Der Klinikarzt 2018; 47(06): 251
DOI: 10.1055/a-0626-4323
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Klinische Infektiologie

Winfried V. Kern
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Publication Date:
25 June 2018 (online)

Infektionen sind bei unseren stationären Patienten häufig. Etwa 20–30 % aller Aufnahmen in deutschen Krankenhäusern erfolgen im Zusammenhang mit Infektionen, in 10 % ist die Infektion die Hauptdiagnose. Hinzu kommen nosokomiale Infektionen – oft bei den Patienten mit kritischen Grundkrankheiten, im Rahmen einer Tumorchemotherapie oder eines komplexen operativen Eingriffs. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass im Mittel jeder 4. stationäre Patient mit Antibiotika behandelt wird, auf Intensivstationen ist es im Schnitt jeder zweite, auf einigen Abteilungen bekommt nahezu jeder Patient ein Antibiotikum. Ein rationaler Einsatz dieser Medikamente ist heute wichtiger denn je. Wir haben weltweit eine zunehmende Resistenzentwicklung. Antibiotika verursachen mehr Nebenwirkungen als wir glauben. Kürzlich erschien eine aktuelle gut gemachte Studie, in der auf eine Antibiotikabehandlung zurückzuführende Nebenwirkungen bei rund 20 % der Patienten beobachtet wurden – zugleich mussten aber 20 % der Behandlungen seitens der Indikation als umstritten gewertet werden. Wir müssen diese Verantwortung – trotz Arbeitszeitverdichtung, Fallzahlsteigerung und Ökonomisierung in der Krankenhausmedizin und trotz (oder besser wegen) unserer immer komplexeren Fälle – annehmen.

Der Schwerpunkt „Klinische Infektionen“ in diesem Heft ist insofern speziell. Es geht nicht um die „großen Vier“ (Malaria, HIV/AIDS, Tuberkulose, chronische Virushepatitis) oder um das, was einige Kollegen „Exoten“ nennen – womit wir uns als Infektiologen aber eigentlich gerne beschäftigen (wie z. B. Morbus Whipple, Histoplasmose, OPSI-Syndrom, Syphilis u. a.) und uns manchmal vom Alltag ablenken. Es geht gerade um diesen Alltag in unseren Kliniken – um ABS (Antibiotic Stewardship – rationale Therapie), multiresistente gramnegative Erreger und Vancomycin-resistente Enterokokken. Bei diesen Themen – aber auch beim Thema Endokarditis – zeigt sich, dass wir interdisziplinär arbeiten müssen, dass wir vorsichtig und kritisch sein müssen gegenüber dem, was als Wissenschaft und Evidenz gepredigt wird, dass wir dazulernen müssen auch indem wir kritische Fragen stellen.

Wer hätte gedacht, dass die europäischen Leitlinien für Endokarditis so viele Schwächen und Inkonsistenzen haben? Wer hätte gedacht, dass wir bezüglich Hygienemaßnahmen (vor allem Screening und Isolierung) sehr viel kritischer hinsichtlich Aufwand und Nutzen für den Patienten sein müssen? War Ihnen klar, dass wir mit unseren zwei- bis dreimal täglichen Kurzinfusionen von Betalaktamen eigentlich eine suboptimale Behandlung verordnen? Kennen Sie Ihren Verbrauch an Cephalosporinen Im Vergleich zu Penicillinen, und können sie das bewerten? Wussten Sie, dass es in Frankreich und den USA, aber auch in anderen Ländern schon länger eine Berichtspflicht zu ABS-Maßnahmen im Krankenhaus gibt, und die Kliniken dazu unter Qualitätsmanagementgesichtspunkten bewertet werden? Können Sie sich vorstellen, dass > 50 % der „Harnwegsinfektionen“ im Krankenhaus gar keine sind? Viele Entwicklungen sind neu. Wir müssen in unserem Gesundheitssystem lernen, die für den Patienten relevanten Neuerungen auch ohne zu große Verzögerung umzusetzen – auch wenn es Investitionen kostet, auch wenn es bedeutet, alte gewohnte Standards zu verlassen.

Eine Frage meinerseits zum Schluss: wussten Sie, dass Infektiologie immer noch hochspannend ist, und denken Sie nicht auch, dass wir hier ebenso wie in anderen Gebieten anspruchsvolle Medizin anbieten müssen? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Spaß beim Lesen sowie knifflige und interessante, aber sehr erfolgreich gelöste Fälle in der Praxis.

Ihr
Winfried V. Kern