Der Klinikarzt 2019; 48(01/02): 1-2
DOI: 10.1055/a-0820-3188
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nachdenken über den Wandel

Matthias Leschke
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Publication Date:
28 February 2019 (online)

Klar, nichts bleibt, wie es ist. Das ist die Eigenart des Lebens. Das Heute – die Gegenwart – ist einen Tag später schon wieder Vergangenheit. Wandel ist selbstverständlich, fällt uns aber meist erst dann auf, wenn gravierende Änderungen stattgefunden haben. Dennoch: Im Augenblick befindet sich unsere Welt in einem radikalen Umbruch. Dieser Wandel vollzog sich nicht mit einem Schlag, ähnlich wie ein Unwetter auf uns niederprasselt. Unsere Welt verändert sich schon seit längerem. Erst im Rückblick begreift man, auf welch subtile Weise dieser Wandel begonnen hat. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, wo offensichtlich wird, dass so ziemlich vieles ganz anders ist.

Etwa die politische Landschaft unserer Republik – und weltweit. Was niemand geglaubt hat: Amerika verändert sich in einer Weise, die extremer nicht ausfallen könnte. Ein neuer Präsident verwandelt die größte Demokratie der Welt in eine selbstgefällige Autokratie. Oder das politische Parteiensystem in Deutschland – jahrzehntelang eine gefestigte Bastion zweier konkurrierender Volksparteien. Das war einmal: Die politische Mitte verflüchtigt sich unaufhaltsam. Neue Parteien gedeihen auf dem Nährboden populistischer Irrationalität. Eine heimliche Revolution ohne Aufmarsch und Fahnen?

Was uns Ärzte besonders berührt, ist der Umbruch im Gesundheitswesen. Den Mangel an Ärzten und Pflegekräften spürt allmählich jeder Bürger. Die Politik diskutiert das Problem, hat aber bisher keine Perspektiven, wie das zu ändern ist. Statt der guten alten Praxis mit dem überfüllten Wartezimmer jetzt gesetzlich verordnete Mehrleistung der niedergelassenen Kollegen? Oder die Hoffnung auf das Wunder der Telemedizin? Der Patienten-Arzt-Kontakt via Skype? Die Medikamentenversorung durch Amazon? Und die Personalmisere in den Pflegeeinrichtungen alsbald roboterunterstützt behoben, wobei niedliche Technointelligenz Suppe und Pillen ans Pflegebett liefern?

Heute diskutiert man lebhaft über eine individualisierte Medizin und meint damit, dass eine Therapie auch bei gleichem Krankheitsbild individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sein muss. Die individualisierte Medizin hat heute schon das onkologische Terrain aufgemischt. Man weiß, dass keine Krebserkrankung der anderen gleicht. Und die Schlafmedizin, die eigentlich fast alle anderen Medizinressorts tangiert, steht ebenso vor einem radikalen Paradigmenwechsel. Die Diagnostik kommt zum Patienten, nicht mehr der Patient zur Diagnostik. Die Diagnostik muss nicht mehr zeit- und kostenaufwändig von Schlaflaboren vorgehalten werden, was die Krankenkassen ohnehin nicht mehr adäquat zu bezahlen bereit sind. In Frankreich spart man schon leit langem die Polysomnografie ein und stellt Schlafapnoiker ambulant auf ihre Therapie ein.

Und die Krankenkassen verstehen sich – unter der Hand natürlich – immer mehr als profitorientierte Unternehmen, die Gewinn zu machen gezwungen sind. Hier heißt es, Rücklagen zu bilden. Bei der Krebsmedizin hat man sich eines möglichen Imageschadens wegen noch nicht zu rationieren getraut. Doch wo es nicht so weh tut, wo keine deutschlandweiten Proteste zu erwarten sind, kürzt man gnadenlos und freut sich, wenn das Sparschwein der GKV, der MDK, vernünftige Therapien ablehnt. Ein Beispiel: Manche Schlafapnoe-Patienten kommen mit der Maskentherapie nicht zurecht. Der Hypoglossus-Simulator, vom Volksmund als Zungenschrittmacher tituliert, ist eine echte Therapiealternative – freilich auch recht kostenintensiv. Also erklärt der MDK-Gutachter, das sei alles Kokolores und die Leitlinie der Experten ohnehin indiskutabel. Dann soll der Betroffene halt untherapiert bleiben, wenn er die Maske ablehnt. Basta. Der Gutachter ist natürlich kein Schlafmedizinier, sondern vielleicht Gynäkologe oder Orthopäde. Fachkenntnisse kämen den MDK-Sparkommissaren ohnehin nur in die Quere.

Zum Wandel in unserer Gesellschaft gehört auch der Verlust der Empathie und des Respekts vor dem anderen. Es war einst gemeinhin üblich, der Tätigkeit von Feuerwehrleuten, Polizisten oder Notärzten mit Hochachtung zu begegnen. Das war gestern. Rettungssanitäter werden bei ihrer Hilfe vor Ort angepöbelt und beschimpft, Polizeiwagen verweigert man die Rettungsgasse, Mitarbeiter in den Notaufnahmen der Kliniken werden körperlich malträtiert, wenn man nicht zügig zum Arzt vorgelassen wird, und Ärzte von unzufriedenen Patienten in ihrer Praxis erschossen. Neulich haben Sensationslüsterne auf der Autobahn die Tür eines Rettungswagens geöffnet und den Sterbenden via Smartphone für Instagram abgelichtet.

Was also tun? Resignieren? Sich abfinden? Die Kollegen um den Pneumologen Prof. Dieter Köhler haben sich nicht abgefunden mit der Stickoxid-Hysterie, sondern den Gutachtern und der Politik die Leviten gelesen: Das ganze Gerede um die Luftverschmutzung sei voreilig und nicht durch ernsthafte Studien belegt. Lieber Hunderttausenden ihr Auto madig machen schlimmer noch, sie im Besitz eines Diesels zu enteignen, als die fahrlässig agierenden Autokonzerne in die Pflicht zu nehmen. Und was ist dann eigentlich mit der Feinstaubemission beim Grillen, andächtigen Genießen des Kerzenscheins unseres Adventskranzes, bei Feuerwerken, in der Landwirtschaft oder in U-Bahnhöfen, wo der Bremsabrieb der Züge die Luft verschmutzt? Zeigen wir Mut, artikulieren wir auch das Unangenehme.