I. Prinzipielle Überlegungen
Im September 2018 überschritten erstmals 2 Unternehmen die lange als magisch geltende
Grenzmarke einer Börsenkapitalisierung von mehr als 1 Billion $. Kurz nacheinander
waren damit sowohl der Apple-Konzern als auch der Internethändler Amazon jeweils mehr
wert als das Bruttoinlandsprodukt der Niederlande oder der Schweiz und Österreichs
zusammengenommen. Unter den wertvollsten Unternehmen der Welt finden sich neben Apple
und Amazon auch noch 2 weitere datengetriebene Unternehmen: der Google-Mutterkonzern
Alphabet und das soziale Netzwerk Facebook. Investmentmanager und Anlagestrategen
rechnen damit, dass die Wertentwicklung der Datenkonzerne noch für einige Jahre nahezu
ungebremst anhalten wird. Den Kursphantasien liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Daten
das Gold einer globalen digitalisierten Wirtschaft darstellen. Daten sind der Kitt,
der die Elemente der Wertschöpfungsketten zusammenhält. Durch die Omnipräsenz digitaler
Technologien werden laufend immense Datenmengen generiert, deren Bewirtschaftung und
Nutzung die wesentlichen Voraussetzungen für moderne Wertschöpfung darstellen.
Immer weiter wachsende Speicherkapazitäten und nahezu ungebremst steigende Prozessorleistungen,
die dem vor über 50 Jahren erstmalig beschriebenen Mooreschen Gesetz folgen [1], machen multidimensionale Datenanalysen möglich und, dank eines technologiebedingten
Preisverfalls, erschwinglich [2]. Große Datenmengen, gemeinhin als „Big Data“ apostrophiert [3], können mit intelligenten Computerprogrammen durchforstet und ausgewertet werden
[4]. Dabei geht es häufig um das Erkennen von Mustern, einerseits um die Datenquellen
sprich: die einzelnen Nutzer besser charakterisieren zu können [5]
[6] und andererseits um die Entwicklung prädiktiver Modelle, mithilfe derer sich das
(Konsum-) Verhalten der Nutzer präzise vorhersagen lässt [7]. Auf dieser Basis können bspw. vom Internethändler passgenaue Angebote errechnet
und platziert werden, die eine Akquise seitens des Nutzers mit hoher Wahrscheinlichkeit
erwarten lassen [8]. Der technische Fortschritt bewirkt darüber hinaus die rasante Entwicklung von künstlichen
Intelligenz (KI)-Anwendungen, der in nahezu allen Lebensbereichen ein riesiges Potenzial
zugerechnet wird [9].
Die Digitalisierung hat sämtliche Lebensbereiche erfasst und verändert die Geschäftslogik
vieler Branchen signifikant und nachhaltig. Die sogenannte digitale Transformation
wirkt in 5 strategischen Kategorien [10]:
-
Kunden
Die Machtverhältnisse zwischen Anbieter und Konsument haben sich umgekehrt. Das Informationsmonopol
liegt nicht mehr beim Produzenten sondern ist durch das Internet atomisiert. Über
soziale Netzwerke, Foren und Vergleichs- bzw. Bewertungsplattformen können meist unvalidierte
Informationen viral verbreitet werden. Der Einfluss des einzelnen Kunden nimmt dadurch
erheblich zu. Im Fokus des Marketings stehen deshalb Loyalität, Einkaufserlebnis und
hohe Servicequalität.
-
Wettbewerb
Einerseits erlauben kostengünstige Technologien die schnelle und wenig komplexe Entwicklung
digitaler Produkte und Dienstleistungen, sodass sich der Kreis der Wettbewerber dynamisch
erweitert („New Entries“). Andererseits führen die oben beschriebenen Netzwerkeffekte
zu einer Konzentration der Konsumenten auf wenige große Anbieter. In allen Branchen
verändert sich das Wettbewerbsfeld laufend und in hoher Dynamik, was eine hohe Reaktivität
und Agilität erfordert.
-
Daten
Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, sind Daten, die kontinuierlich und überall
generiert werden die wesentliche Währung für den Wert einer Unternehmung geworden.
Auch unstrukturierte Daten können durch die modernen Technologien zunehmend genutzt
werden. Viele Unternehmen beginnen gerade erst, ihren „Datenschatz“ zu verstehen und
zu heben.
-
Innovation
Die hohe Dynamik erfordert eine signifikante Beschleunigung und Flexibilisierung
unternehmerischer Innovationsprozesse. Erfolgreiche Unternehmen und Organisationen
verlassen die traditionellen und langsamen, linearen Vorgehensweisen und etablieren
experimentelle, iterative und nahezu chaotische Prozesse, um möglichst schnell die
Lösung für das richtige Problem zu finden. Das Ziel ist nicht mehr ein fertiges und
nahezu perfektes Produkt sondern ein minimaler Prototyp, der schnell im Markt getestet
und laufend optimiert wird (sog. „minimal viable product; MVP“).
-
Wert In der analogen Welt waren Wertschöpfungsmechanismen über lange Zeit stabil, sodass
die Organisationen sich darauf ausrichten und dahingehend strukturieren konnten. Erfolg
war meistens nachhaltig, weil er in der Erfüllung relativ statischer Bedürfnisse wurzelte.
Flüchtige Kundenbedürfnisse und schlecht vorhersagbare Marktveränderungen erfordern
im digitalen Zeitalter laufende Anpassungen der jeweiligen Geschäftslogik. Dadurch
ergeben sich permanent neue Chancen aber auch neue Risiken für den geschäftlichen
Erfolg. Der Columbia University-Professor David Rogers fasst es in einem Satz zusammen:
„Only the paranoid survive“ [10].
Auch die Medizin ist ein Informationsgeschäft. Die klinische Medizin lebt von der
Generierung, der Beurteilung und der Archivierung von Informationen. Als Erfahrungswissenschaft
ist sie darauf angewiesen, dass möglichst viele verwertbare Informationen zur Verfügung
stehen und zum Wohl des Patienten systematisch analysiert werden. Der überwiegende
Teil der medizinischen Interventionen nutzt das Kommunikationssystem des menschlichen
Körpers über die Sensorik oder greift in die körpereigenen Kommunikationssysteme wie
z. B. das Immunsystem, das endokrine System oder das Nervensystem ein [11]. Bei allen klinischen Vorgängen fallen Daten an, die es zu erheben, zu speichern
und zu analysieren gilt. Der Datenanfall ist bereits heute sehr hoch und nimmt nahezu
exponentiell zu. Der jährlich erscheinende Internet-Trend-Report der Beratungsfirma
Kleiner Perkins führt auf, dass in der durchschnittlichen Arztpraxis pro Jahr 26 Datensätze
pro behandelndem Patient entstehen. In einem typischen Krankenhaus mit 500 Betten
entstehen so in jedem Jahr 50 Petabytes an Daten (1 PB=1015 Bytes=1 Mrd. MB). Die jährliche Wachstumsrate von Gesundheitsdaten liegt bei 48%.
Die Halbwertszeit medizinischen Wissens liegt nunmehr bei knapp 3 Jahren; die Anzahl
publizierter Studien folgt seit Jahren einer Exponentialfunktion [12]. Damit ist das Wachstum an medizinischen Daten und Informationen größer als das
der übrigen Internet-basierten Daten. Es wird geschätzt, dass alleine die dokumentierten
genomischen Daten im Jahr 2025 umfangreicher sein werden als die dann vorliegenden
Daten der Internetdienste YouTube, Twitter und die Daten aus der astronomischen Forschung
zusammen [13]. Treiber für diese Entwicklung sind einerseits die sich entwickelnden technischen
Möglichkeiten, bspw. der digitalen Dokumentation von radiologischen oder pathologischen
Befunden oder klinischen Bildern, zum anderen aber auch die Ausweitung des molekularen
Grundlagenverständnisses, das zu einer höheren Fragmentierung und damit einer höheren
Komplexität in der Taxonomie von Erkrankungen führt [14]. Je personalisierter, d. h. individualisierter die klinische Diagnostik und die
Therapie sind, desto größer werden die Datensätze pro Patient. Darüber hinaus ist
die Interdisziplinarität des Fachs gestiegen, sodass im Behandlungsverlauf mehr Schnittstellen
entstehen. Und schließlich werden Patienten zunehmend transsektoral versorgt, was
eine weitere Komplexitätsschicht auf den klinischen Pfad legt. Die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde
zählt insbesondere in ihrem otologischen bzw. audiologischen Teil zu den klinischen
Disziplinen, in denen die meiste Information digitalisiert vorliegt bzw. digitalisiert
werden kann. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass die Lebenswirklichkeit der
HNO-Ärzte über kurz oder lang signifikant von den Veränderungen betroffen sein wird
[11].
Die wahrgenommene hohe Dynamik der Veränderungen in der Medizin ist auf die Explosion
wissenschaftlicher Information zurückzuführen und auf die Notwendigkeit, diese Informationen
in der Praxis der Heilkunde anzuwenden [15]. Dabei stellt sich die Frage, ob die Informationstechnologie, die zur sinnvollen
Handhabung der medizinischen Informationen zur Anwendung kommt, nur eine weitere Ergänzung
einer langen Liste von innovativen Technologien ist, die im Lauf der Zeit von den
klinischen Notwendigkeiten der Medizin domestiziert wurden, oder ob es sich tatsächlich
um eine disruptive Entwicklung handelt, die die Logik der Medizin fundamental und
nachhaltig verändern wird [16]. Vieles spricht dafür, dass durch die zunehmende, permanente und örtlich völlig
ungebundene Verfügbarkeit von klinischer Information ein Paradigmenwechsel ausgelöst
wird, den der amerikanische Systembiologe und Molekulargenetiker Leroy Hood als P4-Medizin
bezeichnet. Demnach verursacht die Digitalisierung eine Verlagerung des klinischen
Fokus von einem traditionellen, primär kurativen Ansatz hin zu einer prädiktiven,
präventiven, personalisierten und partizipatorischen Logik [17].
Immer dann, wenn sich in bestimmten Lebensbereichen oder Branchen Paradigmenwechsel
abzeichnen oder zumindest möglich erscheinen, ergeben sich strategische Opportunitäten,
die geschäftlich genutzt werden wollen. So nimmt es nicht Wunder, dass auch die großen
Technologiefirmen, wie bspw. Google, IBM, Amazon, Microsoft, Facebook oder auch die
deutsche SAP ein hohes Interesse an der Generierung und Bewirtschaftung medizinischer
Daten zeigen. Gleichwohl sind die bisherigen Ergebnisse bestenfalls gemischt und einige
der Unternehmen mussten trotz hoher Investitionssummen und dem signifikanten Einsatz
von Know-how herbe Rückschläge hinnehmen [18]
[19]
[20]
[21]
[22]
[23]. So haben bspw. Google als auch Microsoft ihre anfänglich hoch gehandelten Digital
Health-Aktivitäten für mehrere Jahre eingefroren, da sie nicht von Erfolg gekrönt
waren. Offensichtlich lassen sich die bekannten Prinzipien und Strukturen, die insbesondere
in der Konsumgüterbranche extrem erfolgreich sind, nicht einfach, linear bzw. 1:1
auf die medizinische Versorgung übertragen. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht
nicht überraschend, dass das Gesundheitswesen allen anderen Branchen im Digitalisierungsgrad
weit hinterher läuft [24].
Voraussetzung und Grundlage jedweder Wertschöpfung aus Daten ist die Nutzbarmachung
dieser Daten mithilfe von Datenbanken, die die Bewirtschaftung, die Auswertung, das
Kombinieren und die Weiterverwendung der Daten erlauben. Im medizinischen Versorgungskontext
haben sich für derartige Datenbankanwendungen Begriffe wie elektronische Patientenakte,
electronic health record (EHR) oder auch elektronisches Patientenfach entwickelt.
Vorreiter für diese versorgungspezifischen Datensysteme sind die USA, wo parallel
zur Einführung von Computertechnologien in den 60-er und 70-er Jahren des letzten
Jahrhunderts erste EHRs entwickelt und etabliert wurden [25]. Aufgrund der spezifischen US-amerikanischen Versorgungsstruktur sind die meisten
medizinischen Datenbanksysteme regional organisiert. Eine nationale Lösung ließ sich
bisher nicht durchsetzen [26]. Da die flächendeckende Implementierung von EHRs trotz der vermuteten großen Wertschöpfungspotenziale
auf sich warten ließ, verfügte die Clinton-Administration ein Gesetz (Health Insurance
Portability and Accountability Act, HIPAA), das die Einführung von electronic health
records boostern sollte. Seitdem hat die Marktdynamik für EHRs signifikant zugenommen.
Über 90% der US-Krankenhäuser und der amerikanischen Praxen hat inzwischen irgendeine
Form von elektronischer Fallakte eingeführt [12]
[27]. Der globale Markt wird derzeit mit 23 Milliarden $ taxiert, wovon gut 40% auf die
USA fallen, und wächst jährlich um ca. 10% [28]. Die in den letzten Jahren sehr dynamische Penetration des amerikanischen Versorgungsmarktes
mag auch damit zusammenhängen, dass in vielen Versicherungssystemen, die in den USA
überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind, von den traditionellen fee-for-service-Vergütungen
sukzessive abgerückt wurde. Stattdessen werden vielerorts und zunehmend value-based-contracts
und pay-for-performance-Verträge geschlossen, bei denen die Höhe der Vergütung an
das klinische Ergebnis gekoppelt ist [29]
[30]. Die Voraussetzung für die Operationalisierbarkeit solcher Vertragskonstrukte ist
die Erhebung, Vorhaltung und Zurverfügungstellung relevanter klinischer Daten, die
von der Versicherungsseite überprüft, d. h. controllt werden können [31]
[32]
[33].
Allerdings sind die Rezeptionen der Technologie in diesem global am weitesten entwickelten
Markt seitens der Anwender überaus gemischt. Es ergibt sich kein klares Bild, welches
das Urteil rechtfertigen könnte, dass EHRs in jedem Fall zu einer verbesserten, effizienteren,
kostengünstigeren und für alle Beteiligten sinnvolleren Versorgung führen [34]. In vielen Studien ist von einer weit verbreiteten Frustration der Ärzte und des
Pflegepersonals die Rede [35]
[36]. Electronic health records und die mit ihnen einhergehenden Dokumentationspflichten
werden sogar als wichtigste Einzelursache für den endemisch um sich greifenden Burnout
von Ärzten angeführt [37]. Als besonders frustrierend wird empfunden, dass trotz der für die Akquisition und
Eingabe von Daten eingesetzten ärztlichen Zeit nur wenig nutzbare Intelligenz an den
behandelnden Arzt zurückfließt [38]. Obwohl unbestreitbar ist, dass die Erfassung und das Teilen von bestimmten biomedizinischen
Informationen mittels EHRs verbessert wird, steht infrage, ob die Interaktion mit
dem Computersystem nicht möglicherweise mit der psychosozial und emotional basierten
Patientenkommunikation interferiert [39].
In diesem Zusammenhang werden verschiedene Hypothesen ins Feld geführt, die die beschriebenen
Phänomene zu erklären versuchen. Einerseits ist die klinische Versorgung ungleich
komplexer als jeder andere datenbasierte Entscheidungs- und Exekutionsprozess [40]
[41]. Zum anderen sind in der klinischen Versorgung unterschiedlichste Anspruchsgruppen
miteinander verwoben, deren teilweise gegenläufige Interessen fein ausbalanciert sind
und somit zu einer renitenten Stabilisierung des nicht-digitalen status quo beitragen
[42]. Und schließlich wird diskutiert, dass die meisten herkömmlichen computergestützten
Kommunikations- und Datensysteme auf einem mathematischen, linearen Modell basieren
(Sender-Transmitter-Empfänger [43]), das einem fluideren, interpretationsbedürftigeren Modell, welches die Notwendigkeit
zur Exegese möglicher Bedeutungen der Informationen im Wittgensteinschen Sinne vorsieht,
und das der ärztlichen Entscheidungsfindung und dem kollegialen Diskurs inhärent ist,
entgegenstehen [41]
[42]
[43]
[44].
Im Folgenden soll versucht werden, die verschiedenen Diskussionsaspekte zu ordnen
und einen Überblick über die wesentlichen operativen und strategischen Implikationen
der medizinischen Datenhaltung und -bewirtschaftung zu geben.
II Konzepte der medizinischen Datenhaltung
a. Terminologie und Einordnung
Die Dynamik der Digitalisierung ist so hoch, dass sich innerhalb kürzester Zeit verschiedenste
thematische Inseln herausgebildet haben, deren taxonomische Einordnung bisher nicht
gelungen ist bzw. die der Entwicklung hinterher laufen. Gleiches gilt für die rechtliche
und regulatorische Begleitung der Digitalindustrie, was insbesondere in einem sensiblen
Anwendungsfeld wie der Medizin ein hohes Unsicherheits- und Konfliktpotenzial birgt
[11]. Darüber hinaus erschwert die heterogene und bunte digitale Anwendungslandschaft
die Entwicklung strategischer Direktiven im Sinne einer digitalen Agenda ([Abb. 1]).
Abb. 1 Segmentfelder Digital Health
Eine ähnliche Begriffsvielfalt herrscht auch bei den Datenhaltungssystemen vor. In
den über 50 Jahren, die seit der Einführung der ersten Prototypen von medizinischen
Datenbanken vergangen sind, sind mehrere Begriffe und Definitionen verwendet und auch
wieder verworfen worden [45]. Ging es zunächst noch um die systematische Erfassung und Archivierung von klinisch-wissenschaftlicher
Literatur ( MEDLARS und dann MEDLINE), gesellten sich mit Ausgang der 60-er und Beginn
der 70-er Jahre Funktionalitäten hinzu, die zur klinischen Entscheidungsunterstützung,
bspw. auf der Basis von Erinnerungsprogrammen, entwickelt und programmiert worden
waren [46]. Mit der Marktreife von relativ einfach bedienbaren Datenbanksystemen und der Verbreitung
der Personal Computer (PC) wurden mit Beginn der 80-er Jahre erste systematische Überlegungen
angestellt, wie die im klinischen Verlauf einer Behandlung auflaufenden Daten und
Informationen systematisch zusammengefasst und mehrdimensional auswertbar dokumentiert
werden könnten. Dabei wurde schon sehr früh deutlich, dass eine der größten Herausforderungen
für die Nutzbarkeit solcher Systeme darin liegt, von verschiedenen Beteiligten an
verschiedenen Orten und zu jeder Zeit teilweise gleichzeitig, teilweise sukzessive
genutzt werden zu können. Dies ist der Interdisziplinarität der klinischen Medizin
geschuldet und verlangt als unabdingbare Voraussetzung für eine sinnhafte Anwendung
eine Multi-User-Funktionalität, die gleichzeitig sowohl als Chronik der Ereignisse,
als auch als Archiv, als auch als Entscheidungsgrundlage und Dokumentation der Entscheidungsfindung
dienen muss [47].
Verschiedenste Begriffe, die letztlich sehr ähnliche Funktionalitäten beschreiben,
sind in den letzten Jahren im Sinne einer Taxonomie eingeführt und diskutiert worden.
Eine weite Verbreitung erfuhr der Begriff Computer-Based Patient Record (CPR), der
verdeutlichte, dass der Patient und der an ihm stattfindende Versorgungsprozess die
wesentliche Datenquelle darstellt [48]. Um die Jahrtausendwende herum wurde der Begriff CPR durch Electronic Health Record
(EHR) weitgehend ersetzt. Dieser Begriff ist nunmehr im internationalen Kontext der
Goldstandard. Synonym werden auch die Begriffe Electronic Medical Record (EMR), oder,
seltener, Patient Health Record (PHR) verwendet, wobei der PHR sich dadurch unterscheidet,
dass er vom Patienten befüllt und administriert wird, wohingegen die beiden anderen,
EHR und EMR, beim Leistungserbringer oder auch bei der Krankenversicherung verwaltet
werden. Unter CPOE werden Systeme oder Funktionalitäten von EHRs verstanden, mit denen
die Behandler Anordnungen, Verordnungen/Verschreibungen oder Bestellungen veranlassen
und dokumentieren können: Computerized Physician-Order Entry. Und schließlich bezeichnet
CDSS Computerized Decision Support Systems, d. h. an EHRs angedockte Computerprogramme,
die mittels „intelligenter“ Algorithmen medizinische Entscheidungen unterstützen sollen
[49]
[50]. Diese Subdisziplin der medizinischen Datenhaltung boomt aufgrund der Weiterentwicklung
künstlicher Intelligenz, wenngleich eine prinzipielle Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt
noch schwer fällt (s.u.).
In Deutschland wird naturgemäß eine eigene Terminologie verwandt, die ebenfalls nicht
ganz eindeutig ist. Am weitesten verbreitet ist der Begriff der elektronischen Patientenakte
(ePA), der im Sozialgesetzbuch V in typisch deutscher Manier bereits kodifiziert wurde
(§291 a). Hier hat der Gesetzgeber das physische Element der elektronischen Gesundheitskarte,
die ursprünglich als Datenträger konzipiert war und sowohl den klinischen als auch
den administrativen Datenfluss zwischen Leistungserbringer und Kostenträger vereinfachen
sollte, um das Konzept einer Web-basierten Lösung erweitert. Dazu sah er sich gezwungen,
weil das gemeinsame Entwicklungsprojekt der Selbstverwaltungsparteien, gematik, ohne
Ergebnis geblieben war und letztlich, gemessen an dem ursprünglichen Auftrag als gescheitert
gelten muss. Die ePA soll ab 2021 allen gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland
zur Verfügung stehen und sektorenübergreifend bei allen Leistungserbringern und auch
kassenübergreifend nutzbar sein [51]. Die konkrete Ausgestaltung steht allerdings noch in den Sternen. D. h. es ist unklar,
wer letztlich die Administration, also die Datenhaltung und Datenbewirtschaftung verantwortet
und wie die systemische Gestaltung erfolgen soll. Seitens der Kostenträger sind mehrere
Initiativen gestartet worden. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels waren 3
unterschiedliche Ansätze vorgestellt und teilweise schon in praxi eingesetzt worden:
einerseits das dezentral organisierte AOK-Modell, das die Daten in einer dezentralen
Organisation, d. h. auf den Computersystemen der Leistungserbringer (Arztpraxen und
Kliniken) bereithält. Andererseits das zentrale Modell der Techniker Krankenkasse
unter Beteiligung der privaten Krankenversicherung Signal Iduna und Generali, bei
der die Gesundheits- und Krankheitsdaten auf Servern des Unternehmens IBM gehalten
und bewirtschaftet werden. Und schließlich das System des privaten Anbieters Vivy,
hinter dem als maßgeblicher Investor die Allianz Krankenversicherung steht und dem
sich verschiedene gesetzliche und private Krankenversicherungen angeschlossen haben,
und bei dem die Daten ebenfalls zentral vorgehalten werden sollen. Allen Systemen
soll gleich sein, dass der Patient Herr seiner Daten bleibt und entscheidet, wer auf
welche Daten zu welchem Zeitpunkt Zugriff erhalten darf [52]. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings noch gänzlich unklar, ob und wie die verschiedenen
Systeme miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, um eine schnittstellenfreie
Kommunikation zu gewährleisten, die ja gerade die Grundlage für eine nahtlose, sinnhafte
und wertvolle Nutzung der Versorgungsdaten darstellt. Die beiden weiteren in Deutschland
genutzten Begriffe elektronische Gesundheitsakte (eGA nach §68 SGB V) und elektronisches
Patientenfach (ePF nach §291a SGB V) werden aller Voraussicht nach abgelöst, da es
sich nach jetzigem Entscheidungsstand um Auslaufmodelle handelt. Im Folgenden wird
hauptsächlich der Begriff Electronic Health Record (EHR) verwendet, da dieser international
etabliert ist und die damit verbundenen Funktionalitäten auch in der deutschen Version,
der ePA, ihre Entsprechung finden sollen.
Das US-amerikanische Institute of Medicine hat sich in der Vergangenheit um eine systematische
Ordnung des weiten und fluiden Feldes der Health Information Technology (HIT) bemüht
[16]. Nach dieser Definition muss ein EHR 8 Funktionen leisten können ([Tab. 1]).
Tab. 1 Funktionalitäten von EHRs, gem. Institute of Medicine [16].
Kernfunktionen
|
Zusatzfunktionen
|
Datenhaltung von Gesundheitsinformationen
|
Elektronische Kommunikation und Konnektivität
|
Ergebnismanagement
|
Patientenunterstützung
|
Elektronische Eingabe von Anordnungen und Verschreibungen
|
Unterstützung der Verwaltung
|
Entscheidungsunterstützung
|
Berichtswesen und Gesundheitsmanagement von Populationen
|
Das bedeutet, dass eine elektronische Patientenakte im Kern imstande sein muss, Patientendaten
zu sammeln und zu lagern, diese Informationen Leistungserbringern bzw. Behandlern
anlassbezogen zur Verfügung zu stellen, den behandelnden Ärzten zu erlauben, Anweisungen
und Verordnungen am Computer einzugeben und diese zu dokumentieren (CPOE) und Ärzte
und Pflegepersonal mit Ratschlägen für Entscheidungen über Versorgungsalternativen
individueller Patienten zu versorgen (CDSS). Die Definition zeigt, dass die Unterstützung
und Erleichterung der klinischen Tätigkeit der Behandelnden, d. h. der Ärzte und der
Pfleger im Mittelpunkt der Funktionalität steht [53]. Die Unterstützung der Verwaltungsprozesse, einschließlich der Abrechnung wird als
notwendige aber nicht hinreichende Zusatzfunktion gesehen. Aus deutscher Sicht ist
diese im gesamten internationalen Schriftgut verankerte Perspektive bemerkenswert,
da hierzulande die Unterstützung der Verwaltungsprozesse und die Erwartung von Kosteneinsparungen
in der Versorgung als zentrale Funktion einer elektronischen Datenhaltung gesehen
werden. Demgegenüber besteht im angelsächsischen Umfeld Einigkeit darüber, dass HIT
v. a. dazu da ist, die 3 Komponenten der ärztlichen Zeit zu optimieren: die Zeit,
die der Arzt mit Patienten verbringt, die Zeit, die für die Dokumentation aufgewandt
werden muss, und die Zeit, die für die kontinuierliche Weiterbildung eingesetzt werden
kann [54]. Ein arztbezogener EHR als auch ein patientenbezogener PHR sollten so gestaltet
und konstruiert werden, dass sie sich möglichst nahtlos in das berufliche oder das
private Umfeld einfügen. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, werden elektronische
Patientenakten erfolgreich sein [52].
Der globale Markt für EHRs wird derzeit auf 23 Milliarden $ geschätzt und wächst seit
vielen Jahren mit einer konstanten Wachstumsrate von über 5% [53]. Es existieren unterschiedliche Segmente, denen verschiedene Ansätze zugrunde liegen.
So kann zwischen Web- bzw. Cloud-basierten und Systemen mit eigenem Server unterschieden
werden, hinsichtlich der zentralen Aufgabe des Systems (z. B. Praxismanagement, Patientenmanagement,
Überweisungsmanagement oder Netzwerkmanagement) oder nach der Konfiguration des Anwenders
(Krankenhaus, Arztpraxis, Pflegeheim, Akutversorgung usw.) [55]. Allen Systemen gemein ist das schlichte aber gleichwohl in seiner Bedeutung nicht
zu unterschätzende GIGO-Prinzip: garbage in, garbage out. Das bedeutet, dass ein elektronisches
Datenverwaltungs und -analysesystem nur so gut sein kann wie die schlechteste Qualität
der eingegebenen Daten. D. h. also, dass selbst der smarteste Algorithmus aus unvollständigen
oder fehlerhaft eingegebenen Daten nur schlechte, unklare, invalide oder gar falsche
Analysen liefern kann [56]. Konsequenterweise bedeutet dies, dass schon bei der Erfassung und Eingabe der Daten
in ein EHR die Entscheidung gefällt wird, welchen Nutzen das System zu einem späteren
Zeitpunkt generieren kann. Dementsprechend muss das Augenmerk auf dem Datenerfassungsprozess
liegen und es überrascht nicht, dass der Aufwand bei neu eingeführten und etablierten
EHR-Systemen zu Beginn des Datenprozesses, also bspw. bei der Anlage eines neuen Datensatzes
steigt. Dies wird von vielen Beteiligten allerdings als kontraintuitiv empfunden und
ist häufig eine der maßgeblichen Ursachen für ein Versagen des Systems bzw. für die
Ernüchterung und Enttäuschung auf Seiten der Anwender [57].
b. Wertschöpfungslogik
Die Krankenversorgung in Deutschland erfolgt im Allgemeinen unter dem sozialrechtlich
verankerten Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot. Dieses Effektivitäts- bzw. Effizienzparadigma
kommt auch bei der Argumentation des Nutzens von elektronischen Patientenakten zur
Geltung. Es wird einerseits angeführt, dass auf der Basis organisierter und entsprechend
sinnvoll ausgewerteter Daten die Qualität der Versorgung gesteigert werden könnte
und andererseits die Versorgungskosten reduziert werden könnten, es also zu Einsparungen
im System käme. Wie oben beschrieben ist die Qualität der Daten eine wesentliche Voraussetzung
dafür, dass die Wertversprechen eingehalten werden. Darüber hinaus haben auch die
Qualität und die Intelligenz der angewendeten Algorithmen, die technische Verarbeitungsqualität
und die Ergebnis- und Berichtsqualität einen erheblichen Einfluss auf den Nutzen von
EHRs.
Die Versorgungsqualität kann über verschiedene Wertmechaniken erhöht werden [58]: es wird angenommen, dass durch mehr und systematischer aufbereitete Daten sowohl
die Diagnostik verbessert als auch die Therapie gezielter durchgeführt werden können.
Auf die sich durch die Weiterentwicklung der personalisierten Medizin anbahnende Datenflut
ist oben bereits eingegangen worden. In einigen Studien konnte bestätigt werden, dass
EHRs zu einer höheren Adhärenz der Therapeuten an evidenzbasierte Leitlinien führen
können [16]
[50]
[59]. Voraussetzung dafür ist, dass das System aktuelle Evidenzen vorhält und in der
jeweiligen Therapiesituation als Entscheidungshilfe zuspielt. Weiterhin erleichtern
entsprechend aufbereitete Daten die Mustererkennung, insbesondere im interindividuellen
Vergleich und die Identifikation von Trends innerhalb bestimmter Populationen [60], was insbesondere bei seltenen Erkrankungen oder untypischen klinischen Situationen
von hohem Wert sein kann.
Die Beteiligung von Patienten an der klinischen Entscheidung (Shared Decision Making)
und ihre aktive Einbeziehung in das Management der Erkrankung verbessert die Versorgung
und kann mithilfe elektronischer Patientenakten bewerkstelligt werden [61]. Die Interaktivität der Akte und das bedeutet auch das Teilen von Informationen
und Dokumenten ist die dafür notwendige Voraussetzung. Perspektivisch muss sicher
berücksichtigt werden, dass die Datenquellen, die beim Patienten liegen, ebenso wie
die im professionellen klinischen Umfeld aus unterschiedlichsten Quellen generierten
Daten interoperabel konfiguriert werden. Dies ist bei den von der Konsumgüterindustrie
produzierten Apparaten, z. B. Wearables wie Fitnessuhren oder persönliche elektronische
Assistenten (Alexa & Co.) mitnichten gewährleistet, da ein gemeinsamer Datenstandard
nicht existiert.
Nicht eindeutig sind die Studiendaten zu der Hypothese, dass EHRs die Kommunikation,
Kollaboration und Koordination in der klinischen Versorgung verbessern [50]. Offensichtlich sind die untersuchten Versorgungssituationen so heterogen in ihrem
jeweiligen Set-up, ihrer Komplexität und ihrer Zieldefinition, dass dieses oft ins
Feld geführte Wertversprechen, mit einer elektronischen Patientenakte verbessere sich
quasi automatisch die intersektorale und interdisziplinäre Zusammenarbeit kritisch
hinterfragt werden muss [62]
[63].
Die Vermeidung von Therapiefehlern, insbesondere bei der Verordnung oder Applikation
von Arzneimitteln gilt als weiterer wichtiger Werthebel für den Nutzen von elektronischen
Patientenakten. Bspw. können integrierte Expertensysteme auf Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten
oder besonders Kontraindikationen hinweisen und so eine Falschbehandlung verhindern
[16]
[50]
[64]. Interessanterweise liegen aber auch Studien vor, die genau das Gegenteil zu beweisen
scheinen, dass Therapiefehler auf der Basis von EHRs nämlich zunehmen können [65]
[66]
[67]. D. h. auch hier ist die Studien- und Evidenzlage nicht eindeutig und hängt von
der spezifischen Situation ab. Auf das oben ausgeführte GIGO-Prinzip sei in diesem
Zusammenhang ausdrücklich hingewiesen. Vollständige und gut strukturierte elektronische
Patientenakten, bei denen die Qualität der Dateneingabe auf der Basis von verhaltenskontrollierenden
Elementen sichergestellt wird, können die Gefahr des Daten -und Informationsverlustes
und die Manipulationsanfälligkeit der klinischen Dokumentation reduzieren [50]. Das übliche, oft ins Feld geführte Szenario nicht auffindbarer Befunde oder radiologischer
Bilder ergibt sich bei einer zentralen vollständigen und zugänglichen Datenhaltung
nicht. Dieses ist sicherlich eines der stärksten Argumente für die Entwicklung und
Etablierung einer elektronischen Patientenakte.
Mit der verpflichtenden Einführung eines Krankenhaus-Entlassmanagements nach § 35
SGB V hat noch ein weiterer Aspekt der Wertschöpfung durch elektronische Patientenakten
an Bedeutung gewonnen. Die Idee ist, dass die Vorhaltung und Zurverfügungstellung
von patienten- bzw. therapierelevanten Daten zu einer signifikanten Verringerung von
Informationsbrüchen zwischen stationärem und ambulantem Sektor führen könnte. Diese
Brüche werden für einen bedeutenden Teil der vermeidbaren Wiederaufnahmen ins Krankenhaus
als ursächlich angesehen. Verschiedene Studien haben bspw. gezeigt, dass 20% der Wiederaufnahmen
in das Krankenhaus Arzneimittel-bedingt sind und in mehr als zwei Dritteln dieser
Fälle vermeidbar gewesen wären, wenn das therapeutische Management nicht unterbrochen
oder geändert worden wäre [68]
[69]. Auch beim Schlaganfall führen Informationsbrüche zu einer suboptimalen Versorgung
der Patienten, sowohl in der akuten Situation als auch bei der postakuten Therapie
und Rehabilitation [70]
[71]
[72]. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass eine bessere, d. h. nahtlosere und vollständigere
Information, Kommunikation und damit Kollaboration zwischen ambulantem und stationärem
Sektor auf der Basis elektronischer Informationssysteme zu einer signifikanten Verringerung
des sogenannten Drehtüreffekts (stationäre Aufnahme – Entlassung – stationäre Aufnahme)
und damit zu einer deutlich höheren Versorgungsqualität führen kann [73]
[74]
[75]
[76]
[77]
[78]
[79]
[80]
[81].
Neben der Qualität soll durch elektronische Patientenakten auch die Wirtschaftlichkeit
gesteigert werden. Die Effizienzgewinne sollen dabei auf einer Reduktion des Ressourceneinsatzes
(Zeit, Kapital, Personal) beruhen. Vorausgesetzt der Datenbankträger (Server, Cloud,
Internet) ist technisch zugänglich, ist eine Reduktion der Such- und Zugriffszeiten
verglichen mit analogen Systemen weitgehend unstrittig [50]
[82]. Die Hypothese, die mit der Zeitersparnis mitschwingt, ist, dass die durch den EHR
gewonnene Zeit sinnvoll für die direkte Patientenversorgung genutzt werden kann. Zusätzlich
werden in verschiedenen Bereichen Kostensenkungen postuliert, bspw. durch eine wirtschaftlichere
Verordnung von Arzneimitteln, durch eine effizientere Nutzung der radiologischen Einrichtungen,
durch eine Vermeidung von Doppeluntersuchungen oder unnötigen Tests oder durch eine
Reduktion von Abrechnungsfehlern oder eine erfolgreichere Abwendung von Regressen
[83]
[84]
[85]
[86]. Die durch Prozessverbesserungen erreichten Effizienzgewinne, bspw. durch die Vorhaltung
eines zentralen Datensatzes, der nicht an den verschiedenen Stellen entlang des Versorgungablaufs
redundant vorgehalten werden muss, können zu einer Reduktion des Personals und damit
der Personalkosten, die im Krankenhaus den größten Kostenblock darstellen, führen
[67]
[87]
[88]
[89]
[90]. Der Effekt von EHRs auf diese Kostenposition gilt gemeinhin als Argument für die
Gegenfinanzierung der beträchtlichen Entwicklungs-, Implementierungs- und Betriebskosten
eines elektronischen Patientenakten-Systems. Nur wenige Zahlen sind zu den Kosten
veröffentlicht. In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2011 werden 19 Millionen
$ für ein Akutkrankenhaus mit 280 Betten taxiert [64]. Da die Versorgungslandschaft hochkomplex und außerordentlich heterogen ist, lassen
sich vermutlich keine belastbaren Benchmarks entwickeln. Stattdessen kommt es auf
die individuelle Konstellation an, mit welchem Aufwand gerechnet werden muss. Es kann
also festgehalten werden, dass das unbezweifelbar große Potenzial für Effizienz- und
Effektivitätssteigerungen in der Versorgung von Patienten, das Electronic Health Records
besitzen, sich nicht unmittelbar, direkt und voraussetzungslos realisieren lässt [67].
c. Anspruchsgruppen und Geschäftsmodelle
Maßgeblich für die Einschätzung und Bewertung des Erfolgs, d. h. für die Realisierung
des Wertversprechens elektronischer Patientenakten und die Umsetzung in Geschäftsmodellen
ist die Perspektive des jeweiligen Nutzers: Cui bono? (Cicero). Da in einem vielgliedrigen
und arbeitsteiligen Gesundheitssystem verschiedenste Anspruchsgruppen miteinander
verbunden sind, können Zielkonflikte nicht ausgeschlossen werden, sie gehören vielmehr
zur Normalität. Was für die Krankenversicherungen wünschenswert und nutzbringend erscheint,
kann aus Sicht der Ärzteschaft als kritisch und wertlos beurteilt werden: „One person’s
failure may be another’s success“ [91].
Wenn Patientenzentriertheit das Paradigma einer modernen Versorgung sein soll, müssen
Datenhaltung und -bewirtschaftung aus Patientensicht beurteilt werden und zumindest
mittelbar den Nutzen für den Patienten, sei es durch eine Effektivitäts- oder eine
Effizienzsteigerung erhöhen. Es ist allgemein anerkannt und vom Gesetzgeber auch intentional
so vorgesehen und bestätigt, dass die medizinischen Daten dem Patienten „gehören“,
ihm also uneingeschränkter Zugang dazu zu gewähren ist und nur er allein verfügen
kann, wem diese Daten wann, wie und unter welchen Umständen zur Verfügung stehen.
Diesem Imperativ müssen sich alle Datenhaltungs- und Auswertungssysteme beugen. De
facto liegen derzeit aber keine konsolidierten Daten vor, sondern fragmentierte oder
nahezu atomisierte Datenabschnitte bei den jeweiligen Quellen. Die Kostenträger verfügen
über sogenannte Sozialdaten, die aus administrativen Elementen und Leistungsdaten
bestehen, die das Leistungsgeschehen, also die durchgeführten oder veranlassten Leistungen
der Leistungserbringer und die damit ausgelösten Kosten i.S. von Abrechnungsdaten
dokumentieren. Die Leistungserbringer verfügen über die anamnestischen und die klinischen
Daten der Patienten, die in nicht-standardisierter Form dokumentiert und höchst individuell
verwaltet werden. Aus Versorgungsforschungsicht verfügen die Leistungserbringer über
Primärdaten, wohingegen die Kostenträger Sekundärdaten besitzen bzw. verwalten. Deshalb
bestehen gewisse Verzögerungen bis diese Daten vorliegen. So dauert es ungefähr 2-3
Monate bis die Arzneimittelverordnungen bei der jeweiligen Krankenkasse vorliegen
und ausgewertet werden können.
Das Interesse an und die Unterstützung für die Konzipierung und Implementierung einer
elektronischen Patienten- oder Fallakte ist bei den verschiedenen Beteiligten und
Anspruchsgruppen unterschiedlich und orientiert sich an dem „job to be done“, also
an der Aufgabe, die eine ePA erfüllen soll und welcher Nutzen daraus erwartet wird
[92]. Ärzte und Leistungserbringer könnten Datenbanksysteme zur Unterstützung der klinischen
Entscheidungsfindung nutzen, um die Versorgungsqualität zu erhöhen. Diesem Ziel sollen
auch klinische Register dienen, die es erlauben, longitudinale Verläufe zu analysieren
und Ursache-Wirkungsbeziehungen im klinischen Alltag zu erkennen [93]. Gleichwohl liegt der momentane Fokus bei der Generierung, Dokumentation und Auswertung
von Daten auf Seiten der Heilberufe v. a. auf der Erfüllung von Dokumentationspflichten
und der möglichst vollständigen Leistungserfassung, die dann als Grundlage für die
Abrechnung gegenüber den Kostenträgern dient. Die meisten elektronisch erfassten klinischen
Daten werden also zum Zwecke des administrativen Controllings erfasst und nicht unbedingt,
um primär die Versorgung zu verbessern.
Auf Seiten der Kostenträger werden elektronisch dokumentierte Daten im Versorgungsmanagement,
bspw. im Betrieb strukturierter Behandlungsprogramme (Disease Management, DMP) oder
in integrierten Versorgungsmodellen gem. §140 SGB V eingesetzt und zur Compliance-Messung
qualitätsorientierter Prozesse genutzt. Aber auch bei den Kostenträgern liegt der
Fokus der Datenbewirtschaftung auf den vermuteten Effizienzsteigerungen. Die übermittelten
Leistungsdaten der Leistungsträger lösen Finanzströme aus, die entsprechend engmaschig
controllt werden müssen. Auf der Basis eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs
ist es für die Krankenversicherungen geboten, möglichst vollständige Datensätze, in
denen Morbiditäts- und Leistungsdaten zusammengeführt werden, an den Gesundheitsfonds
zu melden. Interessanterweise besteht an diesem Punkt eine Interessensgleichheit zwischen
Leistungserbringer und Kostenträger, deren wirtschaftliche Interessen ansonsten eher
diametral entgegengesetzt sind. Je morbider ein behandelter Patient bzw. Versicherter
ist, d. h. je mehr Erkrankungen im betreffenden Datensatz codiert und dokumentiert
sind, desto höher ist die Vergütung für den Leistungserbringer und desto höher ist
die Zuweisung an den Kostenträger aus dem Gesundheitsfonds. Dass dieses Modell manipulationsanfällig
ist, liegt auf der Hand. Die Kostenträger nutzen die übermittelten Datensätze weiterhin
für ihre Budgetplanung, für die Versichertensteuerung und für die Steuerung des Vertriebs
als auch zur Aufdeckung von Abrechnungsbetrug. Einige Kassen haben Risk Management-Kompetenzen
aufgebaut, mit denen die Leistungsdaten in prädiktiven Modellen verarbeitet werden
und, wie in der privaten Krankenversicherung aktuariell kalkuliert werden. Dies erlaubt
die Entwicklung strategischer Handlungsoptionen im Hinblick auf sich entwickelnde
Risiken (z. B. starke Zunahme der Behandlungskosten in der Onkologie, Anstieg der
Krankengeldzahlungen für Versicherte mit Diagnose Depression).
Pharma- und Medizintechnikindustrie haben ebenfalls ihr Interesse an elektronischen
klinischen Daten entdeckt. Die Pharmaindustrie wird zukünftig immer stärker darauf
angewiesen sein, Daten aus der realen Versorgungssituation („Real World Evidence“)
zu generieren, da die Zulassungsbehörden und die für die Preissetzung und Vergütung
zuständigen HTA-Agencies (HTA: Health Technology Assessment) immer mehr dazu übergehen,
nur vorläufige oder temporäre Entscheidungen hinsichtlich des Marktzugangs zu treffen.
Eine Verlängerung der Market Authorization bzw. der Geltungsdauer des Erstattungsbetrags
ist dann abhängig vom Nachweis der klinischen Performance des Produkts in der realen
Versorgungssituation, d. h. letztlich von einer Bestätigung des Nutzens bzw. Zusatznutzens
in der realen Welt (jenseits artifizieller klinischer Prüfungen). Aus diesem Grunde
sind die pharmazeutischen Unternehmen darauf angewiesen, klinische Daten aus den EHRs
zu akquirieren und im Sinne einer Phase IV-Studie auszuwerten. Da der Zugang zu diesen
Daten, die ja entweder von den Leistungserbringern oder von den Kostenträgern administriert
werden, nur sehr umständlich möglich ist, gehen einige Unternehmen den Weg der Etablierung
von Registern, die Ihnen erlauben, Studiendaten von behandelten und unbehandelten
Patienten zu erheben. Ein weiterer Weg ist der Aufbau von internetbasierten Patientenplattformen,
in denen Patienten freiwillig ihre Daten freigeben bzw. austauschen. Diese Variante
lässt sich allerdings kaum qualitätssichern, weshalb die damit generierte Evidenz
schwach ist oder insgesamt infrage gestellt werden muss. Medizintechnik-Unternehmen
haben schon seit einiger Zeit ihr Geschäftsmodell dahingehend erweitert, dass sie
als Systemanbieter v. a. im Krankenhaus in Erscheinung treten. Die mit Software und
eigenen Computern ausgestatteten Geräte sollten zunächst in die bestehenden Krankenhausinformationssysteme
(KIS) eingebettet werden. Mittlerweile ist das Ziel vieler, insbesondere größerer
Medtech-Unternehmen selbst als Systemanbieter zu fungieren und außer der Geräte-Hardware
auch die Steuerungs-, Auswertungs- und Dokumentationssoftware bereitzustellen. Electronic
Health Records sind ein zentraler Punkt auf der strategischen Agenda der Medizintechnikindustrie
[94]. Problematisch erscheint, dass die meisten Anbieter proprietäre Software zur Steuerung
der Gerätschaften entwickelt haben, die mitnichten interoperabel im oben beschriebenen
Sinne sind.
Softwareunternehmen und sogenannte Systemhäuser haben ihren Fokus bislang auf Krankenhausinformationssysteme
zur Steuerung administrativer Prozesse gelegt. Da diese Anbieter bereits „vor Ort“,
also nahe am klinischen Geschehen sind, liegt es nahe, dass die Ausweitung der bestehenden
Systeme und Strukturen auf vollwertige elektronische Patientenakten, die all das leisten
sollen, was im obigen Abschnitt beschrieben wurde, als logische Konsequenz erscheint.
Beispielsweise hat der Softwarekonzern SAP eine eigene Geschäftsdivision Health gegründet,
die sich zum Ziel gesetzt hat, der Goldstandard der klinischen Dokumentation zu werden.
Zum momentanen Zeitpunkt drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass die Komplexität
und die Besonderheiten der klinischen Versorgung und der sich daraus ergebenden Anforderungen
an die Datenhaltung und -bewirtschaftung größtenteils unterschätzt werden. Die Datendimensionen
entlang eines klinischen Versorgungspfads sind so groß, dass auch für spezialisierte
Nischenanbieter, die sich auf eine isolierte Aufgabe konzentrieren, gute Geschäftschancen
bestehen. Beispielsweise haben sich in den USA sogenannte Pharmacy Benefit Manager
(PBM) etabliert, deren Aufgabe ausschließlich darin besteht, den Arzneimitteleinsatz
im Versorgungsgeschehen zu überwachen und hinsichtlich der Kosten aber auch der evidenzbasierten
Leitlinien zu optimieren. Als Intermediäre vermitteln sie zwischen Leistungserbringer
und Kostenträger und sind bestrebt, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Dazu
greifen sie auf bestimmte Elemente der EHRs zu und analysieren diese mithilfe eigener
Auswertealgorithmen und Benchmarks. In einigen Modellen sind außer den üblichen Beteiligten
auch weitere Datenlieferanten und Anspruchsgruppen involviert. Beispielsweise können
Biobanken genetische Daten zufüttern und sogar die Konsumdaten einer Supermarktkette
können als relevante Quelle gelten, wenn es bspw. um die Abbildung von Einkaufsverhalten
von Diabetikern geht [95].
Behörden, Organisationen und Institutionen der öffentlichen Gesundheitspflege, die
sich mit bevölkerungspolitischen Fragestellungen beschäftigen, haben ebenfalls ein
hohes Interesse an den Daten aus elektronischen Patientenakten. Die bisherige Gesundheitsberichterstattung
ist stark verzögert, sehr grob und allein deskriptiv, sodass die Nutzbarkeit für die
Beantwortung strategischer Fragestellungen gering ist. Der Gesetzgeber und die Organe
und Körperschaften der mittelbaren Staatsverwaltung müssen ein großes Interesse daran
haben, möglichst aktuelle und authentische Versorgungsdaten zu generieren, um ordnungspolitisch
adäquat reagieren zu können. Vor diesem Hintergrund sind auch die gesetzgeberischen
Initiativen zu deuten, die eine zügige Umsetzung einer universell nutzbaren elektronischen
Patientenakte fordern bzw. anordnen. Die Patienten und Versicherten nutzen ihre Gesundheits-
und Krankheitsdaten momentan im Wesentlichen zur Dokumentation und archivieren diese
in Papierform. Privatversicherte nutzen die Daten teilweise zur Abrechnung ihrer Krankheitskosten
mit dem Kostenträger. Über Geräte der Consumer Electronics wie Wearables oder Smart
Watches werden allerdings laufend biologische und Verhaltensdaten (Herzschlag, Schlafverhalten,
Bewegung, Ernährung, Sauerstoffsättigung, Tracking usw.) generiert und meistens auch
archiviert, die durchaus klinische Bedeutung haben können. Diese Daten liegen allerdings
nahezu regelhaft bei den Herstellern der einschlägigen Produkte und werden dort intransparent
genutzt. So entstehen quasi en passant elektronische Patientenakten und Nutzerprofile,
die nicht unbedingt für den autonomen und exklusiven Zugriff des Patienten vorgesehen
sind. Ein weiteres Format der systematischen, datenbankbasierten Nutzung klinischer
Daten stellen soziale Netzwerke und Patientenplattformen dar, in bzw. auf denen Patienten
ihre Daten teilen und den anderen Mitgliedern des Netzwerks zugänglich machen. Aus
diesen Datensätzen können dann Analysen des Gesamtkollektivs durchgeführt werden.
Insbesondere in den USA spielen Plattformen wie patientslikeme.com (www.patientslikeme.com)
eine zunehmende Rolle, da mit den dort von Patienten zur Verfügung gestellten Daten,
bspw. aus Krankheitstagebüchern, substantielle Analysen erstellt werden können [16]. So hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) mit
patientslikeme.com einen Vertrag zur Pharmakovigilanz geschlossen, da in den Berichten
der Patienten, die auf der Plattform geteilt werden, mögliche Neben- und Wechselwirkungen
von Medikamenten signifikant früher auftauchen und damit identifiziert werden können,
als dies über den traditionellen Weg der ärztlichen Meldung möglich ist.
Es liegt nahe, dass die Erhebung, Haltung und Bewirtschaftung von sehr persönlichen
klinischen Daten rechtliche und ethische Probleme aufwerfen, deren Diskussion allerdings
den Rahmen dieses Referats sprengen würde. Es kann jedoch festgehalten werden, dass
die juristische Dimension des Datenschutzes und der Datensicherheit zwar intensiv
diskutiert wird, dass Lösungen jedoch ausstehen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass
die Rechtspflege und die Rechtsprechung mit der technischen Dynamik Schritt halten
können. Hilfreich wäre allerdings, wenn gewisse Standards vereinbart und festgelegt
würden [11]. Auch in ethischer Hinsicht existieren viele offene Fragen, deren Beantwortung vermutlich
nur in einem gesellschaftlichen Konsens erfolgen kann [96]. Die einschlägigen Diskussionen beginnen jedoch sehr zaghaft und laufen wie die
rechtlichen Überlegungen der technischen Entwicklung hinterher.
Die unterschiedlichen Anspruchsgruppen (Stakeholder) haben also sehr unterschiedliche
Perspektiven auf die elektronische Datenhaltung. Die großen Potenziale für die Steigerung
der Versorgungsqualität, also für die Verbesserung der Medizin, und für die Erhöhung
der Effizienz können allerdings nur dann realisiert werden, wenn die unterschiedlichsten
Daten aus den verschiedenen Datenquellen patientenzentriert zusammengeführt werden
[97]. Hierzu müsste eigentlich eine Interessensgleichheit aller Beteiligten angenommen
werden. Von dieser Voraussetzung hängt auch ab, ob, wie oft behauptet wird, die Medizin
vor disruptiven Veränderungen steht und ein echter Paradigmenwechsel zu erwarten ist.
Möglicherweise wird die Entscheidung darüber im Wettbewerb getroffen, was einer ordnungspolitischen
top-down Direktive in jedem Fall vorzuziehen ist [98]. Für die Marktteilnehmer auf Seiten der Leistungserbringer (Krankenhäuser und Arztpraxen)
und auf Seiten der Kostenträger (gesetzliche und private Krankenversicherungen) stellt
sich ein strategischer Imperativ: die eigenen Daten müssen verstanden und bewertet
werden und es sollten Handlungsoptionen entwickelt werden, die eine Verbesserung der
eigenen Versorgungsqualität und eine Erhöhung der Versorgungseffizienz im Sinne des
Patienten ermöglichen.
d) Technische Aspekte
Die aus Anwendersicht wichtigen technischen Elemente richten sich nach den erforderlichen
Funktionalitäten, dem „job to be done“ (s. o.). Weil Medizin, d. h. Krankheiten und
ihre jeweilige Behandlung, ein kontinuierlicher Vorgang ist (24/7), ist die wesentliche
technische Bedingung einer elektronischen Patientenakte die hohe Präsenz oder Verfügbarkeit,
also möglichst geringe oder gar keine „down times“. Dies erfordert redundante und
gespiegelte Systeme, damit Wartungszeiten entsprechend überbrückt werden können. Damit
im Zusammenhang steht der Anspruch an die Technik, dass es zu keinem Datenverlust
kommen darf, weil die lückenlose Kontinuität der Informationen für die ärztliche Entscheidungsfindung
unabdingbar ist. Da der Datenanfall wie oben beschrieben groß ist und weiter exponentiell
zunehmen wird, müssen entsprechende EHR-Systeme unlimitierte bzw. schnell und hoch
skalierbare Speicherkapazitäten zur Verfügung stellen. Die Analyse der immensen Datenmengen
erfordert zudem höchste Prozessorleistungen, damit schnell, bestenfalls in Real-time
entsprechende Schlüsse gezogen werden können. Einen ganz zentralen Aspekt stellt die
Datensicherheit dar, d. h. die Frage, wie die Datenbestände vor unberechtigtem Zugriff,
Diebstahl und Missbrauch geschützt werden können. Dazu zählt auch die Gewährleistung
der Fälschungssicherheit, sodass Manipulationen nicht möglich sind oder zumindest
transparent werden. In diesem Zusammenhang wird das Potenzial der Blockchain-Technologie
diskutiert, die durch die weltweite Distribution unzähliger Kopien der Datensätze
eine unbefugte Manipulation unmöglich machen soll [99]
[100].
Zentraler technische Aspekt in der Datenhaltung und -bewirtschaftung ist die Interoperabilität,
die auch auf vielen staatlichen Agenden als oberste Priorität gilt [101]. Da die relevanten klinischen und administrativen Datensätze an vielen verschiedenen
Stellen des Versorgungspfades anfallen und von unterschiedlichsten Systemen aufgenommen
und dokumentiert werden, muss sichergestellt sein, dass eine Übertragbarkeit von einem
System in das andere ohne Datenverlust gelingt, und dass die Zusammenführung kompatibel
gestaltet ist. Dies soll z. B. durch den Health Level 7-Standard gewährleistet werden
(HL-7), der den Austausch von Daten zwischen Organisationen im Gesundheitswesen und
deren Computersystemen ermöglicht. In Deutschland wird HL7 praktisch nur innerhalb
von Krankenhäusern eingesetzt und so gut wie nie zum Austausch von Daten zwischen
dem klinischen und dem niedergelassenen Sektor im Gesundheitswesen genutzt. Dies liegt
z. T. daran, dass sich in der Praxis-Software im niedergelassenen Bereich eine Fülle
von Datenaustauschformaten entwickelt hat, wobei die xDT wohl die Formate mit der
größten Verbreitung sind. Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) ist die
nächste Generation der HL7-Standards, die derzeit international implementiert werden
[34]
[102]. Aber nicht nur die technische Interoperabilität mithilfe von Spezifikationen muss
für eine optimale Nutzung gewährleistet sein, sondern auch die semantische Interoperabilität
[100]. Das bedeutet, dass die unterschiedlichen Daten, die in aller Regel nicht nur maschinell
generiert, sondern als (Frei-)Text von Menschen erstellt und in der Fallakte dokumentiert
werden, von den unterschiedlichen Zugreifenden gleichermaßen verstanden und interpretiert
werden müssen. Dies ist natürlich dadurch erschwert, dass jede Disziplin ihre eigene
Terminologie und ihren eigenen Jargon besitzt, die verschiedenen Berufsgruppen Synonyme
durchaus nicht synonym benutzen und sich die professionelle Sprache von der Laien-
und Umgangssprache inhaltlich und strukturell unterscheidet. Multilingualität, also
das gleichzeitige Verwenden von englischer und deutscher Sprache erhöht die Komplexität
zusätzlich [103].
Die Gesellschaft für Gesundheitsinformation und Managementsysteme HIMSS (Healthcare
Information and Management Systems Society) hat ein Electronic Medical Record Adoption
Model (EMRAM) entwickelt, dass zur Bewertung des Fortschritts bei der Einführung von
elektronischen Patientenakten geeignet erscheint. In diesem Modell werden 7 Stufen
definiert, entlang derer sich eine Organisation bis zur vollkommenen Etablierung einer
kompletten, papierlosen elektronischen Patientenakte und der dazugehörenden Behandlungspfade
entwickeln soll ([Abb. 2]).
Abb. 2 EMRAM-Modell zur Entwicklung einer optimalen ePA-Umgebung [104]
Stand heute haben bisher nur 2 deutsche Krankenhäuser die Stufe 6 erreicht. Auf Stufe
7 findet sich kein deutsches Krankenhaus und insgesamt nur 4 europäische Häuser (2
in den Niederlanden und jeweils eins in Portugal und der Türkei). Für die USA, in
denen in weit mehr Krankenhäusern EHRs etabliert sind, wird vorausgesagt, dass die
Mehrheit der Häuser die Stufe 7 nicht vor dem Jahr 2035 erreichen wird [105]. Dass die Wertversprechen der künstlichen Intelligenz und des Maschinenlernens in
der Krankenversorgung nur dann erfüllt werden können, wenn es technisch gelingt, diese
Algorithmen mit den elektronischen Patientenakten zu verbinden, liegt dabei auf der
Hand [34].
Ein weiterer technischer Aspekt, der bei der Weiterentwicklung optimaler EHRs zu berücksichtigen
ist, ist die Ermöglichung kollaborativer Zusammenarbeit, ohne am selben Ort zu sein.
In der Softwareentwicklung und in der Projektarbeit wird dies über verschiedene Kollaborations-Tools
wie bspw. Microsoft Teams, Sharepoint, Slack oder Trello gewährleistet. Diese Plattformen
ermöglichen die gleichzeitige Bearbeitung von Dokumenten durch mehrere Personen und
beinhalten ein strukturiertes Ablage- und Terminsystem sowie verschiedene Kommunikationsfunktionen
via Chat, Email, Telefon oder Video. Diesen Funktionen liegt ein Berechtigungssystem
zugrunde, das definiert, wer welche Daten erheben, einstellen, kommentieren oder bearbeiten
bzw. verändern darf. Außerdem treffen diese Systeme bestimmte Hierarchieentscheidungen,
sodass konfliktäre bzw. widersprüchliche Eingabeaufforderungen angezeigt oder aufgelöst
werden. Hier ist die technische Entwicklung außerhalb der Medizin schon sehr weit
fortgeschritten und es wird zukünftig darauf ankommen, dass die so entwickelten Lösungen
in die Datenhaltungs- und Bewirtschaftungssysteme integriert werden. Die größte technische
Herausforderung, die zugleich Erfolg und Scheitern von EHR-Systemen determiniert,
ist die Entwicklung eines nutzerfreundlichen Interface auf der Basis kohäsiver User
Experiences [54]. Der wichtigste Erfolgsfaktor, der zur breiten Anwendung von Softwareprogrammen
und Apps führt, ist die Einfachheit, Zugänglichkeit und Intuitivität der Nutzeroberfläche,
wie Google eindrücklich beweist. Nur wenn es gelingt, die hohe klinische Komplexität
in einer leicht zu verstehenden Datenstruktur abzubilden, werden elektronische Patienten-
bzw. Fallakten eine breite Akzeptanz bei den Nutzern finden.
e) Limitationen und Evidenz
Die Erfüllung der technischen Anforderungen und das Ausmaß, wie gut der „Job“ seitens
des EHR erledigt wird, determinieren den Nutzen des Systems und damit den Erfolg.
Die hierzu publizierten Studien zeichnen ein unklares, weil sehr heterogenes Bild
[25]
[106]
[107]. In vielen Konstellationen überwiegt der Frust der Anwender [108] und die Einführung von elektronischen Patientenakten wird in einer großen Burn-out-Studie
als führende Ursache in der Ärzteschaft angesehen [37]. Ein allgemeingültiges Phänomen ist, dass es während und in der ersten Zeit nach
der Einführung von EHRs zu einem Produktivitätsverlust der ärztlichen Tätigkeit von
10–20% kommt [16] und sich die zeitlichen Anteile des ärztlichen Alltags von der direkten Interaktionszeit
mit dem Patienten auf die Exposition gegenüber dem EHR verlagern, sodass insgesamt
fast 50% der zeitlichen Ressource des Arztes auf die Beschäftigung mit der elektronischen
Patientenakte fallen [109]. Ursächlich könnte sein, dass viele elektronische Datensysteme einen eigenen und
damit anderen Workflow vorsehen als der in der Routine eingeübte klinische Prozessfluss
[110]. In der Tat lässt sich in der Praxis beobachten, dass der klinische Workflow „passend
gemacht“ werden muss, sodass das Informationssystem funktioniert. Hier wird letztlich
das Pferd von hinten aufgezäumt. Die feststellbare Folge ist, dass die Compliance
der Nutzer schlecht ist und die Systeme nur minimalistisch in Anspruch genommen werden
[82].
Auch bei EHRs gibt es Spam, da das System per se nicht zwischen wertvoller und sinnloser
Information unterscheiden kann (GIGO). So wird über „decision support overload“ berichtet,
die zusammen mit einem manchen Programmen inhärenten Alarmismus zur „alert fatigueness“
führen kann, indem auf ständige Hinweise und Aufforderungen zum Handeln einfach nicht
mehr reagiert wird [36;40]. In diesem Zusammenhang ist es dann nicht überraschend,
dass auch Studien publiziert wurden, in denen im ersten Jahr der Einführung eines
umfassenden klinischen Datensystems eine Gefährdung der Patientensicherheit nachgewiesen
wurde [111]. Als besonders problematisch für die Patientensicherheit erscheint, dass computerbasierte
Entscheidungsunterstützungssysteme ihre Nutzer zu einer „Phantomobjektivität“ verleiten
[50]. Da der Computer eine bestimmte Handlungsoption empfiehlt und diese ja auf hoch
sophistizierten Analysealgorithmen beruht, ist es vermutlich schon aus medicolegalen
Gründen sinnvoll, dieser zu folgen. So bergen falsche Algorithmen in einem organisationsweiten
elektronischen Datenbanksystem das Risiko mehrfacher systematischer Fehlentscheidungen
[91]. Das beste Antidot bzw. die effektivste Prävention gegen derartige Risiken für die
Patienten stellt eine Intensivierung des Arzt-Patientenkontakts dar [112]. Dieser kostet Zeit, die knapp bemessen ist und, wie oben beschrieben, durch die
Einführung von elektronischen Patientenakten weiter reduziert wird. Dadurch werden
die Ärzte in ein Ressourcendilemma geführt, das nur schwer aufzulösen ist [113]. Festzuhalten bleibt, dass die klinische Erfahrung mit EHRs nicht eindeutig ist,
und dass die Studien ein sehr buntes Bild zeigen. Die Qualität der veröffentlichten
Studien schwankt und aufgrund der Heterogenität in den einzelnen Settings kann auch
keine befriedigende Modellierung erfolgen [82]
[114].
Mit der Einführung von elektronischen Patientenakten, insbesondere wenn Entscheidungsunterstützungssysteme
damit funktionell verbunden sind, ergeben sich auch haftungsrechtliche Fragestellungen,
die bislang größtenteils unverstanden oder zumindest unbeantwortet sind [115]. Dass künstliche Intelligenzprogramme und die ihnen zugrunde liegenden Mustererkennungsalgorithmen
nicht unfehlbar sind, sondern sogar mit relativ einfachen Mitteln überlistet und von
Hackern gekapert werden können, ist ein Umstand, der derzeit intensiv von den einschlägigen
Fachleuten diskutiert wird [116]. Überhaupt muss infrage stehen, ob nicht mit der Ausdehnung der analytischen Funktionalität
von EHR-Systemen gleichzeitig die Angriffsfläche für Hacker vergrößert wird. Dabei
entstehen nicht nur Gefahren hinsichtlich einer Datenmanipulation sondern auch hinsichtlich
des Auslesens höchst privater Daten und der retrograden Identifikation der eigentlich
anonymisierten oder pseudonymisierten Datenquellen (ergo individuellen Patienten)
[117]. Dass das Misstrauen der Patienten aufgrund solcher Berichte und Studien steigt
und damit die Bereitschaft, persönliche Daten in elektronische Akten einzufüttern
sinkt, erstaunt nicht [118].
Die Einführung von elektronischen Patientenakten, sei es im Krankenhaus oder in der
Arztpraxis oder auch der Krankenversicherung ist ein komplexes, aufwändiges und fehleranfälliges
Unterfangen. Allen Berichten über schlechte Erfahrungen, enttäuschte Erwartungen und
kontraproduktive Effekte ist gemein, dass zu wenig Ressourcen (Zeit, Kapital, Personal)
für die Kommunikation aufgewendet wurde [16]
[119]. Die konzeptionellen und praktischen Kenntnisse im Umgang mit komplexen und mächtigen
Datenhaltungs und Bewirtschaftungsprogrammen sind in den Heilberufen nicht besonders
stark ausgeprägt [120]. Somit besteht die Gefahr der Ausbildung von 2 Klassen: einer digitalen Elite, die
die neue Technologie anzuwenden und zu nutzen versteht und eines digitalen Prekariats,
das mit den Anwendungen nichts anzufangen weiß, diese ablehnt oder gar boykottiert.
Dieses Phänomen zeigt sich auch in anderen Branchen bei Vorhaben der digitalen Transformation.
Es besteht bis heute ein erhebliches Defizit an Best-Practice-Leitlinien, wie ein
EHR System am besten zu entwickeln und zu implementieren sei, sodass viele Vorhaben
gewissermaßen das Rad immer wieder neu erfinden und sich auf terra incognita vorwagen
[121]. Dieses Vorgehen ist naturgemäß mit erheblichen Risiken für die Kultur einer zum
Erfolg verpflichteten Organisation verbunden.
Die beschriebenen Hürden rufen naturgemäß die Ordnungspolitik auf den Plan, die auch
in Deutschland nunmehr versucht, die flächendeckende Einführung von ePA-Systemen zu
beschleunigen. In zentralisierten one-payer-Systemen wie dem britischen National Health
Service gelingt dies leichter als in fragmentierten, marktorientierten Systemen wie
bspw. den Vereinigten Staaten, der Schweiz oder Norwegen [122]. In Deutschland obliegt die Weiterentwicklung der Systeme der Selbstverwaltung,
also der Repräsentanz der Leistungserbringer und der Kostenträger, die in einem zähen
Verhandlungsprozess versuchen, den Ausgleich der Interessen in einer gemeinsamen Herangehensweise
zu erreichen. Gleichwohl hat der Gesetzgeber nunmehr angekündigt, die rechtlichen
Rahmenbedingungen so zu verändern, dass Deutschland, welches im internationalen Vergleich
deutlich zurückliegt, innerhalb sehr kurzer Zeit ein flächendeckendes EHR-System einführen
muss.
III. Erfolgsfaktoren, strategische und operative Implikationen
Dass die elektronische Datenhaltung und Bewirtschaftung große Qualitäts- und Effizienzpotenziale
birgt und alleine aufgrund der technischen Entwicklungen unabwendbar ist, ist unumstritten.
Es stellt sich aber die Frage, wie die beschriebenen Risiken minimiert, die systemischen
Hürden überwunden und die Erfolgsaussichten maximiert werden können. Aus der Literatur
und auf der Basis praktischer Erfahrungen lassen sich einige Erfolgsfaktoren identifizieren:
Die Konzeption und die Implementierung von Electronic Health Records ist eine strategische
Managementaufgabe, die auf der obersten Führungsebene verankert werden muss und von
dieser höchste und ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert. In einem klinischen Setting
ist das Zentrum der Bestrebungen die Interaktion zwischen Heilkundigem und Patient.
Deshalb ist die klinische bzw. die Versorgungsperspektive die maßgebliche Sichtweise
und nicht etwa der administrative Prozess [123]. So begrüßenswert die Schaffung zentraler Informationstechnik-Expertise auf der
Managementebene ist, bspw. durch Ernennung eines Chief Information Officers (CIO),
so sehr sind diese Aktivitäten doch häufig mit dem bequemen Weg des Delegierens von
technischen Fragestellungen verbunden. Dies führt letztlich dazu, dass die Kernkompetenz
des Wissens um den zentralen Wertschöpfungsprozess nicht als strukturbildendes Element
der CIO-Funktionen genutzt wird oder diesen zur Verfügung steht. Jedwede Entwicklung
sollte mit der Aufnahme und dem Verständnis im Sinne der Versorgung optimierter klinischer
Prozesse beginnen und dabei die Datenquellen, die Charakteristika der Daten, den Datenfluss,
d. h. auch den Datenempfänger und die geplante Nutzung der Daten abbilden. Die hohe
Interaktions- und Schnittstellendichte der klinischen Situation treibt dabei die Komplexität
nach oben. Da biologische Systeme per se durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität
und Ambivalenz (VUCA) gekennzeichnet sind, sind klassische, lineare Entwicklungsprozesse
für die infrage stehende Aufgabe ungeeignet. Stattdessen empfiehlt sich ein iteratives
und agiles Vorgehen, welches in kurzer Zeit Prototypen entwickelt und diese in der
realen Situation auf ihre Nutzbarkeit hin testet. Passt der Prototyp nicht zur Lösung
der Aufgabenstellung in der realen Situation, muss er verworfen und ein neuer Prototyp
entwickelt werden. Dabei gilt es, sich an der Customer Journey zu orientieren, die
festlegt, welches der „job to be done“ ist. Diese Festlegung, die die sogenannten
„Pain Points“ berücksichtigt, ist die wichtigste strategische Aufgabe, für deren Bearbeitung
ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen müssen. Die Kernfragen, die beantwortet
werden sollen, lauten:
-
Welches Problem wollen wir lösen?
-
Welche Fragestellungen wollen wir beantworten?
-
Welche unserer bisherigen Erfolg bedingenden Elemente müssen wir erhalten?
-
Wie wollen wir den Erfolg messen?
-
Welche Risiken können wir vorhersehen und wie können wir diese adressieren?
-
Welche Fähigkeiten sind notwendig und wie können wir diese aufbauen?
-
Wie können wir alle Beteiligten involvieren und auf den Erfolg verpflichten?
-
Welche Anreize müssen gesetzt werden?
-
Welche Anpassungen in der Organisation sind notwendig und welche davon sind wir bereit
vorzunehmen?
Insgesamt bedingt die Einführung von EHRs eine kulturelle Veränderung, die viele Beteiligte
aus ihrer Komfortzone herausführt und deswegen schwierig und risikobehaftet ist.
Um die Patientenperspektive in das Zentrum der Bestrebungen zu stellen, ist es sinnvoll,
Patienten im Sinne eines Co-Creation-Prozesses frühzeitig zu involvieren und ihre
Präferenzen zu verstehen [124]
[125]
[126]. Dabei sind anonyme Marktforschungserhebungen nur von begrenztem Wert, wohingegen
sich die direkte Einbindung bei der initialen Konzeptionierung und beim Testen der
Prototypen empfiehlt. Die Berücksichtigung der multiplen Datenquellen erstreckt sich
auch auf die eher unstrukturierten Daten, die von Patienten z. B. aus einem Tagebuch
zugesteuert werden können [90]. Sinnvolle elektronische Patientenakten leisten auch diese Funktionalität, sodass
eher anekdotische Narrative, denen ein zunehmender Wert beigemessen wird, ebenfalls
erfasst und einer Auswertung zugänglich gemacht werden können [127]. Wie oben bereits ausgeführt ist die Einfachheit, d. h. die Zugänglichkeit zum Datensystem
eine wesentliche Bedingung für dessen Nutzung und ein bedeutender Faktor für die Zufriedenheit
der jeweiligen Nutzer [34]
[54]
[112]
[128]
[129]
[130]. Letztlich geht es darum, ein Binnensystem, bestehend aus Patient, klinischem Stab
und Technologie zu entwickeln, das dann in eine Außenbeziehung z. B. zum Kostenträger
oder zu anderen Leistungserbringern und Dienstleistern eintreten kann [54]. Bereits vor 50 Jahren wurde in einer vollständig analogen Welt vorgeschlagen, wie
klinische Daten sinnvoll strukturiert werden könnten, um den Versorgungsprozess qualitativ
zu optimieren und gleichzeitig die Erkenntnisse aus dem individuellen Fall als prinzipielle
Lernerfahrung zu verallgemeinern [131]. An diesen Prinzipien hat sich durch die Digitalisierung letztlich nichts geändert.
Neben allen bereits diskutierten ordnungspolitischen Vorgaben stellt sich durchaus
die Frage, welche Anreize gesetzt werden können, um den Erfolg von EHRs zu befördern.
Hierbei scheinen finanzielle Anreize eine herausragende Rolle zu spielen [132]
[133]
[134]. Allerdings ist fraglich, ob sich mit dem Hygienefaktor Geld auch sogenannte „Workarounds“,
also das aufs Minimum reduzierte Anwenden der Technologie tatsächlich vermeiden lassen
[135]
[136]. In aller Regel bewirkt ein finanzieller Anreiz keine nachhaltige kulturelle Veränderung,
die wie oben erläutert jedoch vonnöten ist, um die Effektivitäts- und Effizienzpotenziale
der elektronischen Patientenakte zu realisieren. Die Entwicklungs- und Implementierungsprozesse
erfordern von den in der Organisation Beteiligten den Aufbau neuer Fähigkeiten, die
bisher nicht zum klassischen Kompetenzprofil der klinisch Tätigen gehören. Technologisches
Konzeptions- und Anwendungs-Know-how sowie Methoden aus dem Design Thinking und der
Systemanalyse entwickeln sich zu Schlüsselkompetenzen der zukünftigen, digital veränderten
Medizin und sollten in den Ausbildungs- und Weiterbildungskatalog der Heilberufe regelmäßig
aufgenommen werden [35]
[38]. Das hierfür ausreichend Zeit vorhanden sein muss, liegt auf der Hand [137]
[138].
Viele klinische Einheiten haben mit der Initiierung und Durchsetzung von Qualitätsmanagement-Vorhaben
die Erfahrung gemacht, dass die Beschäftigung mit den Kernprozessen mühsam, manchmal
unangenehm aber letztlich sinnvoll ist, weil sich dadurch verschiedene Ansatzpunkte
für eine Optimierung ergeben. Bei der Einführung von EHRs kommt es noch viel mehr
darauf an, die bisherigen Prozesse radikal infrage zu stellen und ggf. abzuändern
oder sogar völlig neu zu entwickeln. Wie in allen digitalen Transformationsprozessen
gilt auch hier der Leitsatz: “digitalizing a shitty process gives you a shitty digital
process“. Deshalb ist es geboten, den patientenzentrierten Workflow in den Fokus der
Überlegungen zu stellen und die Datenhaltung und -bewirtschaftung in diesen zu integrieren
[39]
[139]
[140]. Dazu mag es sinnvoll sein, gemeinsam mit den Softwareentwicklern und Systemarchitekten
Entwicklungsteams zu bilden, die nahe an der klinischen Praxis angesiedelt sind [141]. So lassen sich nicht nur Customer Journeys (s. o.) sondern auch Data Journeys nachvollziehen,
bei denen mögliche Systembrüche frühzeitig identifiziert und konzeptionell berücksichtigt
werden können [142].
Was braucht es also, um die größte digitale Effektivitäts- und Effizienzbarriere von
EHR-Systemen, das kulturelle Beharrungsvermögen zu überwinden [143]? Viele verschiedene Einfluss- und Erfolgsfaktoren sind dafür ins Feld geführt worden
und sicherlich haben alle von ihnen ihre Relevanz in einem so komplexen Umfeld wie
der klinischen Versorgung [139]. Der wichtigste Faktor jedoch, der in zahllosen Studien und Fallberichten einmütig
bestätigt wird ist die ungeteilte Aufmerksamkeit der obersten Führungsebene und das
uneingeschränkte Commitment des Top-Managements [144]
[145]. Wie bei vielen kritischen Veränderungsprojekten in großen, arbeitsteiligen Organisationen
ist eine kontinuierliche, intensive Kommunikation Pflicht, wobei Multiplikatoren auf
jeder Hierarchieebene und in allen Organisationseinheiten bzw. Unternehmensfunktionen
ein unverzichtbares Element darstellen, welches hilft, das Veränderungsmomentum kraftvoll
und nachhaltig in die Organisation zu tragen [146]
[147]. Da elektronische Patientenakten als interdisziplinäre Datenbank konstruiert sind,
muss das Vorhaben der Konzeption und der Implementierung von vornherein transdisziplinär
aufgesetzt werden [148]. Da sich die Medizin, die Versorgung, somit das professionelle Umfeld aber auch
der Patient, seine Lebenswirklichkeit und seine Erwartungen und insgesamt die Gesellschaft
mit hoher Dynamik verändern, wird konsequenterweise der Change-Prozess, der mit der
Implementierung eines EHR-Systems begonnen wurde, adaptiv gestaltet werden müssen
und nicht zeitlich abgrenzbar sein [50]. Soziologische und organisationspsychologische Untersuchungen der Performance von
Internet-basierten sozialen Netzwerken unterstreichen, dass ein iteratives und laufend
adaptierendes, quasi experimentelles Vorgehen, das aber gleichzeitig rigide Evaluations-
und Selektionsprozesse beinhaltet, den Schlüssel zum Erfolg darstellt [149]
[150]. Die den in der Medizin und im Versorgungssystem Tätigen inhärente Problemlösungskompetenz
und die damit verbundenen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sind eigentlich hervorragende
Bedingungen, um eine sinnvolle Entwicklung und Implementierung von ePA-Systemen zu
bewerkstelligen und einen hohen Nutzen für alle Beteiligten zu realisieren [151]. Frustrationstoleranz ist eine wichtige Tugend, denn es muss sich um lernende Systeme
handeln [36]
[40]. Und schließlich ist es ratsam, eine gewisse Sensibilität für möglicherweise entstehende
marktverzerrende Unwuchten zu entwickeln [152]. Der benötigte hohe Aufwand an Kapital, Manpower und Zeit begünstigt prinzipiell
große Einheiten und könnte einer Oligopolbildung den Weg ebnen. Derartige Konzentrationsprozesse
sind bei Suchmaschinen, Internethändlern und sozialen Netzwerken zu beobachten.
Elektronische medizinische Datenhaltungs- und Datenbanksysteme werden in den nächsten
Jahren zum Standard der klinischen Dokumentation werden. Als elektronische Patientenakte,
ePA, oder Electronic Health Record, EHR, werden sowohl klinische als auch administrative
Daten zusammengefasst. Die Daten stammen aus der Versorgung, aus Abrechnungsprozessen
der Leistungserbringer mit den Kostenträgern als auch vom Patienten selbst, der Messwerte
aber auch Narrative in die Datenbank einbringen kann. Mithilfe von weiterführenden
Technologien wie der künstlichen Intelligenz oder dem Maschinenlernen wird es mehr
und mehr gelingen, die immensen Datenmengen sinnvoll zu strukturieren und auszuwerten
und für alle Beteiligten sinnvolle Entscheidungshilfen zu entwickeln. Bereits bei
der Datenerfassung entscheidet sich, ob sich das Wertversprechen einer erhöhten Versorgungsqualität
und/oder einer gesteigerten Versorgungseffizienz erfüllt, da ein unvollständiger oder
unkorrekter Datensatz nicht zu einem sinnvollen Analyseergebnis führen kann. Weil
vollfunktionale elektronische Datensysteme das Potenzial besitzen, die klinische Medizin
und die traditionelle Versorgungslogik nachhaltig zu verändern, gehört die Konstruktion
und Implementierung eines EHR auf die strategische Agenda der ärztlichen Entscheidungsträger
in Praxis, Klinik, Verbänden und wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Jedes Vorhaben
braucht von Beginn an eine strategische Perspektive, die genau beschreibt, welches
der „job to be done“ ist. Im Zentrum sollte der unmittelbare oder auch mittelbare
Nutzen für den Patienten stehen. Ausgehend vom klinischen Kernprozess, d. h. von der
Interaktion zwischen Heilkundigen und Patienten gelingt die Beschreibung der Wertschöpfungsmechanik
und Identifikation des vorhandenen Datenschatzes. Die Entwicklung und Implementierung
wertvoller und nutzenstiftender Datenhaltungssysteme erfordert immense Ressourcen,
sowohl Zeit als auch Geld und schließlich Kapital. Neue Fähigkeiten, bspw. agile Arbeitsmethoden
oder Design Thinking Know-how sind zu entwickeln; alte Tugenden wie Disziplin, Commitment
und Aufrichtigkeit sind zu pflegen. Die Risiken, die mit der Veränderung der Prozesse
und der zugrunde liegenden Denkweise verbunden sind, sollten aufmerksam adressiert
und abgewehrt werden. Dazu zählen ein positivistisch-unkritischer Glaube an die Unfehlbarkeit
von computergestützten Algorithmen, der Verzicht auf die Mühen der direkten persönlichen
Exposition durch Nutzung elektronischer Kommunikation anstelle des face-to-face mit
dem Patienten oder dem ärztlichen Kollegen und schließlich der freiwillige oder erzwungene,
weil vermeintlich technisch alternativlose Verzicht auf eine ganzheitliche Erfassung
von klinischen Daten und unstrukturierter Information zugunsten von vereinfachten,
checklistenartigen Informationsrudimenten. Insgesamt können medizinische Datenbanksysteme
in ganz erheblichem Ausmaß zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen und stellen
damit einen zukünftig bedeutsamen Wettbewerbsfaktor dar.