Schon
vor 11 Jahren führte Sabine ein Schmerztagebuch wegen wiederkehrender Schmerzen im
thorakolumbalen Bereich. Psychosomatisch, sagten die Ärzte. Erst jetzt kam die Ursache
ans Licht.
Die 26-jährige Betriebswirtin Sabine Krener[*] ist eine sportliche Frau, die in Vorbereitung auf einen Halbmarathon vier- bis fünfmal
pro Woche für 60–90 Minuten laufen geht (ABB. 1). Seit drei Monaten hat sie beim Laufen
einen zunehmenden lokalen, diffusen Achillessehnenschmerz rechts (VAS 7/10), der sie
nach drei Minuten zum Aufhören zwingt. In den vergangenen drei Wochen hatte sie zudem
verstärkt Krämpfe in den rechten Ischiokruralen und den Waden (VAS 3/10). Die Krämpfe
beginnen meist nach dem Laufen und halten bis zum nächsten Morgen an. Außerdem klagt
Sabine über diffuse dauerhafte Beschwerden im rechten thorakolumbalen Übergang, die
sie seit Jahren kennt, die in letzter Zeit aber etwas zugenommen haben (von VAS 2/10
auf VAS 4/10) ([ABB. 2]). Sie hat bereits neunmal bei einem Physiotherapeuten Therapien für die Achillessehne
bekommen (Friktionen, Stoßwelle, Massage, Übungstherapie) und eine Schuherhöhung erhalten.
Leider wurden die Beschwerden dennoch schlechter. Durch die Einnahme von 200 mg Ibuprofen
kann sie ihre Achillessehnenschmerzen kurzfristig senken (von VAS 7/10 auf VAS 2/10).
ABB. 2 Die Patientin hat wiederkehrende diffuse Druckschmerzen an der rechten Achillessehne
und wiederkehrende Krämpfe in den Ischios und den Waden. Zudem klagt sie über thorakolumbale
Schmerzen auf der rechten Seite, die mit diffusen Kopfschmerzen einhergehen.
Abb.: Thieme Gruppe (nach Angaben von H. v. Piekartz)
Vorgeschichte
In der vergangenen Woche fühlt sich Sabine morgens im Rücken, im rechten Bein und
in der Achillessehne immer extrem steif. Wenn sie sich circa 30 Minuten langsam bewegt,
geht das Steifheitsgefühl zurück – die Achillessehnenschmerzen aber bleiben. Weil
Sabine und ihr Physiotherapeut sich nicht erklären können, warum die Schmerzen in
letzter Zeit schlimmer werden, geht sie erneut zu ihrem Hausarzt. Dieser überweist
sie zum Radiologen und zum Neurologen. Die Röntgenbilder zeigen weder eine Arthrose
noch einen Bandscheibenvorfall oder eine andere sichtbare Pathologie. Der Neurologe
findet im klinischen Befund und in der EMG-Untersuchung keine Konduktionsprobleme
(Reizleitungsstörungen) der Beinnerven. Er geht von einem muskuloskeletalen Problem
aus und überweist Sabine mit der Verordnung „Muskeldehnübungen der ischiokruralen
Muskulatur und Mobilisation der LWS“ an einen Manualtherapeuten.
Anamnese
In der Anamnese erzählt Sabine, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand gut sei. Sie
lebe mit ihrem Freund zusammen, sei selten müde, schlafe gut (7–8 Std.) und gehe gerne
laufen. Sie sei jedoch frustriert, dass das nicht mehr so gut funktioniere und sie
in den letzten sechs Wochen acht Kilo zugenommen habe. Zudem nehme sie mittlerweile
7–8 Ibuprofen pro Woche. Dies empfindet sie als zu viel – vorher hätten ihr drei gereicht.
Auf Nachfrage erzählt Sabine, dass sie manchmal, wenn sie müde ist, diffuse Kopfschmerzen
(VAS 4/10) hat, die kombiniert mit den thorakolumbalen Flankenschmerzen und den Achillessehnenschmerzen
auftreten. Letztere hatte sie vor fünf Jahren bereits für einige Wochen, damals wurden
sie durch einen Sprung beim Laufen im Wald verursacht und verschwanden nach drei Wochen
durch Ruhe, Eis und vorsichtige Belastungssteigerung wieder.
Das klinische Muster deutet auf den ersten Blick auf ein neurodynamisches Problem
hin, da sich die Steifigkeit ausbreitet und nach Sabines Empfinden von der LWS in
Richtung Peripherie zieht. Möglicherweise liegt dem aber auch ein altes Trauma im
Wirbelsäulenbereich zugrunde. Das viele Laufen könnte eine Überbeanspruchung (Overuse)
am Plexus sacralis erzeugt und mit der Zeit zu einer pathophysiologischen Veränderung
geführt haben (schlechte Ernährung des Nervenstammes und intraneurale Schwellung).
Dies würde die Hypothese einer peripheren Nervennozizeption stärken und spräche eher
gegen eine muskuloskeletale Nozizeption des tendoossalen oder tendomuskulären Übergangs
der Achillessehne. Gestärkt wird die zweite Hypothese dadurch, dass die lokalen Therapien
keinen Effekt zeigten. Dass Sabine auf Ibuprofen positiv reagiert, stützt sowohl die
Annahme einer Muskel- oder Sehnenproblematik als auch die einer peripheren Nervenentzündung.
Die Krämpfe könnten von einem reaktiven Schutzspasmus herrühren, der über eine Reduktion
der Mechanosensitivität den Nerv schützen will. Alternativ könnten sie durch eine
reduzierte Versorgung der vom N. tibialis angesteuerten Muskeln entstehen.
Sabine erzählt, dass ihre gesundheitlichen Probleme begannen, als sie 15 Jahre alt
war. Sie hatte immer wieder ziehende diffuse thorakolumbale Schmerzen, die von der
rechten Taille nach vorne zogen. Die Schmerzen traten unabhängig von Bewegung, Haltung
und Sport auf. Sabine führte auf Anraten des Hausarztes ein Schmerztagebuch. Doch
auch damit war kein einheitliches Schmerzmuster erkennbar. Damals war der Schmerz
sehr stark (VAS 7/10) und blieb langfristig. Die Ärzte vermuteten eine psychosomatische
Ursache und schickten Sabine zur Psychotherapie. Diese half ihr in den ersten Jahren,
mit den Schmerzen umzugehen. Mit Anfang 20 kamen die Probleme allerdings immer mal
wieder und genauso stark zurück.
Vor zwei Jahren wurde Sabine daher noch einmal vollständig untersucht. Alle Tests
waren wieder ohne Befund. Seit einem Jahr treten die Schmerzen noch häufiger auf –
oft kombiniert mit diffusen Kopfschmerzen. Diese verschwinden wieder, sobald Sabine
etwas trinkt. Als sie im Frühling ihr Lauftraining wegen des Halbmarathons steigerte,
wurde die ischiokrurale Muskulatur „fester“, und die Schmerzen in der Achillessehne
begannen schlimmer zu werden. Seitdem sind sie dauerhaft vorhanden. Die Kopfschmerzen
sind immer gleich stark und tauchen in derselben Regelmäßigkeit auf.
Die Vorgeschichte ist untypisch. Komisch ist, dass die Schmerzen spontan entstanden
sind und sich progressiv entwickelten. Aufgrund der Overuse-Hypothese und weil Sabine
orthopädisch und neurologisch gut untersucht worden ist, ist ein neuromuskuloskeletales
Assessment des unteren rechten Quadranten sinnvoll.
Untersuchung
Inspektion im Stand
Die Haut zeigt keine Veränderungen. Es ist kein Shift und keine Skoliose erkennbar.
Unter der Skapula ist eine Einziehung zu erkennen, und der M. iliocostalis zeigt sich
im Seitenvergleich auf der rechten Seite mit deutlich prominenterer Kontur ([ABB. 3]).
ABB. 3 Sichtbefund: Auf der rechten Seite ist die Haut unterhalb der Skapula eingezogen,
und der M. iliocostalis tritt deutlich hervor.
Abb.: H. von Piekartz (nachgestellte Situation)
Neurologische Untersuchung
Aktive physiologische Bewegungen der LWS im Stand
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Flexion: leichtes Ziehen im thorakolumbalen Bereich rechts; verändert sich nicht durch
zusätzliche HWS-Flexion
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Extension: 20° = o. B.
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Lateralflexion links: 20°, dumpfer thorakolumbaler Schmerz (VAS 5/10)
-
Lateralflexion rechts: 30°, leichtes lumbales Druckgefühl (VAS 3/10)
-
Linksrotation: leichter dumpfer thorakolumbaler Schmerz (VAS 3/10)
-
Rechtsrotation: o. B.
Neurodynamische Untersuchung
-
Straight-Leg-Raise-Test (SLR) rechts: Ziehen bei 80° (VAS 7/10), links: Ziehen bei
90° (VAS 3/10). Sensibilisierende Bewegungen (Lateralflexion der LWS nach links, Adduktion
und Innenrotation im rechten Hüftgelenk) bringen keine Veränderung.
-
Variante des SLR mit Nervus-suralis-Test (= Dorsalextension des Rückfußes und Inversion
des Vorfußes, dann SLR): Reproduktion des Achillessehnenschmerzes (VAS 4/10). Zusätzliche
sensibili sierende Bewegungen (s. o.) beeinflussen den Achillessehnenschmerz nicht.
Eine alleinige zusätzliche Lateralflexion links provoziert den thorakolumbalen Schmerz
leicht (VAS 3/10).
-
Variante des SLR mit N. peroneus (= Inversion des Fußes, dann SLR) und Variante für
den N. tibialis (= Eversion des Fußes, dann SLR) zeigen das gleiche Muster.
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Slumptest: provoziert leichte Achillessehnenschmerzen durch die Dorsalextension des
Fußes, keine Provokation durch sensibilisierende Bewegungen von Hüftgelenk, LWS und
HWS
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Kombination des Slumptests mit Lateralflexion links und Linksrotation der LWS: verstärktes
Ziehen (VAS 8/10) in der thorakolumbalen Region rechts, das durch Nackenflexion nicht
beeinflussbar ist ([ABB. 4])
ABB. 4 Slumptest: Der Therapeut kann bei Sabine durch zusätzliche Lateralflexion und Linksrotation
das Ziehen in der rechten Flanke deutlich verstärken.
Abb.: H. von Piekartz (nachgestellte Situation)
Passive physiologische intervertebrale Bewegungen (PPIVMs)
Th 8–L 2: unauffällig. aber zunehmende Kontraktion des M. iliocostalis und des M.
longissimus thoracis während der Ausführung.
Passive akzessorische Zusatzbewegungen (PAMs)
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Th 10–L 2: in jede Bewegungsrichtung steif, aber nicht schmerzhaft (posterior-anterior,
unilateral posterior-anterior und transversale Bewegung nach links und rechts)
-
Rippen 6–10: unilaterale Posterior-anterior-Bewegungen zeigen beidseits den gleichen
unauffälligen Widerstand. Rechts treten leichte lokale Druckschmerzen (VAS 3/10) auf.
-
Rippen 11–12: Druck auf die freie 12. Rippe rechts reproduziert sehr stark die thorakolumbalen
Beschwerden. Während achtmaliger unilateraler Posterior-anterior-Bewegungen werden
zudem das Gefühl der Steifigkeit (VAS 3/10) und der Achillessehnenschmerz (VAS 5/10)
reproduziert ([ABB. 7], S. 28).
ABB. 7 Durch Druck auf die freien Rippen kann der Therapeut die thorakolumbalen Beschwerden
sehr deutlich reproduzieren.
Abb.: H. von Piekartz (nachgestellte Situation)
Es zeigen sich keine deutlichen neurologischen und neurodynamischen Symptome in der
unteren Extremität. Die Achillessehnenschmerzen verändern sich durch neurodynamische
sensibilisierende Bewegungen nicht, nur die unilateralen thorakolumbalen Schmerzen
verstärken sich durch solche. Die segmentalen Tests zeigen keine relevanten Ergebnisse,
mit einer Ausnahme: Die unilateralen Posterior-anterior-Bewegungen auf der freien
12. Rippe reproduzieren Sabines Schmerzen.
Obwohl alle Beschwerden durch eine muskuloskeletale Technik (unilaterale Posterior-anterior-Bewegung
der 12. Rippe) vollständig reproduziert werden können, zeigen Sabines Beschwerden
kein deutliches neuromuskuloskeletales Muster. Aufgrund der Lokalisation ist es sinnvoll,
spezifische Red-Flag-Fragen für das respiratorische, das gastrointestinale und das
urogenitale System zu stellen.
Bezüglich der spezifischen Fragen für das respiratorische und gastrointestinale System
(PHYSIOPRAXIS 3/2018, „RED FLAGS ERKENNEN – VERDÄCHTIGE FLANKE“) gaben Sabines Antworten
keinen Hinweis auf eine Störung. Aufschlussreicher waren die Antworten zum urogenitalen
System („SPEZIELLE RED-FLAG-FRAGEN ZUM UROGENITALEN SYSTEM“).
Spezielle Red-Flag-Fragen zum urogenitalen System
-
Hast du häufigen Harndrang, verlierst du unkontrolliert Urin oder ist die Stärke des
Harnstrahls vermindert? – „Nein.“
-
Ist es für dich schwer, den Harnstrahl zu produzieren? – „Nein.“
-
Hat sich die Farbe deines Urins verändert? – „Nein.“
-
Lässt du mehr (Polyurie) oder weniger Wasser (Oligurie) oder ist dies irgendwie problematisch
(Dysurie)? – „Nein.“
-
Hast du Schmerzen beim Wasserlassen? „Nein, im Gegenteil: Nach dem Wasserlassen geht
es mir oft besser. Wenn ich diese diffusen Kopfschmerzen habe (3–4-mal pro Monat),
habe ich meistens auch die Flankenschmerzen. Das ist oft nachmittags oder abends,
und ich habe das Gefühl, dass dies mit Müdigkeit zusammenhängt. Ich lege mich dann
häufig für 20 Minuten mit einem Kissen unter der Taille hin, das hilft manchmal. Wenn
ich anschließend zur Toilette gehe, werden in der Regel sowohl die Kopf- als auch
die Flankenschmerzen besser.“
-
Beeinflusst das auch die Achillessehnenschmerzen? – „Nein.“
-
Weißt du, wie dein Blutdruck ist? – „Mein Hausarzt sagte mal, dass mein Blutdruck
für mein Alter etwas zu hoch ist. Er wollte mir aber nichts dagegen verschreiben.“
Die Antworten lassen eine urogenitale Beteiligung vermuten, die eher durch die Nieren
als durch die Harnblase verursacht ist. Daher ist es sinnvoll, zunächst Blutdruck
und Herzfrequenz zu bestimmen, die mit renalen Störungen assoziiert sein können. Im
Anschluss ist der Nierenklopftest nach Murphy indiziert („ZUSATZINFO“, S. 28).
Hintergrundwissen Pyelonephritis – Nierenbeckenentzündung
Erkrankungen des Urogenitaltraktes sind für Therapeuten in der Regel eher unbekanntes
Terrain. Es bestehen aber durchaus verschiedene typische Schmerzmuster, auf die sie
im Screening-Prozess stoßen, die mit dem Urogenitaltrakt zusammenhängen können und
die einen Referred Pain auslösen.
Diese Ausstrahlungen traten auch im Fall von Sabine auf. Schmerzen aus der Niere werden
über sympathische Nerven zum Rückenmark in Höhe von Th 10 bis L 1 fortgeleitet. Da
dort auch kutane Nerven aus anderen Regionen enden, können Erregungen der viszeralen
Fasern die kutanen Fasern stimulieren. Patienten empfinden dann z. B. Hyperästhesien
in den Dermatomen Th 10 bis L 1. Bei Sabine steht dieses Empfinden mit einem dorsalen
Steifheits- und Druckgefühl in Verbindung. Für fortgeleitete Schmerzen aus der Nierenregion
sind solche dorsalen subkostalen und kostovertebralen Schmerzangaben typisch. Treten
Flankenschmerzen auf, sollte der Murphy-Perkussiontest daher immer zur klinischen
Untersuchung gehören, um das Nierenlager auf kostovertebrale Klopfschmerzhaftigkeit
hin zu überprüfen ([ABB. 8], S. 28). Kommen die Schmerzen vom Ureter, sind sie dagegen stärker in der Leiste
und Genitalregion spürbar. Von Nieren und Ureter ausgehende Schmerzen lassen sich
durch Körperpositionsänderungen nicht beeinflussen. Sabines Achillessehnenproblematik
geht vermutlich auf eine subklinische Vorschädigung zurück, die erst durch die eingeschränkte
Nierenfunktion wieder ersichtlich wurde. Neben Beeinträchtigungen der Sehne und Myopathien
(wie Sabine sie am M. gastrocnemius und den Ischios zeigte) sind bei chronischen Nierenerkrankungen
auch folgende am Bewegungsapparat lokalisierte Symptome beschrieben: Osteoporose,
Osteomalazie, Frakturen, Knochen- und Gelenkschmerzen [[2]].
Akute Pyelonephritis
Bei der akuten Pyelonephritis handelt es sich um eine Infektion des Nierenbeckens
und des Nierenparenchyms, die häufig durch eine aufsteigende Infektion aus der Harnblase
bedingt ist. Typische Symptome sind Flankenschmerzen und Klopfschmerzhaftigkeit im
Nierenlager, die unter Umständen von Schüttelfrost mit Fieber und von Schmerzen beim
Wasserlassen (Dysurie) begleitet werden. Häufig kommen Appetitlosigkeit und ein allgemeines
Krankheitsgefühl hinzu. Die akute Pyelonephritis kommt bei Frauen zwei- bis dreimal
häufiger vor als bei Männern. Grund ist, dass die bei Frauen deutlich kürzere Harnröhre
eine aufsteigende Infektion Richtung Niere rein anatomisch begünstigt.
Chronische Pyelonephritis
Die chronische Pyelonephritis kommt deutlich seltener vor als die akute. Auslöser
ist häufig eine anatomische Anomalie, so wie sie auch bei Sabine vorlag. Bei ihr führte
eine zusätzliche Anlage der A. renalis dexter dazu, dass diese auf den rechten Ureter
drückte und somit den Abfluss behinderte ([ABB. 6]). Andere Ursachen können beispielsweise Steinleiden sein. Die Symptome einer chronischen
Pyelonephritis sind längst nicht so eindeutig wie bei der akuten Form. Gerade die
offenkundige Symptomatik der akuten Entzündung mit Fieber und Schüttelfrost fehlt
häufig ([TAB.]). Eine chronische Pyelonephritis kann sich über Jahre verbergen, gleichwohl aber
droht zu jeder Zeit das Nierenversagen.
ABB. 6 Nierenschmerzen werden typischerweise in der posterioren subkostalen und kostovertebralen
Region gespürt. Sie können aber auch über den unteren Rücken ausstrahlen sowie über
die Flanke nach vorne und in den unteren Abdominalquadranten. Bei Männern kann es
zudem zu gleichseitigem Leisten- und möglicherweise Hodenschmerz kommen. Der Druck
des Nierenlagers auf das Zwerch-fell kann ebenfalls für gleichseitigen Schulterschmerz
verantwortlich sein.
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere
Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012
TAB.
Klinische Symptome von Infektionen des oberen Harnsystems (links) und des unteren
Harnsystems (rechts)
Entzündung von Niere (Pyelonephritis) oder Harnleiter (Ureteritis)
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Entzündung von Harnblase (Zystitis) und Harnröhre (Urethritis)
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Dorsale, subkostale und kostovertebrale Schmerzangaben sind typisch für weitergeleitete
Schmerzen aus der Nierenregion.
Durch die eingeschränkte Nierenfunktion kam es bei Sabine zu einem Rückstau von Flüssigkeit,
was das generalisierte Ödem erklärt und damit die Gewichtszunahme um acht Kilo in
den letzten sechs Wochen. Die nicht ausreichende Ausschwemmung von harnpflichtigen
Substanzen aus dem Blut erklärt Sabines Müdigkeit und die Kopfschmerzen sowie die
empfundene Erleichterung der Symptome nach dem Wasserlassen.
Nieren und Blutdruckregulation
Die Nieren sind maßgeblich an der Regulation des arteriellen Blutdrucks beteiligt,
allerdings unter Mithilfe weiterer Organsysteme. Pressorezeptoren messen dazu den
Perfusionsdruck am juxtaglomerulären Apparat (JGA) am Glomerulum und stimulieren bei
zu niedrigen Werten die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS).
Reize für die Renin-Ausschüttung im JGA sind neben dem Minderdruck auch zu geringe
Natrium-Konzentration und Sympathikus-Reize. Das Renin sorgt für die Umwandlung von
Angiotensinogen in Angiotensin I. Das wiederum wird in der Lunge durch das Angiotensin-konvertierende
Enzym (ACE) in das hochwirksame Angiotensin II konvertiert. An dieser Stelle setzen
die blutdrucksenkenden ACE-Hemmer an. Angiotensin II hat nicht nur eine starke vasokonstriktorische
Wirkung (und erhöht darüber den arteriellen Blutdruck), sondern stimuliert zusätzlich
die Ausschüttung des Mineralokortikoids Aldosteron aus der Nebennierenrinde. Aldosteron
wiederum sorgt für eine Kaliumausscheidung und kompensatorische Rückresorption von
Natrium und Wasser. Letzteres steigert über die intravasale Volumenerhöhung ebenfalls
den Druck [[3]]. So erklärt sich Sabines diastolische arterielle Hypertonie, die bei chronischer
Pyelonephritis vorkommt.
Diagnostik
Die ärztliche Diagnostik umfasst die Blut- und Urinuntersuchung (Leukozytorie/Mikrohämaturie;
Erregernachweis). Häufigster Erreger ist Escherichia coli. Das bildgebende Verfahren
der ersten Wahl ist die Sonografie (Schwellung, Organvergrößerung, [ABB. 5]). Ergänzt wird dies durch kontrastmittelgestützte Ausscheidungsurografien mittels
Röntgen.
ABB. 5 Beispiel einer chronischen Pyelonephritis mit narbigen Parenchymeinziehungen
Abb.: Schmidt G et al. Kursbuch Ultraschall. Stuttgart: Thieme; 2015
Therapie
Die Therapie der akuten Pyelonephritis ist vor allem antibiotisch, die der chronischen
wie bei Sabine häufig operativ. Bei der OP muss das Stenosehindernis beseitigt werden.
Spezielle Tests zur Niere
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Blutdruck: 134/94 mmHg = auffällig
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Herzfrequenz (vor, während und nach der Therapieeinheit): 72, 76 und 76 S/min
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Perkussionstest nach Murphy: links = negativ, rechts = positiv (bekannte Flankenschmerzen
werden ausgelöst)
Sowohl der erhöhte Blutdruck als auch die positive Perkussion deuten auf eine Nierenbeteiligung
hin. Sabine wird daher mit der folgenden Nachricht zu ihrem Hausarzt geschickt:
„Frau Krener kam wegen ‚Beinkrämpfen‘ und einer ‚persistierenden Achillodynie rechts‘
zu mir. Ich fand keine Anzeichen, die zu einem eindeutigen neuromuskuloskeletalen
Muster passen. Die neurologische Untersuchung war negativ. Ein unilateraler Druck
auf die rechte 12. Rippe reproduziert bei ihr thorakolumbale Schmerzen, Krämpfe und
die Achillodynie. Frau Krener berichtete mir von diffusen Kopfschmerzen, die mit Wasserlassen
assoziiert zu sein scheinen. Der Murphy-Perkussiontest rechts ist auffällig. Ein erhöhter
diastolischer Blutdruck ist bekannt. Um abzuklären, ob renale Probleme diese Beschwerden
unterhalten, bitte ich Sie um weitere Diagnostik.“
So ging es weiter …
Sabine wurde sofort zum Urologen verwiesen. Im Ultraschall zeigten sich „Flecken“
auf der Niere, bei denen er zunächst an Zysten rund um die Niere dachte. Er veranlasste
ein MRT und ein Szintigramm. Diese zeigten, dass Sabine an einer chronischen Nierenbeckenentzündung
(Pyelonephritis) litt (HINTERGRUNDWISSEN, S. 26). Der Urologe vermutete, dass eine
Flüssigkeitsstauung im Nierenbecken ursächlich sei, die vermutlich durch eine zusätzliche
Nierenarterie entstanden ist. Er fand bei Sabine eine solche quer über den rechten
Harnleiter verlaufen, der mutmaßlich über lange Zeit abgedrückt wurde. Dadurch konnte
sich ein Nierenbeckenstau Grad 4 entwickeln, der die Nieren langsam verdrängte. Die
Funktion der linken Niere betrug 80 %, die der rechten nur noch 20 %. Die Diagnose
des Urologen lautete „Nierenbeckenabflussstörung durch eine Nierenbeckenabgangsenge
(pyelourethrale Abgangsstenose). Er klärte Sabine auf, dass diese operativ beseitigt
werden müsse. Bei der OP verkleinerte man Sabines rechtes ausgedehntes Nierenbecken
und versetzte den Harnleiter so, dass er nicht mehr auf die Arterie drückt. Gegen
den Bluthochdruck bekam Sabine vorübergehend Betablocker.
Nach einigen Wochen war die Nierenfunktion links bei 90 % und rechts bei 30 %. Die
Flankenschmerzen, die Beinkrämpfe und die Kopfschmerzen waren vollständig verschwunden.
Nach fünf Wochen durfte Sabine wieder alle gewohnten Aktivitäten ausführen.
Rückblickend hätte der Therapeut schon durch die Krämpfe, die bis zur Achillessehne
ziehen, an eine verringerte Nierenfunktion denken können. Diese Symptomkombination
tritt als ein typisches klinisches Muster bei jungen Menschen mit Nierenpathologien
immer wieder auf.
Zusatzinfo – Murphy-Perkussiontest
Der Therapeut legt seine Hand im 45°-Winkel flach unterhalb der 12. Rippe auf. Dann
schlägt er beherzt mit der Faust der anderen Hand ein- bis zweimal auf den Handrücken
und provoziert so das Nierenlager durch Erschütterung. Normalerweise produziert dies
keinen Schmerz, sondern der Patient fühlt nur einen dumpfen Schlag. Wenn die Schmerzen
reproduziert werden, ist dies ein Red-Flag-Zeichen für eine renale Pathologie [[1]].
Abb.: H. von Piekartz (nachgestellte Situation)