Nervenheilkunde 2019; 38(05): 227-228
DOI: 10.1055/a-0847-8717
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Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Ekkehard Wilichowski
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06 May 2019 (online)

 
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Prof. Dr.med. Ekkehard Wilichowski Abteilung Neuropädiatrie Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Göttingen (UMG)

Fortschritte bei Diagnostik und Therapie Neuromuskulärer Erkrankungen: Göttinger Heft I

Es ist genau 30 Jahre her, dass durch positionale Klonierung das für die Duchenne‘sche Muskeldystrophie (DMD) verantwortliche Dystrophin-Gen und kurze Zeit später sein gleichnamiges Genprodukt entdeckt wurden. Dieses revolutionäre Ereignis ist als Reverse Genetics in die Medizingeschichte eingegangen – weil der bis dato übliche Weg „Vom Protein zum Gen“ umgekehrt wurde: „Vom Gen zum Protein“. Es markierte den Beginn der Molekularen Medizin. In den darauffolgenden Jahren wurden zahlreiche weitere Komponente eines phantastischen sarkoplasmatischen Proteinnetzwerkes beschrieben, das den kontraktilen Apparat der Myofibrillen mit der extrazellulären Kollagenmatrix verbindet – ein Netzwerk, von dem niemand zuvor etwas ahnte. Mittlerweile ist die Mehrzahl der über 40 verschiedenen Typen von Muskeldystrophien einem distinkten Proteindefekt dieses Netzwerkes zugeordnet. Auch bei vielen anderen Neuromuskulären Erkrankungen wie der spinalen Muskelatrophie (SMA), der Myotonen Dystrophie (DM1, 2), der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und den Myositiden konnten in den vergangenen 30 Jahren die genetischen und pathophysiologischen Grundlagen aufgeklärt und ganz neuartige Therapieansätze entwickelt werden.

Die umfangreichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte in Kombination mit den sensationellen Möglichkeiten des Next-Generation-Sequencings (NGS) der letzten Jahre bereiten den Weg zur translationalen Medizin, die Einzug in den klinischen Alltag der Diagnostik und Therapie Neuromuskulärer Erkrankungen hält. Vielfältige molekulare Therapien mit kausalem Ansatz sind entweder bereits zugelassen oder befinden sich in der fortgeschrittenen klinischen Prüfung. Als Beispiel sei die Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern mit SMA Typ 1 genannt, die seit 2017 mit Nusinersen eine sichere Überlebenschance erhalten. Es ist absehbar, dass insbesondere bei den genetischen Formen die Therapie möglichst frühzeitig, das heißt im Kindesalter, beginnen und lebenslang durchgeführt werden muss. Dies lässt die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Neuropädiater und Neurologen sowie allen anderen der mitbehandelnden Diszip-linen eng zusammenrücken.

Die in diesem ersten Themenheft der Nervenheilkunde enthaltenen Abstracts des am 09. und 10. Mai 2019 in Göttingen ausgerichteten 24. Kongresses des Medizinisch-Wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM) dokumentieren auf eindrucksvolle Weise den aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung Neuromuskulärer Erkrankungen. Namhafte Experten aus dem In- und Ausland berichten über moderne diagnostische Werkzeuge (z. B. bildgebende Verfahren, spezielle muskelhistologische Anwendungen, NGS-Techniken) und innovative molekulare Therapien (z. B. Gentherapie bei DMD, SMA). Darüber hinaus bietet die Tagung den wissenschaftlichen Netzwerken die Möglichkeit für die Präsentation und Diskussion ihrer aktuellen Themen.

Eingerahmt werden die Abstracts von 3 Übersichtsartikel. Anna Schänzer, Hans Hilmar Goebel und Werner Stenzel berichten über die morphologischen Charakteristika der Muskelbiopsie bei inflammatorischen Myopathien. Sie stellen heraus, dass neben den klinischen Befunden der Nachweis von Autoantikörpern und die detaillierte morphologische Analyse der Muskelbiopsie entscheidend sind für die Auswahl der Therapieoptionen und die Langzeitprognose.

Trotz aller Fortschritte bei den kausalen Therapien einzelner Neuromuskulärer Erkrankungen ist die symptomatische Behandlung für die überwiegende Mehrzahl der Patienten immer noch von viel größerer Bedeutung. Martin Groß und Oliver Summ berichten von den umfangreichen Möglichkeiten rehabilitativer Maßnahmen bei Patienten mit ALS. Sie zeigen anhand von Evidenzen, dass die multidisziplinäre Zusammenarbeit Basis ist für die Verlängerung der Überlebenszeit, die Erhaltung der sozialen Teilhabe und die Verbesserung der Lebensqualität.

Im Beitrag von Axel Ruetz geht es um die Behandlung der Folgezustände nach Poliomyelitis acuta anterior. Präsentiert werden die notwendigen Assessment-Tools, mit denen das Restleistungsvermögen bestimmt und die therapeutischen Konzepte beschrieben werden. Diese betreffen die Physiotherapie, Beatmungsmedizin, Schmerztherapie, Unfallversorgung als auch die Orthopädietechnik.

Vor 30 Jahren war die Erwartung groß, rasch wirksame Therapien für Neuromuskuläre Erkrankungen zu entwickeln. Es hat doch deutlich länger gedauert als viele von uns dachten … Aber nun stehen wir an der Schwelle einer 2. Revolution – zum Wohle unserer Patienten.


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Prof. Dr.med. Ekkehard Wilichowski Abteilung Neuropädiatrie Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Göttingen (UMG)