Schlüsselwörter
Schädelhirntrauma - Kinder und Jugendliche - Schütteltrauma
Key words
Traumatic brain injury - Children - Shaken baby syndrome
Definition
Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist definiert als die Folge einer Gewalteinwirkung,
die zu einer Verletzung und/oder Funktionsstörung des Gehirns geführt hat [1]. Die Verletzungen können dabei den knöchernen Schädel, die Kopfschwarte, Hirngewebe
und auch Hirngefäße betreffen. In Abhängigkeit vom Verletzungsgrad der Weichteile,
des Knochens und der Dura mater wird zwischen einem offenen (Verbindung des Schädelinneren
nach außen durch Perforation von Haut, Knochen und Dura) und einem gedeckten SHT unterschieden.
Inzidenz, Unfallmechanismus, Ursache, Diagnostik, Therapie und Langzeitverlauf unterscheiden
sich bei Schädel-Hirn-Traumata allein durch das bestehende Lebensalter zum Unfallzeitpunkt.
Epidemiologie
Schädel-Hirn-Traumata stellen ein signifikantes medizinisches, soziales und ökonomisches
Problem dar. Sie sind bis heute einer der häufigsten Gründe für Behinderungen und
Todesfälle im Kindes- und Jugendalter. Insgesamt betreffen 29,7% aller Schädel-Hirn-Traumata
Kinder unter 16 Jahren [2]. Eine in Deutschland 2014 vom Statistischen Bundesamt veröffentliche Studie zeigte,
dass innerhalb eines Jahres 581 von 100 000 Kindern zwischen 1 und 15 Jahren mit einer
Schädel-Hirn-Verletzung stationär behandelt werden; über 90% davon mit einer Gehirnerschütterung.
Weniger als 10% sind als mittelschweres oder schweres SHT einzustufen.
Kinder unter 6 Jahren weisen eine deutlich höhere Inzidenz mit 721 Fällen pro 100 000
auf [2]. Die Sterblichkeit beträgt insgesamt ca. 0,5%, bei schwerem SHT jedoch bis zu 14%.
Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegen die Hospitalisierungsraten deutlich
unter den Werten der Säuglinge und Kleinkinder. Die Kopfverletzungen nehmen auch hier
den höchsten Rang ein, der Anteil ist aber deutlich geringer als bei den Vergleichsgruppen
der unter 5-Jährigen. [3].
In den vergangenen Jahren ist ein deutlicher Abwärtstrend der Verletzungen mit Todesfolge
zu beobachten. Ab dem 1. Lebensjahr bleibt die Kopfverletzung jedoch weiterhin die
häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen und liegt bei 2,2 je 100 000 Einwohner.
Im europäischen Vergleich liegt Deutschland in Bezug auf die verletzungsbedingte Mortalität
im unteren Drittel [3].
Eine Sondergruppe bilden die gewaltbedingten Todesfälle. Deren Anzahl bleibt auch
im Langzeitverlauf konstant. Insbesondere sind hier die Säuglinge mit einer Rate an
gewaltbedingten Verletzungen von 42 je 100 000 betroffen, diese haben ein 10-fach
höheres Risiko als die Altersgruppe der 10 – 15-Jährigen mit 4 Fällen je 100 000 [3]. Die führende Ursache bei den gewaltbedingten Todesfällen sind Schädel-Hirn-Verletzungen.
Hierbei steht insbesondere das Schütteltrauma im Fokus mit insgesamt ca. 100 – 200
Fällen/Jahr in Deutschland, welches mit einer Letalität von bis zu 30% und dem Risiko
der Entwicklung von Langzeitschäden bis zu 70% einhergeht [4].
Zusammenfassung
Die Inzidenz der tödlichen Kopfverletzungen – bis auf die der gewaltbedingten – hat
in Deutschland abgenommen. Dennoch gehörten Schädel-Hirn-Verletzungen noch zu den
häufigsten Todesursachen bei Kindern zwischen 1 und 15 Jahren in Deutschland. Insbesondere
in der Altersgruppe der unter 1-Jähringen ist das Schütteltrauma eine führende Ursache
für Schädel-Hirn-Verletzungen.
Pathophysiologie
Bei der Schädigung des Gehirns kann zwischen primären und sekundären Verletzungen
unterschieden werden:
-
Primäre Verletzungen sind sofortige Schädigungen, die durch mechanische Kräfte verursacht
werden, die auf das Hirnparenchym übertragen werden und sich in Form von Kontusionsblutungen,
Hämatomen, Scherverletzungen und Ödemen manifestieren. Typische einwirkende Kräfte
sind direkter Aufprall, schnelle Beschleunigungen, penetrierende Verletzungen und
Explosionsdruckwellen.
-
Sekundäre Verletzungen werden als Folgeschäden definiert, die sich nach Stunden und
Tagen infolge veränderter Hirndurchblutung (Vasospasmen, Mikrozirkulationsstörungen)
und inflammatorischen Prozessen entwickeln. Folgen sind Hypoxie, Veränderungen von
Elektrolyt- und Zellmetabolismus, neuronaler Zelltod sowie die Entstehung von zerebralen
Ödemen und in der Folge Anstieg des intrazerebralen Druckes [5].
Merke
Die anfängliche Stabilisierung des verletzten Kindes in der präklinischen und notfallmedizinischen
Versorgung konzentriert sich auf die Minimierung der Folgeerscheinungen der primären
Verletzungen.
Ursachen
Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung effektiver Präventionsstrategien kommt
der Unfallursachenforschung eine besondere Bedeutung zu.
Zunächst sind aber die körperlichen Besonderheiten bez. eines Unfallhergangs bei einem
Kind zu bedenken. Die Körper-Kopf-Proportionen und die Ausprägung der Schutzreflexe
spielen bez. der Beteiligung des Kopfes bei einem Trauma eine entscheidende Rolle:
Das Gewicht des Kopfes im Verhältnis zum Gesamtgewicht des Körpers beträgt beim Säugling
1 : 3 und beim Erwachsenen 1 : 30. Auch setzen die Schutzreflexe bei Kindern später
ein, so ist die Reaktionszeit eines 5-Jährigen etwa doppelt so lang wie die eines
Erwachsenen.
Generell sind häufige Ursachen für Schädel-Hirn-Traumata im Kindesalter Stürze und
Verkehrsunfälle sowie Kopfverletzungen infolge eines sich bewegenden Gegenstandes
oder nicht akzidentelle Verletzungen.
Insbesondere bei den Stürzen kann eine deutliche Variabilität zwischen Verletzungsursache
und Alter beobachtet werden, und Veränderungen in der kindlichen Entwicklung beeinflussen
die Sturzart [6].
Untersucht man Verletzungsmechanismen in verfeinerten Altersgruppen, so fällt auf,
dass sich im Säuglings- und Kleinkindalter Stürze vorrangig im häuslichen Umfeld ereignen
(Stürze aus Schlafgelegenheiten, vom Wickeltisch, Treppen etc.). Mit zunehmenden Aktionsradius
des Kindes (Altersgruppe 4 – 15 Jahre) verlagert sich der Unfallort auf Spiel- und
Sportgelände, die Natur sowie auf die Verkehrswege [7].
Zusammenfassung
Sturzunfälle spielen bei Kindern unter 14 Jahren die größte Rolle bei Schädel-Hirn-Verletzungen
und sind über 90% produktbezogen. Mit zunehmendem Aktionsradius der Kinder erweitert
sich das Spektrum der Unfallorte, so auch die Anzahl der Verkehrsunfälle. Das Schütteltrauma
als Verletzungsmechanismus spielt mit einem Durchschnittsalter von 4 Monaten eine
besondere Rolle.
Klassifikation, Symptomatik und Verletzungsformen
Klassifikation, Symptomatik und Verletzungsformen
Klassifikation
Die Einteilung des Schweregrads eines Schädel-Hirn-Traumas erfolgt nach AWMF-Leitlinien
(AWMF: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften)
in:
-
leichtes SHT
-
mittelschweres SHT
-
schweres SHT
Grundlage für die Klassifikation sind die Dauer und das Ausmaß der posttraumatischen
Bewusstseinsstörung.
Ein wichtiges Tool zur Einteilung ist die Glasgow Coma Scale (GCS), die für Kinder
(< 12 Jahre) in Rücksicht auf die eingeschränkte verbale Antwortfähigkeit der Kinder
moduliert wurde und als Frankfurter GCS (F-GCS) bezeichnet wird ([Tab. 1] und [2]) [8].
Tab. 1 Die Frankfurter GCS (F-GCS) in Abhängigkeit vom Alter (1 – 24 Monate, > 24 Monate).
|
Verbale Antwort (V = „verbal“)
|
|
1 – 24 Monate
|
> 24 Monate
|
|
5
|
fixiert, verfolgt, erkennt, lacht
|
spricht verständlich, ist orientiert
|
|
4
|
fixiert, verfolgt inkonstant, erkennt nicht sicher, lacht nicht situationsbedingt
|
ist verwirrt, spricht unzusammenhängend, ist desorientiert
|
|
3
|
nur zeitweise erweckbar, trinkt und isst nicht
Bedrohreflex (ab 4/12 m) nicht sicher auslösbar
|
antwortet inadäquat, Wortsalat
|
|
2
|
ist motorisch unruhig, jedoch nicht erweckbar
|
unverständliche Laute
|
|
1
|
tief komatös, kein Kontakt zur Umwelt, keine visuell, akustisch oder sensorisch ausgelöste
motorische Reizantwort
|
keine verbalen Äußerungen
|
|
Motorische Antwort (M = „motor“)
|
|
6
|
greift gezielt auf Aufforderung, befolgt andere motorische Aufforderungen prompt
|
|
5
|
gezielte Abwehr eines Schmerzreizes möglich
|
|
4
|
ungezielte Beugebewegungen auf Schmerzreize
|
|
3
|
ungezielte Beugebewegungen auf Schmerzreize an den Armen, Strecktendenz an den Beinen
(Dekortikationshaltung)
|
|
2
|
Extension aller 4 Extremitäten auf Schmerzreize (Dezerebrationshaltung)
|
|
1
|
keine motorische Antwort auf Schmerzreize
|
|
Augenöffnen (E = „eye“)
|
|
4
|
spontanes Augenöffnen
|
|
3
|
Augenöffnen auf Anruf
|
|
2
|
Augenöffnen auf Schmerzreiz
|
|
1
|
kein Augenöffnen
|
|
Augensymptome (OV = „oculo-vestibular“)
|
|
4
|
konjugierte Augenbewegungen möglich, Lichtreaktion der Pupillen auslösbar
|
|
3
|
Puppenaugenphänomen auslösbar, dabei konjugierte Bulbusbewegungen
|
|
2
|
Divergenzstellung der Bulbi, besonders bei Auslösen des Puppenaugenphänomens oder
Kaltspülung des äußeren Gehörgangs
|
|
1
|
Ausbleiben der Augenbewegungen hierbei keine spontanen Augenbewegungen; weite, lichtstarre
Pupillen
|
Tab. 2 Klassifikation nach dem GCS-Summenscore.
|
Kategorie
|
GCS (Punkte)
|
Frankfurter GCS (Punkte)
|
|
leichtes SHT
|
13 – 15
|
17 – 19
|
|
mittelschweres SHT
|
9 – 12
|
12 – 16
|
|
schweres SHT
|
< 8
|
< 11
|
Symptomatik
Neben Bewusstseinsstörungen können auch Symptome aus dem vegetativen Bereich auftreten
wie Blässe, Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen. Bei schweren Verletzungen treten u. U.
fokal-neurologische Defizite wie Gefühlsstörungen und Lähmungen hinzu, bei schwersten
Traumata auch relevante Atem- und Kreislauffunktionsstörungen.
Verletzungsmuster
Durch eine äußere Gewalteinwirkung auf den Kopf kann es zu unterschiedlichen Verletzungsmustern
kommen: Weichteilverletzungen, die sehr stark bluten und somit das Kind gefährden
können. Des Weiteren kann es zu einzelnen oder mehreren Schädelfrakturen kommen ([Abb. 1 a, f]), die je nach Ausmaß operativ behandelt werden müssen, insbesondere, wenn es gleichzeitig
zur Zerreißung der harten Hirnhaut mit dem Risiko einer Liquorrhö kommt. Dieses Phänomen
erhöht die Infektionsgefahr. Durch Ruptur von Gefäßen kann es zur lokalen Mangeldurchblutung
oder zu diversen Blutungen intrakraniell kommen:
Abb. 1 Fallbeispiel schweres Schädel-Hirn-Trauma: 6-jähriger Junge, der als Fußgänger von
einem Auto erfasst wurde und ein schweres SHT mit Kalottenimpressionsfraktur (a) sowie akut subduralem Hämatom rechts (b) erlitt. Es erfolgten die dekompressive Hemikraniektomie, Hämatomausräumung und vorübergehende
Anlage einer ICP-Sonde (c). In einem ergänzend durchgeführten MRT zeigt sich zudem eine Kontusionsblutung rechts
parietookzipital (MRT T2hem ax) (d). Drei Monate später konnte die Kalotte, die in der Zwischenzeit kryokonserviert
wurde, wieder implantiert werden. Im CT werden auch posttraumatische Defektbildungen
sichtbar (e). Intraoperatives Bild einer Impressionsfraktur mit Kompression des Sinus sagittalis
superior und Z. n. Hebung und Fixierung der Fraktur (f).(Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Klinische Radiologie der
Medizinischen Fakultät und des Universitätsklinikums Münster (Direktor: Univ.-Prof.
Dr. med. Walter Heindel))
-
epidural (zwischen Schädelknochen und Dura mater → Letalität bis 70%; [Abb. 2]),
-
subdural (zwischen Dura mater und Gehirn → Letalität bis 50%; [Abb. 1 b]),
-
subarachnoidal (zwischen Spinngewebshaut und Gehirn, an der Hirnoberfläche) intrazerebral
(im Hirngewebe; [Abb. 1 d]).
Merke
Bei Nachweis eines Schädel-Hirn-Traumas müssen Neurochirurgen rasch hinzugezogen werden,
um im Falle einer Schädelfraktur, traumatischen Hirnblutung oder Hirnschwellung über
die Notwendigkeit einer Operation zu entscheiden.
Abb. 2 Fallbeispiel Epiduralhämatom: 3-jähriger Junge, der auf der Treppe gestürzt ist.
Unmittelbar nach dem Unfall lag der GCS bei 15 (sog. „freies Intervall“), verschlechterte
sich aber rasch präoperativ auf einen GCS von 5. Im Schädel-CT zeigte sich ein ausgedehntes
Epiduralhämatom mit Mittellinienverlagerung (a). Intraoperativ ist häufig eine Frakturlinie oberhalb des Hämatoms zu erkennen sowie
durch den Knochen bereits das Hämatom durchschimmernd (b). Ein postoperatives MRT zeigte eine vollständige Entfernung des Epiduralhämatoms
(c).(Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Klinische Radiologie der
Medizinischen Fakultät und des Universitätsklinikums Münster (Direktor: Univ.-Prof.
Dr. med. Walter Heindel))
Diagnostik
Die Wahl der Klinik
Generell sind Indikationen zur stationären Einweisung Bewusstseinstrübung, neurologische
Ausfälle, epileptische Anfälle, äußere Verletzungszeichen, rezidivierendes Erbrechen,
schwerer Traumamechanismus, schwerwiegende Vorerkrankungen, Gerinnungsstörungen etc.
Schlussendlich richtet sich die Wahl der Klinik nach ihrer Entfernung und Ausstattung.
Im Falle eines schweren SHT mit GCS < 9, zunehmender Vigilanzminderung und neurologischen
Defiziten sollte eine Klinik mit der Möglichkeit einer sofortigen neurochirurgischen
Versorgung sowie Expertise in kinderintensivmedizischer Betreuung angefahren werden
[8].
Anamnese
Zum standardisierten Vorgehen bei allen Schädel-Hirn-Verletzten gehört eine genaue
Anamneseerhebung am Unfallort mit Erfassung
-
des Unfallgeschehens (Hochrasanztrauma?, Sturz aus großer Höhe?),
-
des zeitlichen Ablaufs,
-
der beobachteten Symptome.
Klinische Beurteilung
Initial sollte eine rasche klinische Beurteilung mit Augenmerk auf die folgenden Aspekte
gerichtet werden:
-
neurologischer Status
-
Einschätzung nach (Frankfurter) GCS
-
Nachweis äußerer Verletzungszeichen
-
Hinweise auf epileptischen Anfall (Einnässen, Zungenbiss?)
Wesentlich ist die Erfassung von direkten oder indirekten Zeichen für ein schweres
SHT mit hohem Risiko für intrakranielle Verletzungen ([Infobox 1]). Je nach Anamnese muss auch – insbesondere bei Säuglingen – die Möglichkeit von
nicht akzidentellen Traumfolgen, z. B. im Sinne eines Schütteltraumas, gedacht werden
([Infobox 2], [Abb. 3]).
Infobox 1
Praxistipp: direkte und indirekte Verletzungszeichen
Direkte Zeichen:
Indirekte Zeichen:
-
initialer Bewusstseinsverlust
-
Amnesie zum Unfallhergang
-
Kopfschmerzen
-
rezidivierendes Erbrechen
-
Lethargie, Blässe u. a. vegetative Zeichen
Infobox 2
Hintergrundwissen: Schütteltrauma („Shaken Baby Syndrome [SBS]“)
Hinweise für nicht akzidentelle Traumafolgen (Schütteltrauma) [4]:
-
klinisch Zeichen einer schweren Hirnschädigung
-
Subduralblutungen (bilateral, ggf. mehrzeitig)
-
retinale Blutungen (meist bilateral)
-
ggf. Rippenfrakturen, metaphysäre Frakturen
-
fehlende, indadäquate oder inkonsistente Unfallanamnese
Abb. 3 Fallbeispiel Schütteltrauma: 1,5 Monate alter männlicher Säugling mit V. a. Schütteltrauma.
Nachweis ausgedehnter bilateraler Subduralhämatome (MRT T2ax, a), sowie retinaler Blutungen bds. (MRT T1ax, b). Im Langzeitverlauf Entwicklung eines posthämorrhagischen Hydrozephalus (MRT T2ax,
c). Langzeitfolgen eines schweren Schütteltraumas mit ausgedehnten Parenchymdefekten
des Großhirns (MRT T2ax, d).(Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Klinische Radiologie der
Medizinischen Fakultät und des Universitätsklinikums Münster (Direktor: Univ.-Prof.
Dr. med. Walter Heindel))
Abhängig von der initialen Einschätzung des Schweregrads des Traumas unter Berücksichtigung
des Unfallmechanismus und dem Vorhandensein einer Bewusstseinsstörung (BWST) wird
das weitere Vorgehen definiert. Insbesondere die niedrige Inzidenz von intrakraniellen
Verletzungen rechtfertigt ein differenziertes Vorgehen und die Implementierung von
Behandlungsalgorithmen, um so die Strahlenbelastung durch bildgebende Diagnostik als
potenzielle Gefährdungsquelle für den Langzeitverlauf zu reduzieren [9].
Diagnostikalgorithmen sind für Kinder mit fehlender Bewusstseinsstörung und Patienten
mit Nachweis einer Bewusstseinsstörung in [Abb. 4] und [5] dargestellt.
Merke
Gerade bei Kindern unter 2 Jahren ist es für den Untersucher schwierig, Symptome eines
Schädel-Hirn-Traumas wie auffällige Verhaltensänderungen, Schläfrigkeit, verminderte
Spontanmotorik und verzögerte Reaktion zu erfassen. Daher kommt den Angaben der Bezugsperson
hier eine große Bedeutung zu [10].
Abb. 4 Algorithmus bei fehlender Bewusstseinstrübung. Algorithmus zur Herangehensweise bei
Schädel-Hirn-traumatisierten Kindern ohne das Vorliegen einer Bewusstseinsstörung
(BWST).
Abb. 5 Algorithmus bei Vorhandensein einer Bewusstseinstrübung/neurologischen Symptomen.
Algorithmus zur Herangehensweise bei Schädel-Hirn-traumatisierten Kindern mit Vorliegen
einer Bewusstseinsstörung (BWST) und/oder neurologischen Symptomen.
Bildgebung
Eine bildgebende Diagnostik sollte immer erfolgen, wenn eine Bewusstseinsstörung vorliegt
und/oder sich in der klinischen Beurteilung Hinweise auf intrakranielle Verletzungsfolgen
ergeben ([Infobox 1]).
Folgende Modalitäten stehen zur Verfügung:
-
CT des Schädels: Methode der ersten Wahl zur Beurteilung akuter Verletzungen. Die
Anwendung erfolgt nicht als Routinemaßnahme, sondern nur bei klinischem Verdacht auf
das Vorliegen von intrakraniellen Verletzungen.
-
Sonografie: durch die Fontanelle, sofern diese noch geöffnet ist, zur intrakraniellen
Beurteilung sowie Sonografie der Kalotte zum Ausschluss von Schädelfrakturen.
-
MRT des Schädels: weniger sinnvoll in der Akutdiagnostik bei V. a. schweres SHT (Untersuchungsdauer,
ggf. Notwendigkeit einer Sedierung, Narkose), vertretbar bei milder oder fehlender
neurologischer Symptomatik und einem Unfallmechanismus, der eine bildgebende Diagnostik
erfordert; hoher Stellenwert zur Verlaufsbeobachtung und bei V. a. Scherverletzungen.
Therapie
Merke
Am Unfallort:
-
Atem- und Kreislaufstabilisierung, Lagerung mit Stifneck (Halsstütze) auf einer Vakuummatratze
(Cave: begleitende Wirbelsäulenverletzungen)
-
offene Verletzungen mit sterilen Kompressen abdecken und nur kontrollierte Kompression
dabei anwenden
-
Intubation bei GCS < 9
In der Klinik:
Operative Therapie
Den Zeitpunkt, die Reihenfolge und das Ausmaß einer operativen Therapie bei Kopfverletzungen
muss ein fachübergreifendes Team unmittelbar nach erfolgter Primärdiagnostik festlegen.
Dies erfolgt durch:
in Absprache und mit Unterstützung von:
Indikation zur invasiven Hirndruckmessung (ICP-Sonde)
In Abhängigkeit von der Primärdiagnostik und der zu erwartenden Dauer einer Bewusstseinseinschränkung
muss über die Anlage einer Hirndruckmesssonde (ICP-Sonde)/externen Ventrikeldrainage
entschieden werden. Insbesondere ermöglicht die invasive Hirndruckmessung die kontinuierliche
Überwachung hinsichtlich progredienter Hirnschwellung, raumfordernder intrakranieller
Hämatome sowie drohender Einklemmungen, sodass frühzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen
werden können. Ebenso kann über die Drainage Liquor abgelassen werden, was zu einer
temporären Reduktion des Hirndruckes führt. Die Einführung von Leitlinien, die bei
Patienten mit schwerem SHT die Versorgung mit einer ICP-Sonde fordern, hat zu einer
Zunahme günstiger Verläufe bei SHT-Patienten geführt [11], [12]. Für Kinder gibt es diesbezüglich aktuell wenig Evidenz, dennoch besteht die Empfehlung
zur Hirndruckmessung gemäß der Leitlinie bei Kindern mit schwerem bzw. mittelschwerem
SHT, Nachweis von Traumafolgen in der Bildgebung sowie starker Bewusstseinsstörung
und Notwendigkeit der längerfristigen invasiven Beatmung und Sedierung [8]. Dabei ist zu beachten, dass die Komplikationshäufigkeit bei Kindern höher ist als
bei Erwachsenen. Dazu gehören Stichkanalblutungen, Liquorleckagen- und Dislokationen.
Säuglinge und Kleinstkinder mit noch offener Fontanelle können palpatorisch und sonografisch
überwacht werden. Die Anlage einer ICP-Sonde ist in diesen Fällen primär nicht indiziert.
Indikation zur Operation
Einer notfallmäßigen operativen Versorgung über eine Kraniotomie bedürfen sowohl raumfordernde,
intrakranielle Verletzungen, wie z. B. traumatische Blutungen (Epiduralhämatome, Subduralhämatome,
intrakranielle Blutungen), als auch raumfordernde Impressionsfrakturen ([Abb. 1]). Neben dem bildgebenden Befund ist auch der klinische Befund entscheidend für die
Stratifizierung der Notwendigkeit und Dringlichkeit der Operation.
Merke
Epidurale Hämatome können sich trotz zunächst guten Befindens innerhalb von wenigen
Stunden (sog. freies Intervall) zur tödlichen Verletzung entwickeln. Trotzdem ist
die Prognose bei sofortiger chirurgischer Therapie bei dieser Hirnverletzung die beste
([Abb. 2]).
Dringliche Indikation zur operativen Versorgung haben basale Frakturen mit Liquorrhö
sowie Impressionsfrakturen ohne raumfordernde Komponente.
Bei Entwicklung eines ausgeprägten – meist sekundären – Hirnödems und konservativ
nicht zu therapierenden erhöhten Hirndrücken kann die Durchführung einer Entlastungskraniektomie
erforderlich sein. Deren Notwendigkeit ist jedoch insbesondere bei Kindern kritisch
zu sehen.
Konservative Therapie
Konservative Therapie bei leichtgradigem Schädel-Hirn-Trauma
-
stationäre Überwachung (siehe z. B. auch [Abb. 6], Ping-Pong-Fraktur)
-
engmaschige neurologische Verlaufsuntersuchungen
-
bei Wohlbefinden: Entlassung nach Hause, hierzu Absprache mit den Eltern und Sensibilisierung
der Eltern für Symptome, die auf Komplikationen des SHTs hinweisen
Monitoring bei Neurointensivbehandlung (GCS ≤ 8 bzw. F-GCS ≤ 11 nach AWMF-Leitlinie
[8]
-
Hirndruckmessung (ICP), kontinuierlich
-
arterielle Druckmessung (MAD), kontinuierlich
-
zentralvenöse Druckmessung (ZVD), möglichst kontinuierlich
-
Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung (Pulsoxymetrie) und des endtidalen CO2, kontinuierlich
-
EKG-Ableitung, kontinuierlich
-
genaue Flüssigkeitsbilanzierung
-
engmaschige Überwachung der Körpertemperatur
-
Laborkontrollen
-
wenn möglich wiederholt Elektroenzephalografie (EEG), Akustische Evozierte Potenziale
(AEP), Sensible Evozierte Potenziale (SEP)
-
wenn möglich transkranielle Doppler-Sonografie
-
neurologische und allgemeinpädiatrische Untersuchung (alle 4 – 6 Stunden, mindestens
1 × täglich)
Konservative Therapie bei mittel- oder schwergradigem Schädel-Hirn-Trauma
Zur (Neuro-)Intensivbehandlung auf einer Kinderintensivstation gehören nach einem
SHT:
-
die Lagerung mit 20 – 30° Oberkörperhoch- und Kopfmittelstellung,
-
das „minimal handling“ bei Pflegemaßnahmen, d. h. nur dringend erforderliche Maßnahmen,
-
die Flüssigkeits-/Volumenzufuhr mit dem Ziel eines zentralen Venendruckes (ZVD) von
5 – 8 mmHg,
-
die Beatmung mit milder Hyperventilation und einem arteriellen pCO2 von 35 – 40 mmHg,
-
die Analgosedierung mit z. B. Midazolam und einem Fentanylpräparat,
-
das Einsetzen von Antikonvulsiva zur Krampfprophylaxe mit z. B. Phenobarbital.
Rehabilitation
Die Behandlung nach der akuten Phase einer Schädel-Hirn-Verletzung wird auch bei den
jungen Patienten nach dem Phasenmodell der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAR) für Rehabilitation
durchgeführt ([Tab. 3]).
Tab. 3 Phasen der Rehabilitation.
|
Rehabilitation
|
Frührehabilitation
|
Akutklinik
|
|
Phase D:
Patienten, die weitestgehend selbstständig sind
|
Phase B:
überwachungspflichtige Patienten mit schweren Störungen des Bewusstseins, der Wahrnehmung
und Kommunikation
Phase C:
Patienten, die noch einen hohen pflegerischen Hilfsmittel- und Betreuungsbedarf haben
|
Phase A:
Akutphase (Operationen, Intensivmedizin)
|
Die Indikation zur neurologischen Rehabilitation eines Kindes oder Jugendlichen nach
akuter Schädigung des Nervensystems besteht, wenn gegen Ende der Akutbehandlung fortbestehende
Störungen körperlicher, geistiger oder seelischer Funktionen bestehen bzw. anzunehmen
sind [13] (siehe auch [Abb. 7]).
Insbesondere posttraumatische neuropsychiatrische Störungen haben ein verzögertes
Auftreten, häufig erst nach 1,5 – 2 Jahren. Diese können auch nach leichten SHT entstehen.
Eltern und Bezugspersonen sollten deshalb schon im Vorfeld dafür sensibilisiert werden
und langfristig mit einem Netzwerk in Kontakt stehen. Hier bietet sich der Bundesverband
Kinderneurologie-Hilfe e. V. an, der sich seit über 30 Jahren bundesweit für Kinder
mit erworbenen Hirnschädigungen nach Kopfverletzungen einsetzt.
Kinder- und Jugendrehabilitationskliniken mit Expertise in der Rehabilitation von
SHT-Patienten (Auswahl)
-
Helios Klinik Hohenstücken, 14772 Brandenburg
-
St. Mauritius Therapieklinik, 40670 Meerbusch
-
Helios Klinik Geesthacht, 21502 Geesthacht
-
Helios Klinik Hattingen, 45527 Hattingen
-
Schön Klinik Vogtareuth, 83569 Vogtareuth
Kontakthinweis
Bundesverband Kinderneurologie-Hilfe e. V.
E-Mail: info@Kinderneurologiehilfe.de
Internet: www.kinderneurologiehilfe.de
Nachsorge
Posttraumatische Kontrolluntersuchungen dienen der Aktualisierung des Ausmaßes der
traumatischen Schädigung. Sie sind Grundlage für die Begründung von Neuverordnungen
von Therapien und Hilfsmitteln. Die Prognoseeinschätzung beruft sich ebenfalls auf
die Befunde der Nachuntersuchungen.
Merke
Nachuntersuchungen bei Z. n. SHT
-
klinisch-neurologische Untersuchung
-
MRT
-
EEG und evtl. evozierte Potenziale
-
standardisierte Testverfahren (somatische, kognitive und psychologische)
Infobox 5
Hintergrundwissen
Posttraumatische Epilepsie wird unterschätzt
-
10,9% mit einem leichten SHT ≙ GCS 13 – 15 (Commotio) erleiden mindestens einen epileptischen
Anfall
-
5 – 21% aller Kinder erleiden posttraumatisch einen Anfall
-
32 – 40% davon haben wiederholte Anfälle
-
Insgesamt ist das Risiko für die Kinder, nach einem SHT an Epilepsie zu leiden, 8 ×
größer als bei der Normalbevölkerung [14]
Prognose und Langzeitfolgen
Prognose und Langzeitfolgen
Der Langzeitverlauf nach einer Hirnverletzung bei Kindern ist sehr individuell und
schlecht vorhersagbar. Die Kontrolluntersuchungen, insbesondere MRT-Aufnahmen, können
eine vorsichtige Aussage über den weiteren Verlauf ermöglichen. So wird die Primärschädigung
der sog. weißen Hirnsubstanz und auch ihre Weiterentwicklung in der Kernspintomografie
sichtbar [15].
Die aktuelle Literatur ist bez. prognostischer Zahlen bei einem kindlichen SHT und
dessen langfristigen Verlaufs nicht ergiebig. Aus dem Flyer des Registers für SHT-Erkrankungen
erfährt man, dass Patienten mit mittelschwerem SHT in 77% der Fälle nach 273 Tagen
und in 83% der Fälle nach 730 Tagen wieder die Schule besuchen [10].
In einer japanischen Studie aus dem Jahr 2017 wird angegeben, dass Kinder mit einem
schweren SHT zu 56,6% innerhalb eines Jahres sterben und 15% ein gutes Befinden nach
10 Jahren zeigen [16].
Eine Metaanalyse aus den USA (2013) ergab Verhaltensstörungen von 50% bei den hirnverletzten
Kindern [17]. Eine andere Arbeit aus Australien (2015) unterstützt die These der psychischen
Spätfolgen [18].
Dennoch können Kinder mit schweren Hirnverletzungen nach entsprechend rascher Notfallversorgung
und Rehabilitation eine gute Prognose aufweisen, da bei jungen Menschen das Gehirn
eine erhöhte Flexibilität, Entwicklungsplastizität und Möglichkeit der Regeneration
insbesondere von sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten aufweist [19].
Infobox 6
Hintergrundwissen
Mögliche Spätfolgen nach Schädel-Hirn-Trauma [20], [21].
-
kognitive Leistungsminderungen
-
Konzentrationsstörungen
-
Aufmerksamkeitsstörungen
-
soziale Anpassungsstörungen
-
Entwicklungsverzögerung
-
emotionale Defizite (Labilität, Apathie)
Prävention
Schädel-Hirn-Verletzungen lassen sich durch vorbeugende Schutzmaßnahmen zu über 90%
vermeiden [22].
Abb. 6 Fallbeispiel Ping-Pong-Fraktur: Ein 9 Monate altes Mädchen mit Z. n. Sturz auf den
Hinterkopf zeigte klinisch eine tastbare Impression. Im CT stellt sich eine Impressionsfraktur
rechts okzipital dar (a). In der Sonografie des Schädels lässt sich diese Ping-Pong-Fraktur (Schädel ist
wie ein eingedrückter Tischtennisball verformt) gut abgrenzen (b). Die meisten heilen konservativ gut aus, eine Operation ist nur noch bei neurologischen
Symptomen oder höhergradiger Kompression des Hirnparenchyms indiziert.(Quelle: Mit
freundlicher Genehmigung des Instituts für Klinische Radiologie der Medizinischen
Fakultät und des Universitätsklinikums Münster (Direktor: Univ.-Prof. Dr. med. Walter
Heindel))
Da Stürze aus der Höhe bei Säuglingen häufig zu schweren Verletzungen führen und vermeidbar
sind, sollten insbesondere unerfahrene Eltern verstärkt darüber aufgeklärt werden.
Normale Altersgegenstände stellen schon ein Risiko dar.
Abb. 7 Flussdiagramm – Aufgaben neurologischer Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter.
Zu Hause sollte durch kontinuierliche Aufsicht bei Sturzgefahr (Wickeltisch etc.)
die Gefahr reduziert, wenn nicht ausgeschlossen werden. Auch Antirutschsocken oder
feste Schuhe bedeuten dort eine Vorsorge. Hochbetten sind erst für Schulkinder geeignet
und dann mit entsprechender Sicherheitsvorrichtung. Im Straßenverkehr sind altersgemäße
Sitze (Auto und Fahrrad) zu benutzen. Beim Fahrradfahren und bei sportlichen Aktivitäten
ist ein entsprechender Schutzhelm immer zu tragen.
Fazit
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Die Anzahl schwerer Schädel-Hirn-Traumata hat wegen gezielter Präventionsmaßnahmen
(Helm, Kindersitz, etc.) abgenommen, nicht aber die Zahl gewaltbedingter Schädelverletzungen.
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Das Schädel-CT ist die Methode der ersten Wahl in der Notfalldiagnostik bei V. a.
das Vorliegen einer intrakraniellen Verletzung, bei Säuglingen und Kleinkindern die
Sonografie.
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Das MRT ist die Methode der ersten Wahl zur geplanten/differenzierten Verlaufskontrolle
und Einschätzung der Prognose nach Schädel-Hirn-Verletzung.
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Bei V. a. mittelschweres oder schweres SHT sollte möglichst direkt eine Klinik mit
neurochirurgischer Expertise ausgewählt werden.
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Eine Hirndruckmesssonde sollte bei Kindern wegen erhöhter Komplikationsrate mit Zurückhaltung
gelegt werden. Sie ist jedoch indiziert bei verschlossener Fontanelle, wenn mit einer
längeren Beatmungszeit zu rechnen ist oder wenn in der initialen Bildgebung bereits
schwere Verletzungsfolgen oder eine Hirnödembildung zu sehen sind.
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Eine Beurteilung über Langzeitfolgen nach SHT bei Kindern ist frühestens nach 2 Jahren
möglich.