbar betrachtet wurden:
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Aer – gesunde Luft
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Motus et quies – Bewegung und Ruhe
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Cibus et potus – Essen und Trinken
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Somnus et vigilia – Schlafen und Wachen
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Repletio et evacuatio – Füllung und Ausleitung
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Accidentia animae – Emotionen beziehungsweise psychische und seelische Verfassung
Jeder ganzheitlich denkende Therapeut wird heute die Bedeutung dieser sechs Faktoren
bestätigen. Interessant für die heutige Zeit ist dabei vor allem der Aspekt der individuellen
Steuerbarkeit: Wir haben nämlich im Hinblick auf alle diese Punkte an Selbstbestimmungsmöglichkeiten
verloren. Man denke beispielsweise beim Faktor Aer an die aktuelle Diskussion über
Dieselabgase in den Städten oder bei Cibus et potus an die Kontaminierung des Grundwassers
und der Nahrungsmittel mit Umweltchemikalien wie Nitrat oder Pestiziden.
Repletio et evacuatio spiegeln das Streben nach einer geregelten Verdauungs- und Stoffwechseltätigkeit
wider. Füllung und Entleerung des Verdauungstrakts sollen in einem gesunden Rhythmus
des Stoffwechsels erfolgen, der auch durch Arzneimittel oder Bäder beeinflusst werden
kann. Wie wichtig diese Faktoren für Gesundheit und Wohlbefinden sind, führt uns aktuell
die hohe Prävalenz des Reizdarmsyndroms (siehe S. 22– 27) in Deutschland vor Augen:
Laut der Deutschen Reizdarmselbsthilfe e. V. ist etwa jeder Sechste von chronischen
funktionellen Verdauungsstörungen betroffen.
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Die Klöster Europas sammelten und bewahrten Wissen von der Antike bis ins Mittelalter
und prägten so entscheidend das Verständnis von Gesundheit, Prävention und Therapie.
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Die antike Säfte- und Temperamentenlehre ging ebenso in die mittelalterliche Medizin
ein wie das Gegensatz- und Ähnlichkeitsprinzip, jeweils mit den Säulen Prävention
und Pflanzenheilkunde.
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Hippokrates, Galen und Anthimus zählten zu den Wegbereitern der europäischen Heilkunde,
wichtige Impulse gaben auch die arabischen Ärzte Avicenna und Ibn Butlan.
Unregelmäßige Arbeitszeiten oder Stress sind heute für viele Menschen nicht zu umgehen,
Bewegungsmangel ist oft mit chronischem Zeitmangel verbunden. Dass wir solch wichtigen
Gesundheitsfaktoren wie Schlaf- und Wachrhythmus und der Pflege der seelischen Gesundheit
nicht die notwendige Beachtung zukommen lassen, zeigt Folgen. So sind beispielsweise
in Deutschland laut dem Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse seit dem Jahr
2000 die Arbeitsausfälle wegen behandlungsbedürftiger Depressionen um fast 70 % angestiegen.
Demnach sind seelische Erkrankungen heute der zweithäufigste Grund für Krankmeldungen.
Prävention hatte in der mittelalterlichen Medizin einen hohen Stellenwert, weil die
Auswahl therapeutischer Mittel wesentlich geringer war als heute. Ärzte wie Patienten
im Mittelalter bemühten sich deshalb um eine innere Harmonie der Säfte, die Eukrasie.
Sinngemäß lautet der in diesem Wort zusammengefasste Rat zur Erhaltung der Gesundheit:
Erkenne dich selbst und deine Bedürfnisse, vermeide Extreme und Übertreibungen in
jeder Richtung.
Avicenna als Wegbereiter der humoralmedizinischen Diagnostik
Abu Ali al Hussein Ibn Abdillah Ibn Sina (ca. 980–1037), auch Avicenna genannt und
in jüngerer Zeit durch die Verfilmung des Bestsellers „Der Medicus“ wieder bekannt
geworden, erstellte um das Jahr 1030 sein medizinisches Hauptwerk, den „Canon medicinae“.
Der brillante persische Arzt, Denker und Universalgelehrte systematisierte das Wissen
seiner Zeit. Der „Canon medicinae“ wurde bereits im 12. Jahrhundert n. Chr. ins Lateinische
übersetzt und nahm über Jahrhunderte als Standardwerk großen Einfluss auf die europäische
Medizin. Avicenna hatte, aufbauend auf Galens Humoralpathologie, ein ausgefeiltes
Anamnesesystem entwickelt. Patienten wurden nicht nur nach ihrem körperlichen und
seelischen Wohlbefinden befragt. Auch der Einfluss von Alter, Klima und Umwelt wurde
mit einbezogen.
Aspekte der humoralmedizinischen Diagnostik
Mit der Fähigkeit zur Typisierung nach den humoralmedizinischen Temperamenten sowie
der Erstellung eines individuellen Gesundheitsprofils steht und fällt die Anwendung
der Humoralpathologie bis heute in der Praxis. Die Heilmittel wurden dabei individuell
auf jeden einzelnen Patienten abgestimmt. Beurteilt wurden:
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äußerer Eindruck, insbesondere Statur, Gesicht, Augen, Haut, Haare, Nägel
-
Verhalten, vor allem Bewegung, Stimme, Sprache, Atmung, emotionale Verfassung
-
Ergebnisse der körperlichen Untersuchung (Palpation, Pulsmessung, Harnuntersuchung
und Beurteilung der Zunge)
Ein TCM-Therapeut wird unmittelbar die Parallelen zum Vorgehen in der Traditionellen
Chinesischen Medizin bemerken. Avicenna war auch innovativ bei Heilverfahren. So verordnete
er Musiktherapien oder forderte Patienten zu Reisen oder Spaziergängen am Meer auf,
um sie aus alten Denk- und Verhaltensmustern zu befreien. Eine integrierte Bewegungstherapie
wie das Qi Gong in der TCM entwickelte die Humoralmedizin allerdings nicht. Ein Grund
dafür mag sein, dass man pathologische Stagnationen weniger durch Ganzkörperbewegung,
sondern vor allem durch Motilitätsförderung im Inneren des Körpers lösen wollte. Dies
geschah durch teils drastisch anmutende Ausleitungsverfahren wie den Aderlass oder
die Erregung von Durchfall, Erbrechen oder auch Niesen.
Das fünfte Buch im „Canon medicinae“ enthält die Beschreibung von über 600 Heilmitteln.
Der Großteil der Medikamente ist pflanzlichen Ursprungs und demonstriert die weit
entwickelte Phytotherapie dieser Zeit. Allein dieses Werk bietet noch viele Anregungen
für die moderne pharmakologische Forschung: Wir haben bei weitem noch nicht alle Wissensschätze
gehoben. Wie aber wählt der Therapeut nach Avicennas Lehre die passenden Arzneimittel
für seinen Patienten aus?
Similia- und Contraria-Prinzip: mittelalterliche Vorläufer der Homöopathie
Zwei antagonistische Heilungsansätze waren zu Avicennas Zeiten im humoralpathologischen
System gebräuchlich: Similia similibus oder Contraria contrariis curantur: Ähnliches
möge durch Ähnliches oder Entgegengesetztes durch Entgegengesetztes geheilt werden.
Dies betraf Nahrungsmittel wie auch Arzneimittel: In Antike und Mittelalter wurde
kein grundsätzlicher Unterschied zwischen beidem gemacht. Im Sinne des Similia- Prinzips
nahm man beispielsweise zur Vermehrung des Blutes rote Speisen zu sich, darunter rotes
Fleisch, Rote Bete und rotes Beerenobst. Manches erscheint auch aus heutiger Sicht
plausibel. So unterstützt rotes Fleisch beispielsweise durch seine hohen Gehalte an
Eisen und Vitamin B12 die Blutbildung.
In anderen Fällen half das Prinzip nach heutigem Ermessen nicht weiter. So erklärt
sich die über mehrere Jahrhunderte ungebrochene Beliebtheit der weißen Speise Blancmanger
(Mandelsulz) recht einfach durch das Similia-Prinzip: Die sämige Beschaffenheit dieser
Zubereitung aus weißem Reis, zerkleinertem Hühnerfleisch und Mandelmilch sollte aufgrund
der Ähnlichkeit in Konsistenz und Farbe eine reichliche Produktion der männlichen
Samenflüssigkeit fördern. In der Konsequenz wurde der Blancmanger gesüßt – eine für
den heutigen Geschmack eher irritierende Würzung. Denn nach der Theorie der Viersäftelehre
befördert Zucker im Körper die Vermehrung von Phlegma (Schleim), also auch der Samenflüssigkeit.
Auch wenn uns heute solche Zusammenhänge unsinnig erscheinen, ist dies ein gutes Beispiel
für die zur damaligen Zeit selbstverständliche Auswahl von Nahrungsmitteln zu gesundheitlichen
Zwecken. Das Similia-Prinzip der Humoralpathologie und volkstümlichmagisches Denken
sind Wurzeln der Signaturenlehre, die in Antike und Mittelalter schon weite Anwendung
fand, bevor Paracelsus sie schriftlich formulierte.
Wer heute Homöopathie anwendet, kennt das Similia-Prinzip. Samuel Hahnemanns Heilmethode,
die er ab 1796 veröffentlichte, wurzelt so betrachtet in der humoralpathologischen
Theorie und war im Grunde bereits im „Corpus Hippocraticum“ dargestellt worden, allerdings
ohne die Idee einer therapiewirksamen Verdünnung der Wirkstoffe. Die Signaturenlehre
lehnte Hahnemann allerdings ab, da sie sich vor allem auf die Ähnlichkeit von Zeichen,
nicht aber von Krankheitssymptomen bezog.
Von Avicenna bis Ibn Butlan: Einflüsse der Orientalischen Medizin
Auch die gegenteilige Auffassung, das Contraria-Prinzip, findet sich bereits im „Corpus
Hippocraticum“. Um beispielsweise Beschwerden durch einen kalten (dyspeptischen, zu
trägen, schlecht verdauenden) Magen zu mildern, wurde der reichliche Verzehr von heiß
wirkendem Knoblauch empfohlen. Um das Contraria-Prinzip anzuwenden, musste man also
wissen, welche Komplexion die Nahrungs- und Arzneimittel jeweils aufwiesen.
Unter Komplexion ist die Charakterisierung des Mittels als warm oder kalt, andererseits
als trocken oder feucht zu verstehen. Zur Einstufung der Stärke der jeweiligen Eigenschaft
benutzte man eine Viererskala mit dem 1. als dem schwächsten, sowie dem 4. als dem
stärksten Grad. Der Knoblauch beispielsweise galt als warm im 4. und trocken im 3.
Grad.
Für die Menschen des Mittelalters gehörte dies zum Allgemeinwissen, unterstützt durch
die erwähnte Ratgeberliteratur. Ein schönes Beispiel dafür sind die in deutscher Fassung
ab 1533 in Druckform erhältlichen „Schachtafelen der Gesuntheyt“ [1] (siehe „Die ersten Tabellen der Medizingeschichte“).
Die ersten Tabellen der Medizingeschichte
Bei den „Schachtafelen der Gesuntheyt“ handelt es sich um ein übersichtliches Tabellenwerk,
in dem Leser die Wirkungen von Genuss- und Arzneimitteln, aber auch zum Beispiel die
Effekte von Bewegung, Schlaf, Kleidung oder Jahreszeiten nachschlagen konnten. Der
ursprüngliche Verfasser dieser synoptischen Tabellen war der arabische Arzt Ibn Butlan
(gestorben 1065), der das Medizinische Hausbuch „Tacuinum sanitatis“ als Rahmenwerk
Mitte des 11. Jahrhunderts verfasste. Sein Ziel war, den gesundheitlichen Wert sämtlicher
Bereiche des menschlichen Lebens und der Umwelt darzustellen. Er beschrieb im Vorwort
seine Motivation für die Schaffung eines übersichtlichen Tabellenwerks: „Denn die
Menschen wollen von den Wissenschaften nichts anderes als wirksame Hilfe, nicht aber
Beweise und Definitionen …Daher ist es unsere Absicht in diesem Buche, umständliches
Gerede abzukürzen …“
Wegen des hervorragenden Rufs der orientalischen Heilkunst war auch dieses Werk bald
ins Lateinische übersetzt worden und so dem abendländischen Mittelalter zugänglich.
Abb. 2 Die erste Schachtafel aus dem medizinischen Hausbuch „Schachtafelen der Gesuntheyt“
von 1533.
Abb. 3 Darstellung von Andorn (Marrubium) im „Tacuinum sanitatis“. Um seinen Nutzen
als medizinisches Hausbuch noch zu vergrößern, war das „Tacuinum sanitatis“ im 14.
Jahrhundert von einem unbekannten Meister mit Miniaturen bebildert worden. Das hier
gezeigte Beispiel stellt die Blattform und das silbrige Laub des Andorns dar.
„Denn die Menschen wollen von den Wissenschaften nichts anderes als wirksame Hilfe.“
aus „Schachtafelen der Gesuntheyt“
Vergleichende Beurteilung mittelalterlicher Schriften am Beispiel Andorn
Am Beispiel des Andorns (Marrubium vulgare, siehe auch Heilpflanzenporträt auf S.
56–59) lässt sich der Beitrag mittelalterlicher Schriften zum heutigen Heilpflanzenwissen
verdeutlichen. So schreibt Ibn Butlan in den „Schachtafelen der Gesuntheyt“: „Komplexion:
warm und trocken im 3. Grad. Vorzuziehen: im Haus gewachsen und frisch. Nutzen: gut
für den Magen und für die feuchte Brust. Schaden: Seine Substanz ist schwer verdaulich.
Verhütung des Schadens: mit wohlriechenden Stoffen, Mostsaft und Essig. Was er erzeugt:
scharfe Säfte. Zuträglich für Menschen mit kalter Komplexion, für Phlegmatiker, Greise,
im Winter und in kalten Gegenden.“ [1]
Hildegard von Bingen (1098–1179, siehe S. 60–63) schreibt zwischen 1150 und 1160 ohne
Kenntnis von Ibn Butlans Schriften in ihrer Physica: „Der andron ist warm und hat
reichlich Saft. (…) wessen Kehle krank ist, der koche andron in Wasser, seihe das
gekochte Wasser durch ein Tuch, setze die doppelte Menge Wein hinzu und lasse das
Ganze unter Zugabe von reichlich Schmalz nochmals in einer Schüssel aufkochen. Das
trinke er oft und er wird hinsichtlich seiner Kehle Heilung finden (…). Wer kranke
oder gebrochene Eingeweide hat, koche andron mit Wein unter Hinzufügung von reichlich
Honig, lasse es nach dem Kochen in dem Topf und trinke davon oft, nachdem es abgekühlt
ist. Es heilt die Eingeweide.“ In beiden, voneinander unabhängigen Texten werden also
zwei der heute anerkannten Indikationen für die Anwendung von Andornkraut bereits
genannt: als Expektorans bei erkältungsbedingtem Husten und als Mittel gegen dyspeptische
Beschwerden (Hildegards Rat, den sehr bitteren Andorntee reichlich zu süßen, mag auch
der heutige Therapeut seinen Patienten zur besseren Compliance mit auf den Weg geben).
Durch solche vergleichende Texterschließung, Einflüsse der Volksheilkunde und später
gezielte Forschung entstand in der Moderne schließlich die rationale Phytotherapie
(siehe Kasten). Diese Entwicklung verlief allerdings nicht kontinuierlich.
Überlieferungen aus der Antike galten bis ins 19. Jahrhundert
Die Medizin der Antike mit ihren Schwerpunkten Prävention und Pflanzenheilkunde blieb
dank der Bewahrung durch die Klostermedizin erhalten und erfreute sich im Abendland
bis um 1800 großer Wertschätzung. Mit der zunehmenden Entwicklung synthetischer Arzneistoffe
gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die bis dahin dominierende Pflanzenheilkunde
jedoch mehr und mehr von der Behandlung mit rascher und gezielter wirksamen chemisch-synthetischen
Medikamenten abgelöst. Die Bedeutung der Prävention geriet aus dem Blickfeld. Was
die Pflanzenheilkunde anbetrifft, so bezeichnete noch Anfang der 1990er-Jahre die
Deutsche Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie „die Phytotherapie als eine
wissenschaftlich zurückgebliebene Form der Arzneitherapie, welche eher historisch
zu verstehen ist…“ [2]
Exkurs: Sind rationale Phytotherapie und Homöopathie vereinbar?
Die moderne rationale Phytotherapie ist keine Alternativmedizin, sondern Teil der
naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich
von der Homöopathie, die ihre Therapeutika nicht nach naturwissenschaftlichen Prinzipien
auswählt. Die prinzipielle Unvereinbarkeit beider Behandlungsverfahren hält heute
viele Therapeuten nicht davon ab, sie kombiniert einzusetzen: 60 000 Ärzte wenden
in Deutschland laut dem Zentralverein homöopathischer Ärzte e. V. komplementärmedizinische
Verfahren an. Zum Vergleich: Derzeit sind 47 000 Heilpraktiker in Deutschland tätig
[3].
Die rationale Phytotherapie
Als Phytotherapie bezeichnet man die Heilung, Linderung und Vorbeugung von Krankheiten
durch Arzneipflanzen, deren Teile (zum Beispiel Blüten oder Wurzeln), Bestandteile
(zum Beispiel ätherische Öle) und / oder Zubereitungen (unter anderem Trockenextrakte,
Tinkturen, Presssäfte). Arzneimittel der Phytotherapie werden als Phytopharmaka bezeichnet.
Für deren Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) müssen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit
anhand von produktspezifischen, präklinischen, pharmakologischen und toxikologischen
Studien oder anhand von bibliografischen Unterlagen der Sachverständigen-Kommission
E erbracht werden. Die strengen Zulassungsanforderungen entsprechen den Vorgaben für
chemisch-synthetische Arzneimittel [5].
Samuel Hahnemann selbst hat sich gegen derartige Kombinationen verwahrt: „Es giebt
nur zwei Haupt-Curarten: diejenige welche all’ ihr Thun nur auf genaue Beobachtung
der Natur, auf sorgfältige Versuche und reine Erfahrung gründet, die (vor mir nie
geflissentlich angewendete) homöopathische, und eine zweite, welche dieses nicht thut,
die allöopathische.“ [5] Weiter schreibt er: „Jede steht der andern gerade entgegen und nur wer beide nicht
kennt, kann sich dem Wahne hingeben, dass sie sich je einander nähern könnten oder
wohl gar sich vereinigen liessen, kann sich gar so lächerlich machen, nach Gefallen
der Kranken, bald homöopathisch, bald allöopathisch in seinen Curen zu verfahren;
diess ist verbrecherischer Verrath an der göttlichen Homöopathie zu nennen!“ [4]
Die Anwender im Mittelalter hatten jedoch kein Problem mit der theoretischen Gegensätzlichkeit
des Contraria- und Similia- Prinzips: Sie wandten beide an. Ibn Butlan hat in seinem
Tacuinum bereits einen Vorschlag unterbreitet, wie man beide Prinzipien synergistisch
vereinbaren könnte: Bei Gesundheit solle man nach dem Similia-Prinzip vorbeugen, bei
Krankheit beziehungsweise Dysbalance das Contraria-Prinzip anwenden. Ein gutes Beispiel
für Pragmatismus im Sinne des Patienten.
Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/a-0617-6866