Verhaltensweisen, die vor einem physischen Angriff häufig beobachtet werden, sind
verbales und körperliches Drohen oder …(Symbolbild/Quelle: Kara_AdobeStock)
In akutpsychiatrischen Einrichtungen ist es eines der Hauptziele, eine sichere Behandlung
zu gewährleisten. Betroffen sind Klienten, die sich in einer selbst- oder fremdgefährdenden
Krise befinden oder deren Wahrnehmung durch eine bestehende psychische Krankheit beeinträchtigt
ist. Um die Anzeichen gefährdenden Verhaltens frühzeitig zu erkennen, entstand die
Idee, ein Aggressions-Assessment im Rahmen meiner Weiterbildung zum Fach-Gesundheits-
und Krankenpfleger zu implementieren und zu überprüfen. Dies soll Mitarbeitern eine
objektive Einschätzung ermöglichen. Anhand eines Punktesystems können sie das Risiko
für aggressives Verhalten einschätzen.
Welche Mitarbeiter sind betroffen?
Welche Mitarbeiter sind betroffen?
Nach einer Studie von Richter und Berger sind vor allem jüngere beziehungsweise berufsunerfahrene
Mitarbeiter von gewaltsamen Übergriffen betroffen. Bei Auszubildenden ist das Risiko
sogar 2,5-fach erhöht. [1] Verschiedene Studien haben gezeigt, dass
-
50 Prozent der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter mindestens einmal während der
beruflichen Tätigkeit ernsthaft verletzt worden sind. [2]
-
70 Prozent der Pflegekräfte in der Psychiatrie mindestens einmal in ihrer beruflichen
Laufbahn tätlich angegriffen worden sind. [3]
-
Zehn Prozent der betroffenen Mitarbeiter ärztlich behandelt werden mussten. [1]
Die ausgewählte Station ist eine psychiatrische Intensivstation zur Krisenintervention
für Erwachsene im Pfalzklinikum in Klingenmünster. Sie bietet Hilfe und Schutz in
schweren seelischen Krisen oder bei akuten psychischen Erkrankungen, speziell wenn
Betroffene oder auch Dritte gefährdet sind. Hauptziel des Behandlungsangebots ist
es, die Betroffenen dabei zu unterstützen, so schnell wie möglich wieder mehr Verantwortung
für sich übernehmen zu können. Das Behandlungskonzept verbindet eine persönliche,
von Wertschätzung und Respekt geprägte, multiprofessionelle Intensivbetreuung mit
Akutinterventionen in Form von lebenspraktischen Hilfen, psychotherapeutischen Gesprächsangeboten
und Medikamenten.
In fünf Prozent der Fälle waren die Mitarbeiter arbeitsunfähig.
Ziel: Objektive Einschätzung des Klienten
Ziel: Objektive Einschätzung des Klienten
Ziel des Projekts war es, eine objektive Einschätzung des Aggressionsniveaus eines
Klienten zu zwei verschiedenen Zeitpunkten zu geben. Das hatte im weiteren Verlauf
zum Ziel, frühzeitig einem physischen Aggressionsverhalten deeskalierend entgegenwirken
zu können, um somit Schaden vom Betroffenen und seinen Interaktionspartnern abzuwenden.
Darüber hinaus war auch von Interesse, objektive und subjektive Einschätzungen, die
getrennt voneinander durchgeführt wurden, miteinander zu vergleichen. Es wurde nicht
erhoben, wie häufig auf der Pilotstation aggressive Übergriffe von Patienten vorkamen,
die im Vorfeld nicht erkannt wurden und ob sich die Anzahl der Übergriffe nach Einführung
verändert. Grundsätzliche Ziele waren die Implementierung des Instruments und die
Überprüfung und Bestätigung der Checkliste. Die Forschungsfragen lauteten:
-
Kann das Assessment-Instrument die Messung des Aggressionsniveaus auf einer akutpsychiatrischen
Station unterstützen?
-
Stimmt die Einschätzung des Aggressionsniveaus der Brøset-Skala ([
Abb. 1
]) mit der subjektiven Wahrnehmung des Beurteilers überein?
Abb. 1 Norwegische Brøset-Gewalt-Checkliste.(Quelle: Almvik R. The Brøset Violence Checklist
(BVC©). Im Internet: http://riskassessment.no/ (files/BVC-English-version.pdf))
Effektive Unterstützung des Teams
Effektive Unterstützung des Teams
Ziel: In einem Projektteam sollte ein Assessment mit seinen Rahmenbedingungen festgelegt,
anschließend im Team implementiert und im Klientendokumentationssystem „Medico/S“
dokumentiert werden.
Die Norwegische Brøset-Gewalt-Checkliste ([
Abb. 1
])
Die Brøset-Gewalt-Checkliste (Brøset Violence Checklist, BVC) wurde von dem Pflegeforscher
Dr. Roger Almvik in Trondheim/Norwegen entwickelt. Sie beruht auf einer ebenfalls
norwegischen Untersuchung von Linaker und Busch-Iverson über Verhaltensweisen, die
in den 24 Stunden vor einem physischen Angriff häufig beobachtet werden. Die Brøset-Gewalt-Checkliste
ist ein Instrument, mit dem das Risiko eingeschätzt werden kann, ob ein akutpsychiatrischer
Patient in den 8–12 Stunden nach der Einschätzung jemanden physisch angreifen wird.
Die Checkliste umfasst 6 Verhaltensweisen, bei denen 2-mal täglich eingeschätzt wird,
ob sie in den letzten Stunden beziehungsweise seit der letzten Einschätzung beobachtet
worden sind (zum Beispiel um 9 Uhr und um 18 Uhr). Diese Verhaltensweisen sind:
Jede Verhaltensweise wird 2-mal täglich als „beobachtet“ mit 1 Punkt oder als „nicht
beobachtet“ mit 0 Punkten bewertet.
Die Summe (0–6 Punkte) entspricht der Wahrscheinlichkeit eines physischen Angriffs
in den Stunden bis zur nächsten Einschätzung. 3 oder mehr Punkte gelten als hohes
Risiko und der Einsatz präventiver Maßnahmen sollte geplant werden. [4]
In der norwegischen Originalstudie erwies sich das Instrument als gut in den Arbeitsalltag
integrierbar, einfach anzuwenden und es wurde eine befriedigende Interrater-Reliabilität
festgestellt. [5] Die Sensitivität des Instruments betrug 0.74, die Spezifität 0.91, die ROC-Analyse
ergab eine Fläche unter der Kurve (Area under the curve, AUCROC) von 0.82 (95 Prozent
CI 0.75 – 0.89). Diese Werte konnten in einer schweizerischen Studie mit einer deutschen
Übersetzung bestätigt werden. [6]
Wie wird die BVC gewöhnlich eingesetzt?
Routinemäßig erfolgt die Risikoeinschätzung bei allen Aufnahmen:
-
direkt bei der Aufnahme,
-
am Aufnahmetag
-
und an den folgenden 3 Tagen;
-
nach Ablauf der ersten 3 Tage erfolgen weitere Einschätzungen, wenn die Bezugsperson
und/oder das Team dies angezeigt findet. [7]
Wer nimmt die Risikoeinschätzung vor?
Die Einschätzung wird von einer Pflegeperson vorgenommen, die über das Verhalten des
Patienten in der Beurteilungsperiode informiert ist, durch eigene Beobachtungen/Kontakte
und/oder durch Mitteilungen von Kollegen (im Bedarfsfall nachfragen). Auf vielen Stationen
wird die Einschätzung einem bestimmten Dienst (zum Beispiel Frühdienst) zugeordnet.
Die Einschätzung kann auch gemeinsam von mehreren Personen vorgenommen werden. Bei
Schichtbetrieb erfolgt die Einschätzung am besten etwa zwei Stunden nach Beginn einer
Schicht.
Was ist der Beurteilungszeitraum?
Die 6 Verhaltensweisen werden mit „1“ bewertet, wenn sie seit der letzten Einschätzung
beobachtet wurden, mit „0“, wenn sie seit der letzten Einschätzung nicht beobachtet
wurden.
Zunächst nahm ich an der Fachtagung „Autonomie und Selbstbestimmung in der Psychiatrie“
in Düsseldorf teil. Hier wurden die aktuellen wissenschaftlichen Ergebnisse zur klinischen
Aggressionsprävention aus ärztlicher und pflegerischer Sicht diskutiert. Bei weiteren
Recherchen stieß ich auf die Brøset-Skala, die mir sehr gut geeignet schien, die geforderte
objektive Einschätzung des Aggressionsniveaus darzustellen. Damit stand mir ein validiertes,
in anderen Kliniken bereits gebräuchliches Instrument zur Verfügung. Im Laufe meines
Projekts fand ich es interessant, diese objektive Einschätzung mit dem subjektiven
Eindruck, den die Teammitglieder vom Aggressionsniveau der beurteilten Klienten hatten,
zu vergleichen.
Die Umsetzung der Datenerhebungsphase des Projekts wurde mit den verantwortlichen
Leitungen der Pilotstation und den Projektteammitgliedern ausführlich diskutiert.
Wir vereinbarten, dass bei jedem aufgenommenen Klienten eine erste subjektive Einschätzung
in „nicht“, „leicht“, „mäßig“ oder „sehr aggressiv“ schon während der administrativen
Aufnahme durch die Pflege auf Station erfolgen soll. Direkt danach und nach acht Stunden,
als Verlaufskontrolle, kam die Brøset-Skala zum Einsatz. Diese Ergebnisse wurden in
der Klientenakte dokumentiert. Zur Sicherstellung der Datengüte wurde das Zweit-Assessment
(nach acht Stunden) durch Terminierung im Outlook unterstützt.
Nachdem diese Rahmenbedingungen erarbeitet waren, realisierte die EDV-Abteilung des
Hauses in enger Zusammenarbeit eine anwenderfreundliche EDV-gestützte Erfassung des
Aggressions-Assessments. Nach einer ersten Erprobungsphase des EDV-gestützten Instruments
auf einer virtuellen Teststation erfolgten weitere Modifikationen, die eine Nutzung
erleichterten. So wurden durch Mausklick Begriffserläuterungen angezeigt, das Abspeichern
des Assessment-Bogens vereinfacht und eine Verknüpfung mit der aktuellen Verlaufsdokumentation
des Klienten ermöglicht. Dadurch war für alle am Therapieprozess Beteiligten das Assessment-Ergebnis
sichtbar.
Das Projekt und das optimierte Assessment-Instrument wurden im Rahmen eines Strukturteams
dem Stationsteam der Pilotstation vorgestellt. Hierzu entwarf ich einen Workflow,
welcher zum besseren Verständnis der Durchführung diente. Nach dem Start der Pilotphase
konnte ich feststellen, dass das Assessment konsequent bei jedem aufgenommenen Klienten
angewendet wurde. Eine weitere Motivation des Teams zur Annahme der Methode war nicht
notwendig. In ersten Rückmeldungen im Rahmen des Projekts werteten die Teammitglieder
die Brøset-Skala als effektive Unterstützung zur Einschätzung des Erregungsniveaus,
besonders bei unbekannten Klienten.
… Angriffe auf Gegenstände.(Quelle: jannoon028_AdobeStock)
Evaluation
Das implementierte Aggressions-Assessment, das zum Zeitpunkt der Aufnahme und wiederholt
acht Stunden danach das Erregungsniveau eines Klienten einschätzt, wurde evaluiert.
Hierzu wurde eine Stichprobe genommen und der Zeitraum auf ein halbes Jahr begrenzt.
In jedem Eintrag ist eine subjektive Einschätzung vorhanden, die sich nach dem subjektiven
Empfinden der Fachkraft richtet und sich in „nicht“, „leicht“, „mäßig“ oder „sehr
gewaltbereit“ unterscheidet. Ebenso errechnet das Instrument einen Score, der sich
aus sechs einzuschätzenden Items zusammensetzt. Dieser ergibt entweder ein „geringes“,
„mäßiges“ oder „hohes Risiko“ eines physischen Angriffs eines Klienten in der nächsten
Schicht. Hierbei wird zur Evaluation nochmals das hohe Risiko anhand der unterschiedlich
errechneten Werte differenziert in „hohes“ und „sehr hohes Risiko“.
Ergebnisse
Aus der Stichprobe ergaben sich 232 angelegte Einschätzungen. Diese klassifizieren
das Empfinden der Fachkräfte, die den Großteil der aufgenommenen Klienten als nicht
oder wenig aggressiv erleben ([
Abb. 2a
]).
Abb. 2 a Subjektive und b objektive Einschätzungen des Aggressionsniveaus.
Durch das Assessment wird anhand der Items ein größerer Teil der Klienten über dem
empfundenen Niveau eingeschätzt und ein mäßiges Risiko errechnet ([
Abb. 2b
]).
Nach der Auswahl der Toleranz der Zweiteinschätzung zur Ersteinschätzung und der Berücksichtigung,
dass keine Ersteinschätzungen vorhanden sind, ergab sich ein Datensatz, der 122 Einträge
umfasst. Darin bleibt die Verteilung in etwa gleich ([
Abb. 3
]).
Abb. 3 Vergleich der Auszählung nach Selektion.
Betrachtet man die Einschätzungen der Geschlechter, ist die Wahrnehmung einer Bedrohung
durch Männer deutlich stärker als das errechnete Risiko ([
Abb. 4a
]). Bei den objektiven Werten verlaufen die Einschätzungen fast parallel ([
Abb. 4b
]).
Abb. 4 a Subjektives und b objektives Aggressionsniveau.
Der Vergleich der subjektiven Einschätzung mit der objektiven Einschätzung beweist
eine Übereinstimmung der Wahrnehmung mit den ermittelten Werten des Instruments von
60 Prozent ([
Abb. 5
]).
Abb. 5 Vergleich der subjektiven und objektiven Einschätzungen.
Höher schätzt das Assessment den Erregungszustand eines Klienten zu 16 Prozent und
niedriger zu 24 Prozent ein. Die Aufteilung in die einzelnen subjektiven Sparten lässt
erkennen, dass das Assessment bei weniger aggressiv wahrgenommenen Klienten ein höheres
Risiko und bei aggressiv wirkenden Klienten ein niedrigeres Risiko einschätzt, es
jedoch trotzdem erkennt.
„Vorhersagen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“
Niels Bohr, 1885–1962, dänischer Physiker
Die Auswertung der Daten ergab, dass ein Großteil (62 Prozent) der Klienten, bei denen
das Formular „Freiheitsentziehende Maßnahme“ im besagten Zeitraum vorhanden ist, fixiert
werden musste. Zwar mussten bei den anderen 38 Prozent auch Zwangsmaßnahmen angewendet
werden, jedoch weniger intensive und traumatisierende, wie zum Beispiel Zwangsmedikation
(33 Prozent) oder räumliche Begrenzung im Sinne einer Zimmer-Isolation (fünf Prozent).
Das Aggressions-Assessment misst anhand der sechs objektiven Items das Erregungsniveau
eines Klienten zuverlässig und schätzt es als unterschiedliches Risiko ein. Die subjektiven
Einschätzungen stimmen zum größten Teil mit den objektiv errechneten Werten überein.
Da die Ergebnisse der objektiven und subjektiven Einschätzungen sehr ähnlich sind,
lässt sich überspitzt fragen, ob dies den Einsatz der Brøset-Gewalt-Checkliste überhaupt
rechtfertigt. Tatsächlich dient das Instrument zur Objektivierung des subjektiven
Eindrucks. Auch ist es eine gute Unterstützung für unerfahrene Kollegen und Auszubildende,
um frühzeitig einem Erregungszustand eines Klienten deeskalierend entgegenwirken zu
können und somit Schaden vom Betroffenen und seinen Interaktionspartnern abzuwenden.
Die Ergebnisse aus der vorliegenden Stichprobe sind ausschließlich auf das Funktionieren
der Checkliste bezogen. Es ging nicht darum, festzustellen, wie häufig auf der Pilotstation
aggressive Übergriffe von Patienten vorkamen und ob sich durch den Einsatz des Instruments
die Anzahl der Übergriffe verändert hat. Eine Intervention nach einem Standard ist
ebenso nicht das Ziel gewesen. Bei Krisen sollten weiterhin individuelle Lösungsstrategien
erarbeitet und keinesfalls anhand eines Handlungskatalogs deeskaliert werden.