Kasuistik
Anamnese und klinische Untersuchung
Im Folgenden wird der Fall eines Mädchens vorgestellt, welches im Alter von 2 ½ Jahren
mit einer Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenks auffiel. Das Kind wurde zunächst
kinderorthopädisch vorgestellt: Klinisch fanden sich eine Schwellung des linken Kniegelenkes,
eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung mit einem Streckdefizit von 5 Grad sowie
eine diskrete Quadrizepsatrophie. Das angefertigte Röntgenbild zeigte keinerlei Auffälligkeiten.
Eine MRT in Sedierung gelang nicht, da es zu Bewegungsartefakten kam. In der diagnostischen
Arthroskopie zeigte sich eine hypertrophe Synovialitis, im histologischen Befund wurde
eine unspezifische Entzündung beschrieben. Daraufhin wurde das Mädchen in unsere kinderrheumatologische
Sprechstunde überwiesen. In der Anamnese gab der Vater ein humpelndes Gangbild sowie
eine Morgensteifigkeit von ca. 30 Minuten an. Bei der klinischen Untersuchung war
das linke Kniegelenk geschwollen und überwärmt, es bestand ein Streckdefizit von 20°,
die Beugung betrug maximal 90°; der übrige pädiatrisch-internistische und Gelenk-Status
waren unauffällig; das Körpergewicht lag bei 12,0 kg, die Körperlänge bei 89,5 cm.
Laborchemische Untersuchung
Laborchemisch zeigten sich keine systemischen Entzündungszeichen; Serumionogramm,
Leber- und Nierenwerte sowie Differenzial-Blutbild waren unauffällig. Bei normalen
Erythrozytenzahlen von 5,5/pl war der Hämoglobin-Wert etwas erniedrigt (10,3 g/dl,
Norm 10,8–14,3 g/dl) bei auffällig hypochrom-mikrozytären Indizes (MCV 58 fl [Referenz-Bereich
68–84 fl], MCH 18,9 pg [Referenz-Bereich 23–29 pg]), das Ferritin lag mit 80 μg/l
im Normbereich (20–200 μg/l) ebenso wie IgG, IgM und IgA. In der Autoimmundiagnostik
fand sich ein ANA-Titer von 1:160 mit dicht feingranulärem nukleolärem Fluoreszenzmuster,
der Rheumafaktor war negativ, das HLA-B27-Antigen positiv.
Mittels Ultraschall wurde nicht nur im linken, sondern auch im rechten Kniegelenk
eine Aufweitung des Recessus suprapatellaris durch echoarme Flüssigkeit nachgewiesen;
links auch mit Synovialisproliferationen.
Diagnose, Therapie und Verlauf
Es wurde die Diagnose einer juvenilen idiopathischen Arthritis mit oligoartikulärem
Gelenkbefall gestellt und zunächst mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR; Ibuprofen,
dann Indometacin) behandelt. Bei unzureichender klinischer Besserung wurden Punktionen
beider Kniegelenke mit intraartikulärer Injektion von Triamcinolonhexacetonid durchgeführt.
Im weiteren Verlauf zeigte sich eine vollständige Befundnormalisierung rechts, links
persistierten die Synovialisproliferationen sowie ein geringer Erguss. Auch nach einer
niedrig-dosierten kurzzeitigen systemischen Glukokortikoid-Therapie und physiotherapeutischen
Behandlungen persistierten Morgensteifigkeit sowie Streck- als auch Beugedefizit im
linken Kniegelenk.
Eine zunehmende Muskelatrophie und Wachstumsstörung des linken Beins mit resultierender
Beinlängendifferenz führten dann zu dem Entschluss im Alter von 3 7/12 Jahren eine
Basistherapie mit Methotrexat (MTX) zu beginnen. Die Gabe von NSAR wurde ein halbes
Jahr später beendet. Unter dieser Therapie zeigte sich eine gute Kontrolle der Entzündungsaktivität
im linken Kniegelenk mit im Verlauf ca. eines Jahres vollständiger Rückbildung von
Erguss, Synovialisproliferationen, Bewegungseinschränkung und Beinlängendifferenz.
Die augenärztlichen Kontrolluntersuchungen ergaben keinen Hinweis auf eine anteriore
Uveitis.
Im Alter von 6 ½ Jahren flammte kurzzeitig die Entzündung im linken Kniegelenk wieder
etwas auf, vorübergehend wurden erneut zusätzlich NSAR verordnet. Im weiteren Verlauf
wurde bei inaktiver Erkrankung das MTX zunächst reduziert und schließlich im Alter
von 8 10/12 Jahren abgesetzt. Vier Monate später kam es dann zu einem Rezidiv der
Grunderkrankung mit Arthritiden im linken Hüft-, rechten Knie- sowie rechten Kiefergelenk,
sodass erneut eine Basistherapie mit MTX eingeleitet wurde, zusätzlich erhielt die
Patientin NSAR und Physiotherapie. In den Laborkontrollen fanden sich weiterhin deutlich
hypochrom-mikrozytäre Erythrozyten bei grenzwertig niedrigen Hämoglobin-Werten bei
unauffälligem weißen Blutbild, negativen Entzündungszeichen sowie normwertigen Eisenstoffwechsel-Parametern.
Diese Konstellation führte zur Durchführung einer Hämoglobin-Elektrophorese, die die
Diagnose einer heterozygoten Alpha-Thalassämie (Alpha-Thalassämia minima) ergab, welche
auch mittels genetischer Untersuchung verifiziert werden konnte.
Unter der MTX-Therapie wurde rasch erneut eine inaktive Erkrankung erreicht. Bei zunehmender
subjektiver MTX-Intoleranz und andauernder Beschwerdefreiheit wurde MTX im Alter von
knapp 12 Jahren wiederum abgesetzt. Bei den folgenden Routinekontrolluntersuchungen
in der kinderrheumatologischen Sprechstunde fielen im Verlauf ein vermindertes Längenwachstum
sowie eine Gewichtsabnahme auf (
[Abb. 1]
), weiterhin zeigte das Mädchen noch keine Pubertätsentwicklung. Sowohl die rheumatologischen
Untersuchungen als auch die allgemein-pädiatrische Anamnese waren zu dieser Zeit stets
unauffällig. Es bestanden keine vermehrten Infekte, weder Bauchschmerzen noch Stuhlauffälligkeiten.
In der Labordiagnostik im Alter von 13 Jahren fanden sich Transglutaminase (TG)-AK
(TG-IgA 189 U/ml [Ref. < 10 U/l], TG-IgG 101 U/ml [Ref. < 10 U/l]) sowie Endomysium-IgA-Antikörper.
Die Bestimmung der Schilddrüsen-Autoantikörper zu diesem Zeitpunkt war negativ; TSH,
Trijodthyronin sowie Thyroxin waren im Normbereich.
Abb. 1 Vermindertes Längenwachstum und Gewichtsabnahme bei einem Mädchen mit juveniler idiopathischer
Arthritis und einer zusätzlichen Zöliakie. (Quelle: Reinken und van Ost 1992)
Diskussion
Die Ursachen für ein verzögertes Wachstum, eine Gewichtsabnahme oder einen späten
Eintritt in die Pubertät sind vielfältig. Eine chronisch-entzündliche Erkrankung,
wie die JIA, kann bei über einen längeren Zeitraum persistierender Entzündungsaktivität
zu einer Beeinträchtigung von Wachstum und Entwicklung führen. Andererseits sind weitere
Autoimmunerkrankungen, z. B. eine Zöliakie, in Betracht zu ziehen. Es ist bekannt,
dass die Empfänglichkeit für Autoimmunerkrankungen einen genetischen Hintergrund hat
– gemeinsame sogenannte Suszeptibilitätsloci konnten in genomweiten Untersuchungen
bei unterschiedlichen autoimmunologischen Krankheitsbildern nachgewiesen werden [[1]–[3]]. Daher ist das Risiko, eine weitere Autoimmunerkrankung zu entwickeln, bei Patienten
mit JIA größer als bei Gesunden.
Bei der Zöliakie unterscheidet man das sogenannte „klassische“ Krankheitsbild mit
Durchfällen, distendiertem Abdomen und Malabsorptionsfolgen von den nicht klassischen
Manifestationen, wie neurologische Symptome, Leberveränderungen mit Transaminasenerhöhungen,
Anämie, Wachstumsretardierung, verzögerte Pubertätsentwicklung, aber auch Gelenkbeschwerden
(zusammengefasst in [[4]]). Nicht alle diese klinischen Ausprägungen lassen sich als Folge der autoimmun
vermittelten Enteropathie mit resultierender Atrophie der Darmschleimhaut und konsekutiver
Malabsorption von Nährstoffen erklären. Mögliche pathophysiologische Zusammenhänge
sind z. B. erhöhte Interleukin-Spiegel und Aktivierung von Immunzellen als Folgen
der chronischen Entzündungsreaktion im Darm. Offenbar finden aber auch selbstständige
autoimmune Prozesse in anderen Organen bzw. Geweben als dem Darm statt; so hat man
z. B. TG-Antikörper gefunden, die mit Strukturen des Kleinhirns interagieren, oder
auch Ablagerungen von TG-Antikörpern in der Leber von Zöliakie-Patienten. Sogar eine
Interaktion mit den Follikeln der Schilddrüse ist beschrieben worden, die möglicherweise
unabhängig von der Ausbildung spezifischer anti-Thyreoglobulin-Ak oder anti-Thyreoperoxidase-AK
zu einer Schilddrüsenfunktionsstörung führt [[5]].
Aus dem klinischen Verlauf, der Wachstums- und Gewichtsentwicklung lässt sich ableiten,
dass unsere Patientin zuerst an einer JIA erkrankte und dann sekundär – als autoimmunologische
Zweiterkrankung – eine Zöliakie entwickelte. Die Schilddrüsen (SD)-Parameter sowie
die spezifischen SD-Autoantikörper wurden untersucht, da erstens das Risiko für eine
Autoimmunthyreoiditis bei bereits bestehender Autoimmunerkrankung erhöht ist und zweitens
die Schilddrüsenfunktion bei Vorliegen einer Wachstumsverzögerung untersucht werden
sollte. Die Arthritis war über einen langen Zeitraum vor Diagnosestellung der Zöliakie
inaktiv, die Medikation abgesetzt, sodass die JIA nicht als ursächlich für das verminderte
Längenwachstum und den Gewichtsrückgang angesehen werden konnte. Auch wenn sie keine
„klassischen“ Beschwerden wie Meteorismus und Diarrhöen angab, ist die Patientin aufgrund
ihrer verzögerten somatischen Entwicklung als symptomatisch hinsichtlich einer Zöliakie
einzuordnen.
Die ESPGHAN gibt in ihrer klinischen Leitlinie Empfehlungen, bei welchen Patienten
eine Diagnostik bezüglich Zöliakie durchgeführt werden sollte [[6]]. In der Gruppe 1 werden Kinder und Jugendliche mit folgenden Auffälligkeiten zusammengefasst:
chronische oder intermittierende Diarrhöen, Gewichtsverlust, beeinträchtigtes Wachstum
oder eine verzögerte Pubertätsentwicklung, Amenorrhö, Eisenmangelanämie, Übelkeit
oder Erbrechen, chronische Bauchschmerzen, Bauchkrämpfe oder abdominelle Distension,
chronische Verstopfung, chronische Müdigkeit, wiederkehrende orale Aphthen, Dermatitis-herpetiformis-artiger
Ausschlag, Hinweise auf eine Osteoporose/Osteopenie, z. B. bei Fraktur nach inadäquatem
Trauma sowie abnorme Leberwerte. Bei derartigen Symptomen/Befunden sollte entsprechend
der Leitlinie ein Test auf anti-Transglutaminase-IgA-AK (Voraussetzung: kein IgA-Mangel,
ansonsten sollen anti-TG-IgG bestimmt werden) erfolgen. Ist dieser positiv, sollte
zunächst ein 2. Test auf Zöliakie-typische Antikörper folgen, in der Regel auf anti-Endomysium-Antikörper
(EMA). Ist dieser ebenfalls positiv, sollte die Diagnose einer Zöliakie durch die
histologische Untersuchung einer duodenalen Biopsie bestätigt werden. Auf diese kann
nach der zitierten Leitlinie verzichtet werden, wenn der anti-TGAK-Serumwert mehr
als 10fach über dem Grenzwert liegt – so wie im Fall der vorgestellten Patientin mit
anti-TG-AK von 189 U/ml bei einem Referenzbereich < 10 U/ml.
Zusätzlich kann eine HLA-Typisierung hilfreich sein: Vorliegen von HLA-DQ2 und -DQ8
stützt die Diagnose einer Zöliakie, während kein Nachweis dieser HLA-Allele die Diagnose
unwahrscheinlich macht und daher andere Differenzialdiagnosen für die entsprechende
Klinik in Betracht gezogen werden sollten. Hier, sowie in den Fällen, bei denen die
Zöliakie-typischen Antikörper (anti-TG-AK, EMA, Antikörper gegen deamidierte Gliadin-Peptide
[anti-GDP]) in geringerer Menge vorliegen, ist die Biopsie der Duodenalschleimhaut
mit histologischer Aufarbeitung die zielführende Methode.
Tab. 1
Studien zur Häufigkeit einer Zöliakie bei Patienten mit einer juvenilen idiopathischen
Arthritis; nach [[7]–[12]]
Studien mit Patienten mit JIA
|
Zusätzlich Diagnose Zöliakie (bestätigt durch Biopsie)
|
Lepore 1996, n = 119
|
2,5 %
|
George 1996, n = 62
|
1,5 %
|
Stagi 2005, n = 151
|
6,7 % (Kontrollgruppe 0,6 %)
|
Alpigiani 2008, n = 107
|
2,8 % (nach einem FU von 5,5 Jahren [Median])
|
Pohjankoski 2010, n = 417
|
0,7 %
|
Robazzi 2013, n = 53
|
2 %
|
Es gibt ein paar Arbeiten, die das Auftreten einer Zöliakie bei Patienten mit JIA
und umgekehrt beschrieben haben (
[Tab. 1]
). Diese unterscheiden sich hinsichtlich mehrerer Parameter, wie z. B. Patientenzahl,
Krankheitsdauer, Follow-up der Patienten, sodass es nicht erstaunt, dass recht unterschiedliche
Prävalenzen der Zöliakie in den JIA-Kollektiven beschrieben werden. Einige Patienten
mit JIA und Zöliakie wiesen zudem noch eine Autoimmunthyreoiditis auf. So wurde in
der Studie von Stagi et al. [[9]] bei 11,9 % eine solche bei JIA-Patienten diagnostiziert (Vorliegen von SD-Auto
antikörpern und erhöhten TSH-Werten und/oder typischer Hypoechogenität in der Sonografie
der Schilddrüse), in der Kontrollgruppe dagegen nur bei 1,2 %. Ein ähnliches Ergebnis
beschrieben auch Robazzi et al. [[12]] in einer Untersuchung von 53 JIA-Patienten, von denen 11 % auch eine Autoimmunthyreoiditis
hatten, während in der Kontrollgruppe keiner diese Diagnose bekam.
Die Prävalenz der Zöliakie bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren wurde im Rahmen
der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) untersucht
und mit ca. 0,9 % ermittelt [[13]].
Aufgrund des höheren Risikos für weitere Autoimmunerkrankungen stellt sich für Patienten
mit einer JIA oder anderen Autoimmunerkrankung die Frage des Screenings auf weitere,
möglicherweise asymptomatische Autoimmunerkrankungen, wie eine Zöliakie. Die ESPGHAN
empfiehlt in ihrer Leitlinie eine Testung auf Zöliakie-spezifische Antikörper bei
asymptomatischen Kindern und Jugendlichen, die aufgrund der nachfolgend aufgeführten
Erkrankungen ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Zöliakie haben (Gruppe 2,
in Klammern jeweils die Prävalenz von Zöliakie bei dieser Erkrankung, zusammengefasst
in [[12]]):
-
Diabetes mellitus Typ 1 (4,5–13,5 %),
-
Down-Syndrom (3,0–13,0 %),
-
Autoimmunthyreoiditis (1,3– 6,2 %),
-
Turner-Syndrom (9,4–12,5 %),
-
Williams-Beuren-Syndrom (4,2 %),
-
selektiver IgA-Mangel, Autoimmunhepatitis;
-
außerdem, falls Verwandte ersten Grades unter Zöliakie leiden (3,1– 8,9 %).
Hier sollte zunächst eine Untersuchung auf das Vorliegen von HLA-DQ2 und -DQ8 erfolgen,
da bei negativem Befund die Diagnose Zöliakie unwahrscheinlich ist und auch keine
Bestimmung spezifischer Antikörper mehr erfolgen sollte. Bei positivem Ergebnis sollte
sich die Untersuchung auf anti-TG-AK anschließen, welche bei wiederum positivem Befund
von der Untersuchung auf EMA als Bestätigungstest gefolgt sein sollte. Wegen der weitreichenden
Konsequenzen der Diagnose Zöliakie mit lebenslanger (!) und nicht immer ganz einfach
umzusetzender Diät empfiehlt die ESPGHAN zur Diagnosesicherung bei asymptomatischen
Kindern und Jugendlichen der Gruppe 2 die duodenale Biopsie mit histologischem Nachweis
einer Enteropathie.
Aus den hier vorgestellten Arbeiten geht hervor, dass die juvenile idiopathische Arthritis
zwar ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Zöliakie mit sich bringt, die angegebenen
Prävalenzraten aber meistens unter denen für die oben aufgeführten „Risikoerkrankungen“
liegen (mean 2,7 %); sicherlich deshalb wird die JIA in der ESPGHAN-Leitlinie auch
nicht aufgeführt. Daher erscheint ein generelles Screening von JIA-Patienten auf Zöliakie
zum jetzigen Zeitpunkt nicht angezeigt; möglicherweise werden neue Erkenntnisse zu
molekulargenetischen und immunologischen Zusammenhängen diese Einschätzung revidieren.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Das Einverständnis der Mutter der Patientin zur Veröffentlichung der Kasuistik liegt
vor.