B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2019; 35(02): 110-111
DOI: 10.1055/a-0860-2376
Journal Club
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Periodisiertes Heimtraining: eine neue Strategie, die Adhärenz zu hochintensiver Bewegungstherapie bei Personen mit milder Multipler Sklerose zu verbessern

Keytsman C. et al.
Periodized home-based training: A new strategy to improve high intensity exercise therapy adherence in mildly affected patients with Multiple Sclerosis.

Multiple Sclerosis and Related Disorders. 2019;
28: 91-97
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Korrespondenzadresse

Dr. Alexander Tallner
Department für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Publication History

Publication Date:
09 April 2019 (online)

 

Abstract aus dem Englischen übersetzt und leicht modifiziert von S. Peters


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Einleitung

Obwohl hochintensive Bewegungstherapie (HIT) bei Multipler Sklerose (MS) substanzielle Effekte hat, ist die Langzeitcompliance zu einem solchen Trainingsprogramm nicht bewiesen. Eingebaut in eine periodisierte, auf zu Hause angelegte Trainingsstrategie könnte sich die Adhärenz hochintensiver Bewegungstherapie verbessern. Dies wird zuerst in Personen mit milder Multipler Sklerose erprobt.


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Methodik

Zur Baseline (PRÄ) wurden die körperliche Leistungsfähigkeit (Stufentest mit maximaler Belastung) und die Körperzusammensetzung (DEXA) von einer gesunden Kontrollgruppe (n = 22) und Personen mit MS (n = 23, EDSS: 1,9 + / - 1,1) erhoben. Als Nächstes, im Kontext eines Projekts zum Bewusstsein für die Erkrankung MS (den Mont Ventoux in Frankreich mit dem Fahrrad erklimmen), wurden alle TeilnehmerInnen einem 6-monatigen periodisierten HIT-orientierten Radtrainingsprogramm zugeteilt mit Supervision aus der Ferne (Polar® M200 Aktivitätstracker). Danach wurden erneut Messungen (POST) durchgeführt auf gleiche Weise wie zur Baseline.


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Ergebnisse

6 Monate periodisierten HIT-orientierten Heimtrainings resultierten in Verbesserungen bzgl. des Körpergewichts (-3 %, p = 0,008), BMI (-3 %, p = 0,01), Gesamtmasse (-2 %, p = 0,023), VO2 max (+5 %, p = 0,016), Auslastung (+11 %, p = 0,001), Zeit bis zur Erschöpfung (+14 %, p = 0,001), Erholungsherzfrequenz (+4 %, p = 0,04), Laktatspitze (+16 %, p = 0,03) und RER (Respiratory exchange rate; + 4 %, p = 0,04) bei Personen mit Multipler Sklerose. Weiterhin erreichten alle bis auf 2 Personen mit MS sicher den Gipfel des Mont Ventoux.


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Schlussfolgerung

Das angewandte 6-monatige periodisierte HIT-orientierte Fahrrad-Heimtraining sorgte für gute Therapieadhärenz mit ähnlichen Verbesserungen der körperlichen Leistungsfähigkeit im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe. Weiterhin wurden die Personen mit milder Multipler Sklerose durch die Trainingsstrategie adäquat für das Erklimmen des Mont Ventoux vorbereitet.

Stefan Peters (DVGS e. V.)


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Kommentar zur Studie

Vor einer genaueren Betrachtung des vorliegenden Artikels ist ein kurzer Blick in die Vita der Autorengruppe sehr lohnenswert. Paul van Asch und Bert Op ‘t Eijnde sind konstituierende Mitglieder des Europäischen Netzwerks „Rehabilitation in Multiple Sclerosis“ (RIMS) und zeichneten sich in der Vergangenheit durch ihr Engagement bei der Förderung von körperlicher Aktivität und Training von Personen mit Multipler Sklerose (PmMS) vor allem in Belgien aus. Hierbei standen die PmMS immer im Vordergrund, und körperliches Training wurde auch als sinnstiftendes, persönlich erfüllendes Gesundheitsverhalten aufgefasst. Dies wurde durch Projekte erreicht, die – gestützt durch den ressourcenfördernden Ansatz der ICF – anspruchsvolle Aufgaben und außergewöhnliche Ziele beinhalteten. Prominentestes Beispiel der Vergangenheit: eine Gruppe von Personen mit MS wurde 6 Monate lang systematisch und trainingswissenschaftlich begleitet für eine Expedition auf den Machu Picchu vorbereitet, eine Ruinenstadt in Peru auf 2430 Metern Höhe (siehe https: / /www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25786475 und https: / /www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24967103).

Nun haben sich die Autoren an ein weiteres Experiment – vielleicht auch eine Mission – gewagt und bereiteten eine Gruppe von PmMS auf die Erklimmung des berüchtigten Tour-de-France-Gipfels Mont Ventoux mit dem Rennrad vor. Auch hier erfolgte die Vorbereitung systematisch und nach trainingswissenschaftlichen Grundsätzen, mit zyklisch wechselnden Belastungen (8 Zyklen mit jeweils 3-wöchiger Dauer) und im Bereich High Intensity Interval Training (bis 100 % HRmax). An dieser Stelle vielleicht ein mutiger, aber begrüßenswerter Schritt hinaus aus der in der Rehabilitation oft üblichen kontinuierlich-linearen Trainingssteuerung mit niedrigen bis moderaten Intensitäten. Da eine 6-monatige trainingsintensive Intervention zu Schwierigkeiten bei der Compliance führen könnte, trainierten die Teilnehmer zu Hause und das Training wurde über das Internet gesteuert. Vom herausfordernden Ziel, eine Tour-de-France-Bergankunft zu erklimmen, wurde ebenfalls compliancefördernde Wirkung erwartet.

Zu Recht: 18 von 23 pmMS sind dabeigeblieben, die Trainingsadhärenz betrug (besonders für Home-Training) beachtliche 95 %! Nicht überraschend ist dann die Steigerung auch der körperlichen Leistungsfähigkeit (VO2 max). 16 der 18 PmMS haben den Gipfel schließlich auch erreicht.

Nun ist diese Studie tatsächlich mehr als eine neue „Exercise-Studie“ oder „Reha-Studie“ für PmMS; sie zeigt einige Richtungen auf, die vielversprechend erscheinen. PmMS werden nicht in Watte gepackt, sondern tatsächlich sportlich gefordert und systematisch nicht „therapiert“, sondern trainiert. Ein attraktives, greifbares und anspruchsvolles Therapieziel fördert Motivation und Dabeibleiben über Monate hinweg. Intervalltraining mit hohen Intensitäten führt neben den physiologischen Anpassungen gleichzeitig zu kürzeren Trainingseinheiten, die leichter in den Alltag integrierbar sind. Durch die kurzen Belastungszeiten der Intervalle (60 Sekunden) könnte eventuell sogar der Entstehung des Uhthoff-Phänomens entgegengewirkt werden, da die Körpertemperatur nicht zu stark ansteigen sollte. Dies bliebe aber in kommenden Studien noch zu untersuchen. Schließlich fand das Training in der Lebenswelt der Teilnehmer statt, wurde aber dennoch telemedizinisch überwacht und gesteuert. All dies sind Variablen, die einer dauerhaften Integration und Weiterführung der Studieninhalte in den Alltag dienlich sein dürften. Zu prüfen bleibt sicherlich noch, wie die Praktikabilität und Verträglichkeit eines HIIT-Trainings bei moderat bis schwerer Betroffenen PmMS ausfällt.

Von dieser Art „Exercise“-Studie kann die Scientific Community jedenfalls sicherlich noch profitieren. Zur Nachahmung und Weiterentwicklung empfohlen.


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Korrespondenzadresse

Dr. Alexander Tallner
Department für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg