CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2018; 78(07): 697-706
DOI: 10.1055/a-0636-4224
GebFra Science
Original Article/Originalarbeit
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Perinatales Outcome bei Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund – retrospektive vergleichende Datenauswertung von 3000 Geburtsverläufen

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
Nicole Boxall*
1   Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Germany
,
Matthias David*
1   Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Germany
,
Elisabeth Schalinski
2   Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin, Berlin, Germany
,
Jürgen Breckenkamp
3   Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 3 – Epidemiologie & International Public Health, Bielefeld, Germany
,
Oliver Razum
3   Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 3 – Epidemiologie & International Public Health, Bielefeld, Germany
,
Lars Hellmeyer
2   Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin, Berlin, Germany
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias David
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Gynäkologie
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Germany   

Publikationsverlauf

received 10. Oktober 2017
revised 29. Mai 2018

accepted 29. Mai 2018

Publikationsdatum:
25. Juli 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Einleitung Perinataldaten von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund wurden in Deutschland bisher nicht systematisch untersucht. Zahlreiche Angaben zu wichtigen mütterlichen und kindlichen Outcomes wurden vergleichend analysiert. Hauptzielparameter der Studie waren Häufigkeit und Indikationsstellung von Sectios.

Methodik Die Perinataldaten einer Berliner Klinik wurden retrospektiv ausgewertet. Die Gruppenzuordnung der Frauen (vietnamesischer Migrationshintergrund vs. autochthon) erfolgte mittels Namensanalyse. Datensätze von 3002 Gebärenden, darunter 999 Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, konnten eingeschlossen werden. Mittels logistischer Regressionsanalysen wurden u. a. die Zusammenhänge zwischen primärer bzw. sekundärer Sectio sowie verschiedenen kindlichen Outcomes in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund (Exposition) untersucht.

Ergebnisse Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund haben mit 8,0% primären und 12,6% sekundären Sectios eine geringere Sectiohäufigkeit als Frauen ohne Migrationshintergrund (11,1% primäre resp. 16,4% sekundäre Sectio). Die Regressionsanalysen zeigen für Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund eine statistisch nicht signifikant geringere Chance einer primären (OR 0,75; p = 0,0884) und einer sekundären Sectio (OR 0,82; p = 0,1137). Ein vietnamesischer Migrationshintergrund war mit einer höheren Chance für einen Dammschnitt, nicht aber für einen Dammriss 3./4. Grades verbunden. Ein vietnamesischer Migrationshintergrund hat keinen signifikanten Einfluss auf ungünstige 5-min-Apgar-Werte ≤ 7 und ungünstige arterielle Nabelschnur-pH-Werte ≤ 7,10. Neugeborene von Müttern mit vietnamesischen Migrationshintergrund haben eine höhere Chance eines relativ höheren Geburtsgewichts (> 3110 g).

Zusammenfassung Es fand sich kein Hinweis, dass Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund häufiger per Kaiserschnitt entbunden werden. Auch hinsichtlich wichtiger kindlicher Outcome-Daten zeigten sich keine Unterschiede zu Frauen der Vergleichsgruppe. Insgesamt geben die Ergebnisse keine Hinweise auf eine schlechtere Betreuungsqualität von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Berlin trotz in der Versorgungsrealität vorhandener Kultur- und Kommunikationsbarrieren.


#

Einleitung

Migrantinnen machen einen ständig wachsenden Anteil unter den Gebärenden in vielen westlichen Industrieländern aus. „Die Migrantin“ gibt es allerdings nicht, die Heterogenität in der Zuwanderungsgeschichte, im Gesundheitszustand, in Wissen und Vorstellungen rund um Schwangerschaft und Geburt je nach ethnischer bzw. regionaler Herkunft ist zu beachten [1], [2]. Insgesamt leben ca. 165 000 Personen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland, davon haben etwa die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit. Von den 165 000 Menschen vietnamesischer Herkunft sind ca. 104 000 selbst zugewandert (1. Migrationsgeneration) und etwa 61 000 haben keine eigene Migrationserfahrung (2. bzw. 3. Generation) [3].

Eine zahlenmäßig bedeutende Zuwanderung aus Vietnam begann nach dem Ende des Vietnamkrieges und der Vereinigung von Nord- und Südvietnam. Es kamen 2 große Gruppen von vietnamesischen Migranten in die Bundesrepublik (BRD) und in die Deutsche Demokratische Republik (DDR), zwischen 1975 und 1986 sog. Boots- oder Kontingentflüchtlinge (BRD) und die „Vertragsarbeiter“, welche in den 1980er-Jahren von der DDR angeworben wurden [4], [5]. Seit 1990 wanderten Vietnamesinnen und Vietnamesen vor allem im Zuge der Familienzusammenführung (Angehörige der beiden o. g. Zuwanderergruppen) sowie im Rahmen von Asylverfahren ein. Von 1998 bis 2009 war Vietnam unter den 10 zugangsstärksten Herkunftsländern von Asylbewerbern [5], aktuell nehmen vietnamesische Zuwanderer Rang 28 in der Ausländerstatistik des Statischen Bundesamtes ein [6]. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Zuwanderung von Vietnamesen nach Deutschland findet sich bei Schaland und Schmiz (2015), Hillmann (2005) und Dennis (2007) [5], [7], [8]. Das Durchschnittsalter der vietnamesischen Staatsangehörigen in Deutschland beträgt 37,1 Jahre; die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der vietnamesischen Migrantinnen und Migranten mit eigener Migrationserfahrung in Deutschland 15,5 Jahre [5].

Internationale Studien zeigen, dass mit der Migration verbundene ungünstige sozioökonomische Lebensumstände, Unterschiede in der Schwangerschafts- und Geburtsbetreuung, Kommunikationsschwierigkeiten, kulturelle, aber auch bisher unzureichend verstandene biologische Faktoren zu mehr Frühgeburten, einer erhöhten perinatalen Mortalität oder einer erhöhten Frequenz operativer Entbindungen bei Migrantinnen führen können [9], [10], [11].

Zu geburtshilflichen Parametern bei vietnamesischen Migrantinnen sind in den letzten 15 Jahren weltweit eine Reihe von englischsprachigen Publikationen erschienen [12], deren wesentliche, zum Teil kontroverse Ergebnisse sich wie folgt zusammenfassen lassen:

  1. Arbeiten aus der Schweiz, Neuseeland und Australien zeigen aktuell eine höhere Rate sekundärer Sectios [13], [14], [15], während andere Studien aus Australien, Norwegen, Taiwan und den USA eine insgesamt geringere Chance vietnamesischer Zuwanderinnen für eine Entbindung per Sectio gegenüber den Vergleichskollektiven einheimischer Frauen beschreiben [16], [17], [18], [19], [20], [21], [22].

  2. In einigen Studien wird über eine deutlich höhere Prävalenz für Gestationsdiabetes (GDM) bei vietnamesischen Migrantinnen berichtet [2], [18], [23], deren Kinder (trotzdem) insgesamt bei der Geburt signifikant leichter als die Kinder der Vergleichsgruppen von Nichtmigrantinnen sind [17], [24], [25].

  3. Trinh et al. (2013) berichten über eine signifikant höhere Episiotomierate bei vietnamesischen gegenüber australischen Frauen ohne Migrationshintergrund [26].

  4. Im Ergebnis eines systematischen Literaturreviews bezeichnen Wheeler et al. (2012) eine asiatische Herkunft als unabhängigen Risikofaktor für schwere Dammverletzungen bei Migrantinnen in westlichen Ländern [27].

Insgesamt sind bisher zu den Themen Betreuung von Migrantinnen in Schwangerschaft und Geburt sowie Perinataldaten von Migrantinnen bzw. Frauen mit Migrationshintergrund im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern in Deutschland nur sehr wenige Studien durchgeführt worden, obwohl dieses Thema seit Langem in der Klinikrealität in Großstädten und industriellen Ballungsräumen eine Rolle spielt. Über die perinatalen Outcomes bei Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland wurden bisher keine Studienergebnisse publiziert. Mit unserer Analyse sollte, angeregt durch die oben dargestellten, zum Teil kontroversen Forschungsergebnisse aus der internationalen Literatur, überprüft werden, ob Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland im Vergleich zu Nichtmigrantinnen häufiger einen Gestationsdiabetes entwickeln, ob es aufgrund anatomischer Gegebenheiten (durchschnittlich geringere Körpergröße) häufiger zu einem Geburtsstillstand, schweren Dammverletzungen und sekundären Kaiserschnittentbindungen kommt. Sprachschwierigkeiten und der Einfluss soziokultureller Faktoren könnten sich ungünstig auf perinatale Outcomes auswirken. Hieraus ergaben sich für Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund vs. Nichtmigrantinnen folgende konkrete Forschungsfragen: Unterscheidet sich die Häufigkeit primärer und sekundärer Sectios? (Hauptfragestellung, Grundlage der Fallzahlschätzung). Nebenfragestellungen:

  1. Besteht ein Unterschied in den Sectioindikationen?

  2. Kommt es zu einer höheren Gewichtszunahme in der Schwangerschaft und höheren Anzahl an GDM bei Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund?

  3. Haben Kinder von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund ein höheres oder niedrigeres Geburtsgewicht?

  4. Gibt es Unterschiede in der Episiotomierate und der Rate schwerer Dammrisse 3. und 4. Grades?

  5. Gibt es Unterschiede beim 5-min-Apgar-Wert oder dem arteriellen Nabelschnur-pH-Wert der Neugeborenen?

  6. Werden Neugeborene von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund post natum häufiger in eine Kinderklinik verlegt?


#

Patientinnen und Methodik

Untersuchungskollektive

Die Studienkollektive wurden am Berliner Krankenhaus Vivantes Klinikum im Friedrichshain rekrutiert. In der dortigen Geburtsklinik wird seit Jahren ein großer Teil der vietnamesischen Migrantinnen in Berlin entbunden, was vor allem auf die Lage des Klinikums zurückzuführen ist. Als Folge der historischen Entwicklungen in Berlin konzentriert sich die vietnamesische Wohnbevölkerung größtenteils im Ostteil; die meisten Menschen mit vietnamesischen Migrationshintergrund wohnen in Marzahn und Lichtenberg sowie teilweise in Hohenschönhausen [28].

Laut Fallzahlschätzung war zur Beantwortung der Hauptfragestellung (Sectiohäufigkeit) eine Studienpopulation von insgesamt rund 1000 vietnamesischen Schwangeren nötig. Zur Erhöhung der Power der Studie wurden jeder Frau mit Migrationshintergrund (Studienkollektiv) 2 Frauen zur Bildung einer Vergleichsgruppe zugeordnet (jeweils die davor und danach im Geburtenbuch aufgeführte Nichtmigrantin).

Daraus ergab sich eine Gesamtstudienpopulation, die sich zu einem Drittel aus Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund (Studienkollektiv; n = 1000) und zwei Dritteln Nichtmigrantinnen (Vergleichskollektiv; n = 2000) zusammensetzte. Basis für die Datenerfassung waren sowohl die Geburtenbücher des Zeitraums Februar 2010 bis Juni 2015 als auch das PC-gestützte Geburtendokumentationssystem der o. g. Geburtsklinik.


#

Ein- und Ausschlusskriterien

Ausgeschlossen wurden Frauen mit einer Mehrlingsschwangerschaft, mit einem Schwangerschaftsabbruch (unabhängig von der Schwangerschaftswoche) und/oder unvollständiger Dokumentation.


#

Migrationshintergrund

Die Zuordnung zu den beiden Kollektiven (Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund und Frauen ohne vietnamesischem Migrationshintergrund, hier als Nichtmigrantinnen im Sinne der vorliegenden Studie bezeichnet) erfolgte auf der Basis einer Namensanalyse [29], [30], [31], [32], [33].

Namensanalysen werden seit den 1980er-Jahren in der Medizin und benachbarten Fachdisziplinen für die Migrations- und Public Health-Forschung verwendet [34], [35], [36], [37], da Namen aus bestimmten Regionen recht spezifisch auf die regionale oder ethnische Herkunft des Namensträgers hinweisen [38], [39]. So nutzte beispielsweise Lauderdale (2006) eine Namensliste aller sozialversicherten Personen zum Screening nach arabischstämmigen Frauen in kalifornischen Geburtsregistern [39]. Unter anderem Shin und Yu (1984) sowie Rosenwaike (1994) befassten sich explizit mit der Namensanalyse asiatischer Migrantengruppen in den USA [40], [41].

In Vietnam gibt es nur ca. 300 Familiennamen [38]. Fast 92% der Vietnamesen tragen einen der 14 häufigsten vietnamesischen Familiennamen [42]. Die vietnamesischen Vor- und Nachnamen ermöglichen eine relativ sichere Identifizierung der Personen vietnamesischer Herkunft und sind gut von Namen anderer Regionen, insbesondere anderer asiatischer Migrantinnengruppen, zu unterscheiden [42]. Beispiele für die Gruppenzuordnung über vietnamesische Namen und entsprechende Forschungsprojekte finden sich bei Taylor et al. (2011) sowie Novotny und Cheshire (2012) [43], [44].

Die Namensanalysen für unsere Studie wurden von einem vietnamesischen Muttersprachler und einer weiteren Person unabhängig voneinander durchgeführt. Eingeschlossen wurden nur Frauen mit eindeutig vietnamesischen Vor- und Familiennamen. In den wenigen unklaren Fällen wurden die nicht eindeutig zuordenbaren Frauen nicht in die Auswertung eingeschlossen. Die Zuordnung zur Gruppe der Frauen mit Migrationshintergrund und zur Gruppe der Nichtmigrantinnen wurde durch die Angaben in der Klinikperinatalerhebung (sog. Nationalitätenschlüssel in der PC-Dokumentation) ergänzt. Der Gruppe der Nichtmigrantinnen (autochthones Vergleichskollektiv) wurden dementsprechend nur Frauen mit deutscher Nationalität zugeordnet.


#

Datenschutz

Die Studie wurde nach ausführlicher Beratung im und mit Zustimmung des gemeinsamen Institutional Board der beiden an der Studienvorbereitung und Datenauswertung beteiligten Kliniken durchgeführt. Die Satzung der Charité zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und die Bestimmungen des Berliner Datenschutzgesetzes sowie der Vivantes-Kliniken wurden beachtet.


#

Statistik und Gruppenbildung

Haupt- und Nebenfragestellungen wurden anhand deskriptiver Analysen sowie linearer bzw. logistischer Regressionsmodelle untersucht. Für die Hauptfragestellung nach den Unterschieden bei den Quoten primärer und sekundärer Sectios wurden neben dem Migrationsstatus als weitere Determinanten in die logistischen Regressionsmodelle aufgenommen: Alter (18 – 24 Jahre, 25 – 29 Jahre, 30 – 34 Jahre, 35 Jahre und älter), Gestationsdiabetes (ja/nein), Body-Mass-Index (BMI) (< 25 kg/m2; < 30 kg/m2; ≥ 30 kg/m2), Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen (0 – 9; 10 und mehr) sowie der Zeitpunkt der 1. Vorsorgeuntersuchung (Woche 0 – 10; 11 – 20; 21 und höher). Die Gewichtszunahme der Schwangeren wurde mittels Differenz des BMI zu Beginn der Schwangerschaft (während der 1. Vorsorgeuntersuchung) und des BMI vor der Geburt bestimmt. In einer linearen Regressionsanalyse mit dem Outcome „Differenz des BMI-Wertes“ wurden die Unterschiede zwischen vietnamesischen Frauen und der Vergleichsgruppe bestimmt und für den Confounder Alter (4 Altersgruppen) sowie den Prädiktor Gestationsdiabetes adjustiert.

Für die deskriptiven Auswertungen und die logistischen Modelle wurden die Outcomes „5-min-Apgar-Werte“ und „arterielle Nabelschnur-pH-Werte“ dichotomisiert (Apgar-Werte 0 – 7 vs. 8 – 10 bzw. pH-Werte ≤ 7,10 vs. > 7,10). In die Regressionsanalysen wurden jeweils neben dem Migrationsstatus die Confounder Alter (4 Altersgruppen), Parität (Nulli- vs. Multipara), Entbindungsmodus (spontan, VE, primäre Sectio, sekundäre Sectio), Frühgeburt (ja/nein), Kindslage (Schädellage ja/nein), Geburtsgewicht ≤ 2900 g (entsprechend 20. Perzentile – ja/nein) aufgenommen.

Mit einem logistischen Regressionsmodell wurde der Einfluss des Migrationsstatus auf das Geburtsgewicht analysiert. Hierzu wurde das „Outcome“ Geburtsgewicht mittels Medianwert (< 3310 vs. ≥ 3310 g) dichotomisiert. Da Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund durchschnittlich kleiner sind als Nichtmigrantinnen (Mittelwerte: 156,1 vs. 167,6 cm), wurde neben den Variablen Migrationsstatus, Frühgeburt (ja/nein), Gestationsdiabetes (GDM) (ja/nein), Gewichtszunahme (kg), Gewicht bei der Erstuntersuchung (kg), auch die Körpergröße (cm) der Mütter mitberücksichtigt. Die letztgenannten 3 wurden als kontinuierliche Variablen ausgewertet.

Ebenfalls mit einem logistischen Regressionsmodell wurde die Chance für eine Episiotomie in den beiden Untersuchungskollektiven bestimmt. Hierzu wurden die Variablen Alter, Parität (Nulli-/Multipara), Körpergröße (≤ 160/>160 cm), Schwangerschaftswoche (SSW) bei Geburt (< 37/0 SSW/≥ 37 SSW) Geburtsmodus, mütterlicher BMI sowie Kopfumfang des Kindes (≤ 35 cm/> 35 cm) berücksichtigt. Für die Berechnung der Chance für einen Dammriss 3. oder 4. Grades wurden in die logistische Regression die Variablen Episiotomie (ja/nein), Alter, Parität und mütterliche Körpergröße einbezogen.

Im logistischen Modell mit dem Outcome „Verlegung in eine Kinderklinik (ja/nein)“ wurden neben dem Migrationsstatus die Confounder Alter (4 Altersgruppen), Entbindungsmodus (spontan, Vakuumextraktion, primäre Sectio, sekundäre Sectio), Frühgeburt (ja/nein), Kindslage (Schädellage ja/nein), Apgar-5-min-Werte (0 – 7, 8 – 10) und Nabelschnur-pH-Werte (≤ 7,10 vs. > 7,10) berücksichtigt.

Die Datenanalysen erfolgten mit SAS 9.3. Es fanden sich weder Kollinearitäten noch Effektmodifikationen. Als Signifikanzniveau wurde p = 0,05 festgelegt.


#
#

Ergebnisse

Lebensalter und Parität

3159 Gebärende wurden erfasst. Datensätze von 3002 Gebärenden, darunter 999 Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, konnten eingeschlossen werden. Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund wurden vor allem ausgeschlossen wegen einer Zwillingsschwangerschaft (n = 19), einem Schwangerschaftsabbruch (n = 23) und unvollständiger Dokumentation (n = 12). Das durchschnittliche Alter der Gebärenden im Gesamtkollektiv betrug 30,4 Jahre (Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund: 29,2 Jahre; Nichtmigrantinnen 31,0 Jahre). 40,1% der Frauen mit Migrationshintergrund waren zum Zeitpunkt der aktuellen Geburt Erstgebärende, im Nichtmigrantinnenkollektiv waren es 59%. Dieser und andere signifikante Unterschiede wurden beachtet und im Zuge der Regressionsanalysen adjustiert.


#

Hauptfragestellung

Primäre und sekundäre Sectiohäufigkeit

Die Verteilung von Spontan- und von operativen Geburten in den beiden Untersuchungskollektiven zeigt [Abb. 1]: Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund hatten mit 8,0% primären und 12,6% sekundären Sectios insgesamt weniger Kaiserschnittentbindungen als Nichtmigrantinnen (primäre Sectio: 11,1%; sekundäre Sectio: 16,4%). Die Regressionsanalysen zeigen (nach Adjustierung) für die Frauen mit Migrationshintergrund eine – statistisch nicht signifikante – geringere Chance für eine primäre (OR 0,75; Kl 0,56 – 1,02; p = 0,0884) und für eine sekundäre Sectio (OR 0,82; Kl 0,64 – 1,04; p = 0,1137). Frauen mit einer relativ geringeren Anzahl (0 bis 9) an Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen (OR 2,02; Kl 1,53 – 2,61, p = 0,0164) und/oder einem Alter über 35 Jahren (OR 1,87; Kl 1,24 – 2,83; p = 0,0034) hatten eine signifikant höhere Chance für eine primäre Sectio.

Zoom Image
Abb. 1 Geburtsmodus von Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015.

#
#

Nebenfragestellungen

1. Indikationen für eine operative Geburt:

[Tab. 1] listet die häufigsten Indikationen für eine primäre und sekundäre Sectio in den beiden Untersuchungskollektiven auf.

Tab. 1 Indikationen für eine Sectio (Mehrfachnennungen möglich), Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015.

Operationsindikation

Nichtmigrantinnen

Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund

alle Frauen

primäre Sectio

n = 303

  • Z. n. Sectio/anderen Uterusoperationen

58 (30,5%)

39 (48,8%)

107 (35,3%)

  • Beckenendlage

38 (17,0%)

12 (15,0%)

50 (16,5%)

  • sonstige

39 (17,5%)

8 (10,0%)

47 (15,5%)

  • mütterliche Erkrankung

25 (11,2%)

4 (5,0%)

29 (9,6%)

  • Missverhältnis Kopf/Becken

16 (7,2%)

11 (13,8%)

27 (8,9%)

  • pathologisches CTG

20 (9,0%)

4 (5,0%)

24 (7,9%)

  • Frühgeburt

18 (8,1%)

3 (3,8%)

21 (6,9%)

  • Plazentainsuffizienz (V. a.)

15 (6,7%)

3 (3,8%)

18 (5,9%)

  • Gestose/Eklampsie

12 (5,4%)

3 (3,8%)

15 (5,0%)

sekundäre Sectio

n = 455

  • pathologisches CTG

111 (33,7%)

31 (24,6%)

142 (31,2%)

  • protrahierte Geburt/Geburtsstillstand in der Eröffnungsphase

74 (22,5%)

27 (21,4%)

101 (22,2%)

  • Missverhältnis Kopf/Becken

46 (14,0%)

34 (27,0%)

80 (17,6%)

  • protrahierte Geburt/Geburtsstillstand in der Austreibungsphase

53 (16,1%)

20 (15,9%)

73 (16,0%)

  • vorzeitiger Blasensprung

52 (15,8%)

12 (8,5%)

64 (14,1%)

  • Z. n. Sectio/anderen Uterusoperationen

32 (9,7%)

25 (19,8%)

57 (12,5%)

  • Beckenendlage

34 (10,3%)

13 (10,3%)

47 (10,3%)

  • Frühgeburt

33 (10,0%)

4 (3,2%)

37 (8,1%)

  • grünes Fruchtwasser

21 (6,4%)

8 (6,4%)

29 (6,4%)

In 48,8% war die Indikation zur primären Sectio in der Migrantinnengruppe der „Zustand nach Sectio/andere Uterus-Operationen“, in der Gruppe der Nichtmigrantinnen waren es mit dieser Indikation 30,5%. Bei den Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund war die Indikationsstellung „Missverhältnis Kopf/Becken“ sowohl für eine primäre als auch für eine sekundäre Sectio häufiger als in der Nichtmigrantinnengruppe. Bei kindlicher Beckenendlage hatten die Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund deutlich häufiger eine vaginale Geburt als die Frauen im Vergleichskollektiv. Nichtmigrantinnen hatten signifikant häufiger eine primäre Sectio bei Nichtschädellage des Kindes.


#

2. Gewichtsveränderung während der Schwangerschaft und Gestationsdiabetes (GDM)

In der Gruppe der Patientinnen mit Migrationshintergrund zeigte sich eine durchschnittliche Gewichtszunahme von 12,0 vs. 13,9 kg im Vergleichskollektiv im Verlauf der Schwangerschaft. Unter Einbeziehung der Körpergröße war für beide Patientengruppen eine Zunahme von 4,9 BMI-Einheiten (Medianwert) im Schwangerschaftsverlauf zu verzeichnen. Der Einfluss des Migrationsstatus auf die Gewichtsveränderung während der Schwangerschaft wurde mittels linearer Regressionsanalyse untersucht: Es zeigt sich kein signifikanter Zusammenhang mit der BMI-Veränderung (p = 0,55). In der Gruppe mit vietnamesischem Migrationshintergrund wurde bei 9,1% der Frauen ein GDM diagnostiziert, ein signifikant höherer Anteil als in der Vergleichsgruppe der Nichtmigrantinnen mit 6,7% (p = 0,018).


#

3. Geburtsgewicht

Das mittlere kindliche Geburtsgewicht in der Gruppe mit vietnamesischem Migrationshintergrund betrug 3212 g, des Vergleichskollektivs 3271 g. Um mithilfe des logistischen Regressionsmodells den Einfluss des Migrationsstatus auf das Geburtsgewicht zu schätzen, wurde dieses dichotomisiert. Ein Geburtsgewicht unter dem Medianwert von 3310 g wurde als niedriges und Werte darüber als hohes Geburtsgewicht definiert. Im logistischen Regressionsmodell ist die größere Chance auf ein Geburtsgewicht über 3310 g der Neugeborenen von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund statistisch signifikant (p = 0,0004) ([Tab. 2]).

Tab. 2 Chance (Odds Ratio) eines hohen Geburtsgewichts des Neugeborenen nach Migrationsstatus der Mütter, Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015.

n

OR

95%-Konfidenzintervall

p-Wert

logistische Regressionsanalyse; gesamt-n = 2905, Events 1473; Referenzklassen: ≤ 3100 g: niedrige Gewichtsklasse/> 3310 g: hohe Gewichtsklasse; OR = Odds Ratio; Frühgeburt: nein: ≥ 37/0 SSW; ja: < 37/0 SSW

Nichtmigrantinnen

1950

1,00

vietnamesischer Migrationshintergrund

955

1,54

1,21 – 1,95

0,0004

Gestationsdiabetes

nein

2686

1,00

ja

219

1,00

0,74 – 1,34

0,9844

Größe der Mutter (cm)

2905

1,03

1,01 – 1,04

0,0002

Gewichtszunahme der Mutter (kg)

2905

1,09

1,07 – 1,11

< 0,0001

Gewicht bei Erstuntersuchung (kg)

2905

1,03

1,02 – 1,04

< 0,0001

Frühgeburt

nein

2632

1,00

ja

273

0,09

0,06 – 0,14

< 0,0001


#

4. Episiotomierate und Häufigkeit von Dammrissen 3./4. Grades

Die Episiotomierate betrug in der Gruppe der Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund 14% und im Vergleichskollektiv 9,6%. Die logistische Regressionsanalyse erbrachte eine signifikant erhöhte Chance (p < 0,0001) für einen Dammschnitt bei Gebärenden mit vietnamesischem Migrationshintergrund und vaginal-operativer Entbindung. Die Chance war signifikant geringer bei Mehrgebärenden (p < 0,0001) ([Tab. 3]).

Tab. 3 Chance (Odds Ratio) einer Episiotomie (n = 324 Fälle), Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015; logistische Regression.

OR

95%-KI

p-Wert

BMI = Body-Mass-Index; KI = Konfidenzintervall; OR = Odds Ratio

Nichtmigrantinnen

1,00

Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund

2,22

1,54 – 3,20

< 0,0001

Alter < 25 Jahre

1,00

Alter < 30 Jahre

1,16

0,82 – 1,65

0,3960

Alter < 35 Jahre

1,02

0,70 – 1,47

0,9317

Alter ≥ 35 Jahre

0,78

0,51 – 1,19

0,2486

Nullipara

1,00

Multipara

0,26

0,19 – 0,34

< 0,0001

Größe ≤ 160 cm

1,00

Größe > 160 cm

1,37

0,97 – 1,95

0,0731

Entbindungszeitpunkt

< 37 Schwangerschaftswoche

1,00

≥ 37 Schwangerschaftswoche

1,48

0,89 – 2,47

0,1326

Spontangeburt/primäre und sekundäre Sectio

1,00

vaginal-operative Entbindung

4,59

3,11 – 6,77

< 0,0001

BMI < 25

1,00

BMI < 30

0,97

0,73 – 1,28

0,8135

BMI ≥ 30

0,68

0,46 – 1,00

0,0468

kindlicher Kopfumfang ≤ 35 cm

1,00

kindlicher Kopfumfang > 35 cm

1,17

0,89 – 1,52

0,2582

Im Kollektiv der Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund traten in 1,3% und in der Vergleichsgruppe in 0,6% schwere Dammrisse auf. Im Regressionsmodell zeigte sich eine erhöhte Chance für einen Dammriss 3./4. Grades, wenn eine Episiotomie erfolgt war (p = 0,039), die Variable Migrationshintergrund hatte keinen signifikanten Einfluss (p = 0,066) ([Tab. 4]).

Tab. 4 Chance (Odds Ratio) eines Dammrisses (Grad 3 und 4)*, Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015; logistische Regression.

OR

95%-KI

p-Wert

* Events = 24

Episiotomie nein

1,00

Episiotomie ja

2,66

1,05 – 6,73

0,0390

Nichtmigrantinnen

1,00

Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund*

2,93

0,93 – 9,24

0,0661

Alter < 25 Jahre

1,00

Alter < 30 Jahre

1,09

0,31 – 3,77

0,8959

Alter < 35 Jahre

1,14

0,31 – 4,27

0,8440

Alter ≥ 35 Jahre

2,09

0,56 – 7,76

0,2721

Nullipara

1,00

Multipara

0,48

0,19 – 1,22

0,1234

Größe ≤ 160 cm

1,00

Größe > 160 cm

1,12

0,37 – 3,40

0,8430


#

5. 5-min-Apgar-Werte und arterielle Nabelschnur-pH-Werte

106 Neugeborene hatten 5-min-Apgar-Werte ≤ 7. Dies entspricht 3,5% der Kinder von Frauen mit Migrationshintergrund und 3,7% der Kinder in der Nichtmigrantinnengruppe. Bei 81 Kindern war ein pH-Wert ≤ 7,10 dokumentiert worden. Den höheren Anteil an arteriellen Nabelschnur-pH-Werten im Grenzbereich (arterieller Nabelschnur-pH-Wert ≥ 7,00 bis ≤ 7,10) hat die Gruppe der Nichtmigrantinnen mit einem Anteil von 2,6 vs. 1,7% bei den Frauen mit Migrationshintergrund. Die Ergebnisse der logistischen Regressionsanalyse zeigen, dass Kinder von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund keine höhere Chance für einen 5-min-Apgar-Wert ≤ 7 (p = 0,6805) oder einen arteriellen Nabelschnur-pH-Wert ≤ 7,10 (p = 0,1854) haben.


#

6. Postnatale Verlegung in die Kinderklinik

Es zeigte sich im logistischen Regressionsmodell keine signifikant unterschiedliche Chance der Neugeborenen von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund für eine Verlegung in die Kinderklinik (p = 0,5108) ([Tab. 5]).

Tab. 5 Chance (Odds Ratio) einer Verlegung der Neugeborenen in die Kinderklinik nach Migrationsstatus, Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015; logistische Regression.

n

OR

95%-Konfidenzintervall

p-Wert

n = 2787, Events = 198, OR = Odds Ratio

Nichtmigrantinnen

1857

1,00

Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund

930

0,86

0,56 – 1,34

0,5108

Alter < 25 Jahre

442

1,00

Alter < 30 Jahre

805

0,64

0,35 – 1,18

0,1544

Alter < 35 Jahre

902

0,91

0,52 – 1,63

0,7715

Alter ≥ 35 Jahre

638

1,11

0,61 – 2,02

0,7296

Entbindungsmodus spontan

1974

1,00

Entbindungsmodus Vakuum/Forceps

130

1,50

0,67 – 3,37

0,3285

Entbindungsmodus primäre Sectio

269

1,72

0,93 – 3,16

0,0825

Entbindungsmodus sekundäre Sectio

414

1,31

0,77 – 2,21

0,3231


#
#
#

Diskussion

Die vorgestellte Studie ist die erste größere Auswertung von Schwangerschafts- und Perinataldaten in Deutschland mit dem Fokus Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund. Diese Gruppe findet, wie auch andere Gruppen asiatischer Zuwanderinnen, in Studien aus anderen westlichen Industrieländern größere Beachtung, da hier besonders deutliche Auswirkungen konstitutioneller und kulturell-ethnischer Unterschiede sowie von Verhaltens-, Lebensstil- und Migrationsfaktoren auf die geburtshilflichen Outcomes vermutet werden [1], [2], [27], [45].

Hauptfragestellung

Sectiorate

Die Hypothese einer erhöhten Sectiorate bei Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund wurde nicht bestätigt. Studienergebnisse aus den USA, Norwegen und Taiwan bestätigend zeigte sich eine insgesamt geringere Sectiorate für diese Migrantinnen [20]. Merry et al. (2013) hatten in einer Übersichtsarbeit für Migrantinnen aus Südostasien (Vietnam, Thailand, Kambodscha, Laos) eine niedrigere Sectiorate festgestellt als bei den jeweils „einheimischen“ Frauen, was sowohl für Erst- als auch für Mehrgebärende galt. Sie erklären dies mit einer aus den asiatischen Herkunftsländern mitgebrachten Präferenz für die vaginale Geburt sowie einem sog. „healthy migrant“-Effekt (d. h., Migrantinnen sind durchschnittlich gesünder als die einheimische Bevölkerung; Personen mit signifikanten Gesundheitsproblemen migrieren nicht), einem gesünderen Lebensstil (niedriger BMI; kein Drogenkonsum, kein Nikotin- oder Alkoholabusus in der Schwangerschaft) und besonderer sozialer bzw. familiärer Unterstützung, sehen aber weiteren Forschungsbedarf [20].


#
#

Nebenfragestellungen

Sectioindikationen

Die (Verdachts-)Diagnose zephalopelvines Missverhältnis als Sectioindikation war in der Gruppe der vietnamesischen Migrantinnen deutlich häufiger als bei den Nichtmigrantinnen. Möglicherweise ist dies eine Auswirkung biologisch-konstitutioneller Gegebenheiten (Körper- und Beckengröße) bei den vietnamesischen Migrantinnen [2]. Wong et al. (2008) beschreiben in ihrer großen US-amerikanischen Kohortenstudie, dass in der Gruppe südostasiatischer Migrantinnen die Sectioindikation „Kopf-Becken-Missverhältnis“ am stärksten vertreten war [46].


#

Gewichts- und BMI-Veränderungen

Wir fanden eine höhere Rate an Gestationsdiabetes (GDM) unter den Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund. Schwangerschaftsdiabetes geht meist mit einer erhöhten Gewichtszunahme einher. Jedoch konnten wir weder in der deskriptiven Statistik noch in der linearen Regressionsanalyse einen signifikanten Einfluss der Variable „vietnamesischer Migrationshintergrund“ auf die Gewichts- und BMI-Veränderung während der Schwangerschaft nachweisen. Cripe et al. (2011) und Cheng et al. (2015) beschreiben ebenfalls eine höhere Prävalenz an GDM unter vietnamesischen Schwangeren ohne einen signifikanten Unterschied in der mütterlichen Gewichtszunahme [2], [23]. Die erhöhte Rate an GDM bei vietnamesischen Müttern wird auch in anderen Studien bestätigt [18]. Cripe et al. (2011) erklären die erhöhte GDM-Rate mit genetischen, Lebensstil-/Verhaltens- und kulturellen (unterschiedliche religiöse und Ernährungstraditionen) sowie Umwelt- und Migrationsfaktoren [2].


#

Kindliches Geburtsgewicht

Die eigenen Studienergebnisse zeigen eine höhere Chance für Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, ein Kind mit einem Geburtsgewicht über 3310 g auf die Welt zu bringen als Frauen in der Vergleichsgruppe. Wong et al. (2008) beschreiben in dem von ihnen untersuchten Kollektiv eine höhere Rate an vietnamesischen Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht < 2500 g [16]. Fu et al. (2010) verglichen geburtshilfliche Daten von einheimischen Taiwan-Chinesinnen mit vietnamesischen migrierten Müttern [46]. Es zeigte sich kein Einfluss des vietnamesischen Migrationshintergrundes auf das Geburtsgewicht der Neugeborenen. Die Studienergebnisse fallen insgesamt sehr heterogen aus. Sowohl die Vergleichspopulationen als auch die Klassifikation bzw. Definition von Unter- und Übergewicht sind je nach Arbeit ebenfalls unterschiedlich. Dies erschwert die Vergleichbarkeit.


#

Häufigkeit von Episiotomie und Dammrissen 3./4. Grades

In unserer Studie war ein vietnamesischer Migrationshintergrund mit einer höheren Chance für einen Dammschnitt, nicht aber für einen höhergradigen Dammriss verbunden. Dahlen et al. (2013) fanden im Zuge einer populationsbasierten retrospektiven Auswertung von Geburten der Jahre 2000 bis 2008 in Australien (n = ca. 692 000 Frauen, darunter ca. 14 000 Vietnamesinnen) bei vietnamesischen Erst- und Mehrgebärenden die höchste Episiotomierate [18]. Denkbar ist, dass Hebammen und Ärzte bei Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund mit einem vermeintlich oder tatsächlich kleinen Becken und daher engen Geburtswegen vermehrt schwere Dammrisse befürchten, sodass häufiger eine (prophylaktische) Episiotomie geschnitten wird. Wheeler et al. stellten 2012 im Ergebnis eines Literaturreviews und Brown et al. (2018) aktuell auf der Basis einer Auswertung von 10 750 Einlingsgeburten in Australien fest, dass eine asiatische Herkunft für Migrantinnen in westlichen Ländern ein unabhängiger Risikofaktor für schwere Dammverletzungen ist [27], [47], was sich in unserer Studie für die Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in einer Berliner Klinik nicht bestätigen ließ.


#

5-min-Apgar-Wert und arterieller Nabelschnur-pH-Wert

Angesichts der im Durchschnitt geringeren Körpergröße und der größeren Chance auf ein höheres Geburtsgewicht könnte das Risiko eines zephalopelvinen Missverhältnisses bestehen. Bei einer hohen Qualität des Geburtsmanagements dürften sich dennoch keine Unterschiede in den kindlichen Outcomes zwischen den Vergleichsgruppen zeigen. Die Werte Neugeborener von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund unterschieden sich in unserer Studie tatsächlich nicht von denen der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund. In Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen wurden auch bei vietnamesischen Migrantinnen in Australien bzw. den USA keine Unterschiede beim 5-min-Apgar-Wert im Vergleich zu einheimischen Frauen gefunden [2], [18].


#

Verlegung in die Kinderklinik

Auch der dritte von uns gewählte kindliche Outcomeparameter, die Verlegungsrate in die Kinderklinik, unterschied sich in unserer Studie zwischen den beiden untersuchten Kollektiven nicht. Andere Arbeitsgruppen in Deutschland und Italien fanden ebenfalls keine Unterschiede in den Verlegungsraten zwischen Neugeborenen von Migrantinnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern und von Nichtmigrantinnen [47], [48], [49].


#

Limitationen der Studie

Die Studie ist monozentrisch und die Datenerhebung wurde retrospektiv vorgenommen. Da genaue Angaben zum Migrationshintergrund der Gebärenden bisher im Rahmen der Perinataldatenerhebung nicht erfasst werden, wurde die Methode der (retrospektiven) Namensanalyse angewendet, die allerdings in der Migrationsforschung durchaus üblich ist [29], [30], [31], [32], [33], [34], [35], [36], [37], [38], [39], [40], [41], [42], [43], [44]. Eine Zuordnung zur 1. oder 2. Migrantinnengeneration ist damit allerdings nicht möglich. Auch ein möglicher Einfluss der Aufenthaltsdauer oder einer zunehmenden Akkulturation kann aus den vorliegenden Daten nicht abgeleitet werden. Eine weitere Limitation ist, dass in der Vergleichsgruppe ein sehr kleiner Anteil an Frauen mit einem nicht vietnamesischen Migrationshintergrund enthalten sein könnte.


#
#
#

Schlussfolgerungen

  1. Es zeigen sich Vorteile für die Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund bei der Häufigkeit primärer und sekundärer Sectios sowie Unterschiede bei deren Indikationen gegenüber Frauen ohne Migrationshintergrund.

  2. Wesentliche Unterschiede in den perinatalen Ergebnissen finden sich nicht, woraus sich eine gute Betreuungsqualität von Frauen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in der Schwangerschaft und unter der Geburt ableiten lässt.

  3. Die Bedeutung von Akkulturationsfaktoren bleibt unklar. Für zukünftige Studien zum perinatalen Outcome von Frauen mit Migrationshintergrund aus verschiedener Herkunftsregionen vs. Nichtmigrantinnen sollten eine routinemäßige Erfassung des Migrationsstatus sowie der Aufenthaltsdauer und der Migrationsgeneration erfolgen und/oder multizentrische prospektive Studien durchgeführt werden.


#
#

Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The authors declare that they have no conflict of interest./
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* geteilte Erstautorschaft



Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias David
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Gynäkologie
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Germany   


Zoom Image
Fig. 1 Mode of delivery of women with a Vietnamese and without a migration background, Berlin 2010 – 2015.
Zoom Image
Abb. 1 Geburtsmodus von Frauen mit vietnamesischem und ohne Migrationshintergrund, Berlin 2010 – 2015.