Die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen
Geschwisterbeziehungen stellen neben Beziehungen zu Gleichaltrigen bedeutsame Kontexte
für die individuelle Entwicklung von Kindern dar. Sie sind die überdauerndste Form
von Beziehungen über die Lebenszeit hinweg [[1], [2]]. So verbringen Kinder in der mittleren Kindheit mehr Zeit mit ihren Geschwistern
als mit ihren Eltern [[3]]. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass in Deutschland die meisten minderjährigen
Kinder mit mindestens einem minder- oder volljährigen Geschwisterkind gemeinsam in
einem Haushalt leben [[4]].
Geschwisterbeziehungen können dabei durch Liebe und Zuneigung, aber auch durch Gewalt
und Missgunst geprägt sein. Sie haben damit substanzielle und weitreichende direkte
und indirekte Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern [[5]]. Positive Geschwisterbeziehungen können dabei eine Vielzahl positiver Einflüsse
auf die Entwicklung haben und zum Wohlbefinden beitragen [[6]]. Doch sind Geschwisterbeziehungen nicht immer harmonisch und unterstützend. Konkurrenz
zwischen Geschwistern und gelegentliche Konflikte werden häufig als normal betrachtet.
Das Thema Rivalität unter Geschwistern ist ein in der Gesellschaft schon lange präsentes
Phänomen, wie etwa die Geschichte um Kain und Abel belegt. Eine subs-tanzielle Zahl
von Kindern und Jugendlichen gibt jedoch an wöchentlich Opfer von Bullying durch Geschwister
zu werden [[6]]. Angelehnt an die Definition von Bullying nach Olweus [[7]] definieren Wolke und Kollegen Bullying unter Geschwistern als Form von Aggression
zwischen Geschwistern, die indirekte oder direkte und persistierende Verhaltensweisen
sowie ein Machtungleichgewicht beinhalten [[6]]. Aggressive Verhaltensweisen können physischer (schlagen), verbaler (Beschimpfungen)
oder relationaler (Gerüchte verbreiten) Natur sein. Damit werden einzelne aggressive
Verhaltensweisen ausgeschlossen, die eher als Geschwisterrivalität gesehen werden
können und damit eine weniger schwere Form darstellen.
Häufigkeit von Bullying unter Geschwistern
Insgesamt bestehen nur wenige Studien, die Bullying unter Geschwistern untersuchen
[[6]]. Aufgrund einer fehlenden einheitlichen Erfassung von Bullying unter Geschwistern
mit unterschiedlichen Messinstrumenten und verschiedenen Cut-Offs ist keine eindeutige
Aussage über die Häufigkeit des Phänomens zu treffen. Unbestritten ist jedoch, dass
Bullying unter Geschwistern ein häufiges Phänomen darstellt und viele Kinder und Jugendliche
davon betroffen sind. Auf Basis der Ergebnisse unterschiedlicher Studien aus den USA,
Israel Uk und Italien schließen Wolke und Kollegen, dass Bullying unter Geschwistern
eine häufige Form von Misshandlung darstellt [[6]]. Werden alle von Formen von Bullying unter Geschwistern mit einbezogen, zeigen
sich in einer systematischen Literaturübersicht von Wolke und Kollegen Prävalenzraten
von 15 % bis 50 % dafür Opfer von Bullying durch Geschwister zu werden. Die Prävalenzraten
dafür Bullying gegen Geschwister auszuüben liegen zwischen 10 % und 40 % [[6]]. Damit liegen diese Zahlen über den Raten, wie sie üblicherweise für Bullying unter
Gleichaltrigen gefunden werden [[8]]. Neben der höheren Frequenz von Bullying unter Geschwistern im Vergleich Bullying
unter Gleichaltrigen [[9], [10]], scheint ein Merkmal von Bullying unter Geschwistern die hohe Zahl derer zu sein,
die zugleich Opfer und Täter sind [[6], [10]]. Wolke und Kollegen sehen dies als Ausdruck einer weniger statischen Machtdynamik
in Familien [[6]].
In einer bevölkerungsrepräsentativen Studie aus Deutschland mit 2516 Teilnehmern gaben
73 % an in der Kindheit und Jugend mit einem Geschwister, Halbgeschwister oder Stiefgeschwister
zusammengelebt zu haben. Von diesen gaben 12,8 % mindestens einmal pro Monat von ihren
Geschwistern absichtlich verletzt oder gemobbt worden zu sein. Selbst andere Geschwister
mindestens einmal pro Monat absichtlich verletzt oder gemobbt zu haben, gaben 11,8
% der Befragten an, die mit Geschwistern zusammengelebt hatten. Auch in dieser Untersuchung
zeigt sich die hohe Überschneidung von Tätern und Opfern von Bullying. Insgesamt gaben
9,9 % an, mindestens einmal pro Monat Bullying erlebt und selbst ausgeführt zu haben
[[11]].
Massive Formen von Bullying unter Geschwistern
Während klar ist, dass Geschwister untereinander streiten und Konflikte austragen,
kann es unter Geschwistern aber auch zu massiven Ausbrüchen von emotionaler und körperlicher
Gewalt kommen. So berichten vier von fünf Familien, dass im letzten Jahr irgendeine
Form von Gewalt zwischen den Geschwistern auftrat [[12]]. Bei einer Vielzahl dieser Familien, fielen diese Formen relativ gering aus und
beinhalteten Handlungen, wie Schubsen, Schlagen oder das Werfen von Gegenständen.
Ein großer Anteil der Familien (53 %) berichtete jedoch auch von Gewalttaten mit einem
hohen Schädigungspotential, wie Treten, Beißen, Schlagen mit Objekten und Schlägereien.
Darüber hinaus wurde sogar der Gebrauch von Waffen, wie Messer oder Schusswaffen beschrieben
[[12]]. Während solche Taten im Alltag fast immer zur Anzeige gebracht werden, folgen
diesen Taten im familiären Umfeld selten Konsequenzen, sondern bleiben häufig hinter
verschlossenen Türen [[10], [12]].
Folgen von Bullying unter Geschwistern
Bullying unter Geschwistern kann ähnliche Folgen, wie das Bullying unter Gleichaltrigen
auslösen. Manche Autoren beschreiben darüber hinaus, dass Bullying unter Geschwistern
im Vergleich zu Bullying unter Gleichaltrigen schwerwiegendere Folgen haben kann.
Ein Argument dafür ist, dass Bullying unter Geschwistern auch das Risiko für Bullying
durch Gleichaltrige erhöht. Manche Kinder haben somit keine Möglichkeit diesen negativen
Einflüssen zu entfliehen und werden zu Hause und auch in der Schule Opfer von Bullying.
Die Effekte scheinen kumulativ zu wirken. Kinder, die Bullying durch Geschwister und
Gleichaltrige erleben, weisen das größte Risiko für die Entwicklung von Störungen
auf [[6]]. Bullying unter Geschwistern wurde als Risikofaktor für emotionale Probleme, wie
Depression in der Adoleszenz identifiziert [[6]]. Eine prospektive Studie zeigt, dass Bullying unter Geschwistern das Risiko für
depressive Symptome und Selbstverletzung um das doppelte erhöht [[13]]. Dieser Effekt bleibt auch bestehen, wenn für verschiedene Faktoren kontrolliert
wird.
Neueste Forschungsergebnisse zeigen zudem einen deut-lichen Zusammenhang mit psychotischen
Störungen [[14]]. So haben Personen, die als Kinder von Geschwistern gemobbt wurden ein um das Dreifache
erhöhte Risiko eine psychotische Störung zu entwickeln. Dabei zeigt sich auch, dass
das Risiko für eine psychotische Störung steigt, je häufiger die jungen Erwachsenen
als Kinder in Bullying, als Opfer, Täter oder in beiden Rollen verwickelt waren. Das
höchste Risiko wurde für diejenigen Kinder beobachtet, die sowohl Täter als auch Opfer
waren.
Faktoren für Bullying unter Geschwistern
Das Zuhause ist der primäre Ort, an dem Geschwister untereinander interagieren. Somit
spielen Haushaltsfaktoren eine wichtige Rolle für das Auftreten von Gewalt unter Geschwistern.
Erziehungsqualität und das Erziehungsverhalten der Eltern sind dabei die intrafamiliären
Faktoren, die am stärksten mit Bullying zwischen Geschwistern assoziiert sind [[6]]. Insbesondere Kindesmisshandlung wurde als Risikofaktor für Bullying unter Geschwistern
identifiziert [[1], [13], [15], [16]]. Auch fehlende elterliche Wärme und Beaufsichtigung sind mit Bullying unter Geschwistern
assoziiert [[17]]. Elterliche Ungleichbehandlung und Bevorzugung von Geschwistern spielen darüber
hinaus eine Rolle. Ferring und Kollegen zeigten negative Folgen für die benachteiligten
Geschwister sowie für die Geschwister- und Eltern-Kind-Beziehung [[18]]. Die psychischen Folgen bei den Betroffenen können von Depressionen über Rückzug
und psychosomatischen Beschwerden bis hin zu aggressivem und antisozialem Verhalten
reichen. Und besonders schwer sind diejenigen Kinder betroffen, die nicht nur von
Mutter oder Vater, sondern von beiden Elternteilen benachteiligt und zurückgesetzt
wurden [[18]]. Umgekehrt zeigt sich aber auch, dass gelegentliche Konflikte zwischen Geschwistern
und deren konstruktive Lösung auch positive Effekte haben kann [[6]].
Darüber hinaus zeigt sich, dass Bullying unter Geschwistern häufiger in Haushalten
mit männlichen Geschwistern und Familien, in denen die Geschwister sehr nah nacheinander
geboren worden sind, ist [[1], [19]]. Jüngere Geschwister scheinen häufiger Bullying zu erleben. Insgesamt zeigen Studien
zudem, dass mit der Anzahl der Geschwister das Risiko für Bullying unter Geschwistern
steigt [[13], [19]]. Alleinerziehende Eltern und Stiefeltern scheinen das Risiko für Bullying unter
Geschwistern nicht zu erhöhen [[6]]. Angesichts der steigenden Bedeutung von Patchworkfamilien und dass davon ausgegangen
werden kann, dass eine Wiederholung von Mustern stattfindet, sollte zukünftig ein
besonderer Fokus auf diesem Thema liegen.
Bisherige Präventions- und Beratungsansätze
Aufgrund der Tatsache, dass Geschwisterrivalität häufig als normal angesehen wird
und allgemein die Überzeugung besteht, dass Aggression und Bullying unter Geschwistern
normale Übergangsphänomene darstellen, wurde diesem Thema wenig Aufmerksamkeit geschenkt
[[6], [20]]. Damit wurde auch das Thema Interventionen lange vernachlässigt. Somit bestehen
keine spezifischen Behandlungs- oder Präventionsprogramme, die gezielt auf Bullying
unter Geschwistern ausgerichtet sind. Jedoch wurden Programme zur Verbesserung der
Beziehung unter Geschwistern entwickelt [[21], [22], [23], [24]]. Diese beinhalten Module zur Stärkung sozio-emotionaler Kompetenzen, zur Emotionsregulation,
interpersoneller Fähigkeiten und Elternberatung zum Umgang mit Konflikten unter Geschwistern.
Insgesamt berichten alle Programme positive Effekte auf die Eltern, Geschwister und
Geschwisterbeziehungen [[6]]. Die Programme nutzen eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden, wie Verstärkung
positiver Kommunikation, Modelllernen und Videos. Die Eltern werden häufig als Kotherapeuten
eingesetzt [[6]]. Gerade unter dem Aspekt, dass das elterliche Verhalten stark mit Bullying unter
Geschwistern assoziiert ist, stellen effektive Mediationsstrategien bei Eltern vielversprechende
Ansätze dar, die bisher jedoch nur wenig untersucht wurden [[6]]. Als besonders vielversprechend sehen Wolke und Kollegen [[6]] ein Programm zur Verbesserung von Geschwisterbeziehungen, das bei Kindern in Pflegefamilien
eingesetzt wird [[25]]. Dieses Programm integriert Module zur Emotionsregulation, ein soziales Kompetenztraining,
Ansätze zum Familiensystem und Meditationsstrategien für die Eltern zum besseren Umgang
mit Geschwisterkonflikten. In Anbetracht der Häufigkeit des Problems, sollten niederschwellige
Angebote über moderne Medien etabliert werden, die möglichst viele Fami-lien erreichen.
Interventionen
Interventionen müssen zu Hause starten. Dort muss systematisch exploriert werden,
welche Faktoren das Bullying begünstigen. In Anbetracht der Folgen für die Betroffenen
sind Interventionen dringend notwendig um Bullying unter Geschwistern zu verhindern
oder zu reduzieren [[6]].
FAZIT FÜR DIE PRAXIS
Bullying unter Geschwistern ist ein häufiges Phänomen und kann für Betroffene lebenslange
Folgen haben. Aufgrund dessen sollte Bullying unter Geschwistern Berücksichtigung
in der Anamneseerhebung finden. Evidenzbasierte Interventionen und Präventionsprogramme
sind notwendig, um dem Problem wirksam vorzubeugen und zu begegnen.