Zum 5. Mal fand am 30.01.2019 das AO-Seminar West unter der Leitung von Gereon Schiffer,
Lars Müller und Joachim Windolf statt. Als anatomische Region stand in diesem Jahr
die Klavikula mit angrenzenden Gelenken auf dem Programm. Auch didaktisch gab es etwas
Neues: Die Referenten wurden im Vorfeld aufgefordert, ihre Präsentationen vollständig
über konkrete Fällen aufzubauen. Um es vorwegzunehmen: Das Konzept ging auf. In Kombination
mit dem häufig eingesetzten und von Henry Langer gewohnt perfekt bedienten ARS-Abstimmsystem
und dem traditionell sehr diskussionsfreudigen Kölner Publikum entwickelte sich über
5 Stunden ein lebhafter, kontroverser, stets kollegialer und unterhaltsamer Dialog
zwischen Referenten, Chairmen und den fast 60 Teilnehmern.
Den Einstieg lieferte Jonas Andermahr (Mechernich), der als einziger vom fallbasierten
Konzept ausgenommen war, weil er die Anatomie der Klavikula als Thema hatte. Aus seiner
langjährigen Beschäftigung mit der Materie an der Kölner Anatomie konnte er den Zuhörer
viele neue anatomische Details vermitteln. Oder wussten Sie, dass die Klavikula der
Knochen ist, der in der Skelettentwicklung einerseits als erster ossifiziert und andererseits
als letzter seine Wachstumsfugen schließt?
Der 1. Block beschäftigte sich dann mit den Luxationen des Sternoklavikulargelenks.
Torsten Gerich, in Luxemburg tätiger Schulterchirurg, verwies auf die insgesamt sehr
geringen Fallzahlen bei dorsaler Luxation, aber auch auf die Möglichkeit schwerwiegender,
insbesondere vaskulärer Komplikationen bei der Therapie. Der Herz-Thorax-Chirurg sollte
immer informiert sein bei derartigen Eingriffen. Gerich empfahl für die dorsale Luxation
die Verwendung einer lateralen Klavikulaplatte, die nur an der Klavikula, nicht jedoch
über dem Manubrium mit Schrauben fixiert wird, da die beidseitige Fixation nach seinen
Erfahrungen regelhaft zu einer Lockerung mit ossärer Destruktion und damit zu einem
Versagen der Therapie führt. In seiner kleinen Fallstudie konnte er von bislang ermutigenden
Ergebnissen berichten.
Peter Schmittenbecher (Karlsruhe) stellte anschließend eine Fülle von kindlichen Klavikulafrakturen
vor. Hier gilt es, nicht nur die Wünsche der jungen Patienten, sondern auch die der
Eltern zu berücksichtigen. Bei den Kindern funktioniert weiterhin sehr viel konservativ,
auch eher ungewöhnliche Techniken wie die PDS-Cerclage bei Schaftfrakturen führen
hier zu sehr guten Resultaten. Schmittenbecher empfahl, bei der Indikationsstellung
und Methodenauswahl hier neben dem Lebensalter auch den Entwicklungsstand in der Pubertät
hinzuzuziehen, um zu entscheiden, ob der junge Mensch noch unter die kindlichen Strategien
und Techniken fällt oder nach den Prinzipien der Erwachsenenchirurgie zu behandeln
ist.
Abb. 1 Diskussion mit Peter Schmittenbecher. (Quelle: Henry Langer, AO Foundation)
Im 2. Block präsentierten Axel Jubel (Köln), Michael Hackl (Köln) und Ulrich Thelen
(Bergisch Gladbach) Fälle und Verläufe von Frakturen des Klavikulaschaftes. Übereinstimmend
mit dem Auditorium stellte man fest, dass aktuell deutlich mehr am Klavikulaschaft
operiert wird als noch vor Jahren. Dies hängt auch und gerade mit der veränderten
und belastbareren Studienlage zusammen. Jubel wies auf das in randomisierten Studien
nachgewiesene deutlich höhere Pseudarthrosenrisiko hin, welches mit zunehmendem Alter
und Komplexität der Fraktur deutlich im 2-stelligen Prozentbereich anzusiedeln ist.
Auch der Anspruch des Patienten bezüglich schneller Belastbarkeit spielt eine Rolle.
Längeninstabile Frakturen sind weiterhin sehr gut mit winkelstabilen Platten versorgt,
für die einfache dislozierte Fraktur empfahlen die Referenten die ESIN-Technik. Verkürzungen
von 2 cm und mehr sollten vermieden werden.
Abb. 2 Falldiskussion mit Martin Jaeger. (Quelle: Henry Langer, AO Foundation)
Die laterale Klavikula einschließlich Akromioklavikulargelenk und dem ligamentären
Aufhängeapparat (SSSC = Superior Shoulder Suspensory Complex) war Gegenstand der letzten
Session nach der Fingerfood-Pause, den Martin Jaeger (Freiburg) mit interessanten
und komplexen Fällen und einem sehr engagierten Vortrag einleitete. Seine Herangehensweise
an diese komplexen Kombinationsverletzungen mit einer subtilen Analyse des Unfallmechanismus
(„steht die Klavikula hoch oder der Rest der Schulter tief?“) überzeugten das Publikum,
auch wenn sich Jaeger auf kein einfach zu reproduzierendes Rezept festnageln lassen
wollte. Hier ist offensichtlich noch auf längere Zeit „Individualmedizin“, extensive
Diagnostik und genaue Nachbeobachtung des Patienten angesagt.
Abb. 3 Diskussion im Sitzungssaal. (Quelle: Henry Langer, AO Foundation)
Philipp Kobbe (Aachen) warf zuletzt noch ein kritisches Schlaglicht auf die aktuell
diskutierten Therapien der ohnehin problematischen Verletzungen des AC-Gelenks. Nach
wie vor gibt es keinen klaren Konsens hinsichtlich der OP-Indikation bei den Rockwood-3/4-Verletzungen
einerseits und der OP-Strategie bzw. den zu verwendenden Implantaten bei den Rockwood-5-Läsionen
andererseits. Die zuletzt stark in Mode gekommenen und von der Industrie offensiv
beworbenen Fadenanker-Methoden weisen nach Übereinstimmung im Plenum eine recht flache
Lernkurve und nicht unerhebliche Komplikationsmöglichkeiten auf. Dies konnte Kobbe
mit mehreren Fallbeispielen von Fehlschlägen eindrucksvoll demonstrieren und mit aktueller
Literatur untermauern. Wahrscheinlich werden zu den über 150 bekannten Operationsmethoden
für diese Verletzungen noch weitere hinzukommen.
Teilnehmer und Chairmen äußerten sich mit dem Verlauf der „wochenendsparenden Fortbildung“
äußerst zufrieden, das neue, komplett fallbasierte Konzept wurde sehr positiv angenommen.
Trotz der großen Teilnehmerzahl konnte ein „Seminar“-Charakter erzielt werden, da
es zu allen Themen eine Vielzahl von willigen Diskutanten gab. Möglich wurde dies
durch die Bereitschaft der Referenten, sich auf dieses neue Format einzulassen. Besonders
positiv und fast einmalig aus Sicht der Chairmen: Kein einziges Mal wurde der Fall
aus einem „auswärtigen Krankenhaus“ vorgestellt, alle Redner zeigten Fälle aus den
eigenen Kliniken!
Prof. Dr. Lars-Peter Müller, Köln
Dr. Gereon Schiffer, Bergisch-Gladbach
Prof. Dr. Joachim Windolf, Düsseldorf