Der Beitrag bietet eine Synthese aus den Ergebnissen der historischen Forschung zur
Psychiatrie im Nationalsozialismus und einigen Implikationen für medizinethische Debatten.
Thematisiert werden das Verhältnis zwischen Ärzteschaft und NS-Staat, die Bedeutung
der eugenisch und ökonomisch motivierten Gesundheits- und Sozialpolitik für die Psychiatrie
(Zwangssterilisation, „Euthanasie“) sowie die psychiatrische Forschung. Drei verbreitete
Mythen werden entkräftet: 1. die Annahme, dass medizinische Verbrechen das Resultat
einer irrationalen, der Medizin von außen aufgezwungenen Politik gewesen seien; 2.
die Annahme, dass die Zwangssterilisationen und Patiententötungen nichts mit den zeitgenössischen
Standards von medizinischem Handeln zu tun gehabt hätten und 3. die Annahme, dass
die ethisch unakzeptablen Forschungsaktivitäten von Psychiatern nichts zu tun hatten
mit dem zeitgenössischen Standard der biomedizinischen Wissenschaften. Es wird die
These formuliert, dass die Grenzüberschreitungen zwischen 1933 und 1945 nicht spezifisch
für die Zeit des Nationalsozialismus waren, sondern lediglich eine extreme Manifestation
von Potenzialen, die in der modernen Medizin generell angelegt sind.
Schlüsselwörter
Psychiatrie - Nationalsozialismus - Eugenik - „Euthanasie“ - psychiatrische Forschung