Pädiatrie up2date 2020; 15(01): 11-28
DOI: 10.1055/a-0892-5455
Entwicklung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen für Kinder in Deutschland

Burkhard Lawrenz
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Korrespondenzadresse

Dr. med. Burkhard Lawrenz
Privatpraxis für Kinder- und Jugendmedizin
Grafenstr. 80
59821 Arnsberg

Publication History

Publication Date:
05 March 2020 (online)

 

Vorsorge- und Krankheitsfrüherkennungsprogramme für Kinder sind wichtige Elemente der primären und sekundären Prävention in dieser Altersgruppe. Wesentliche Inhalte sind vorausschauende Beratung und Screening auf frühe Symptome behandelbarer Erkrankungen. Ein entsprechendes Programm wurde in Deutschland im Jahr 1971 etabliert und seither ständig ausgebaut und verbessert. Dieser Beitrag erläutert die aktuellen Inhalte und deren Hintergründe.


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Gesundheitsförderung und Prävention

Gesundheitsförderung wird häufig mit Prävention gleichgesetzt, zielt aber auf eine allgemeine Verbesserung der Gesundheit durch Förderung gesund erhaltender Schutzfaktoren („Salutogenese“) [1] ohne Zielrichtung auf eine bestimmte Krankheit.

Prävention richtet ihren Akzent immer auf bestimmte Krankheiten (z. B. Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Übergewicht). Zentrale Strategie der Prävention ist es, die Auslösefaktoren von Krankheiten zurückzudrängen oder ganz auszuschalten. In der Regel wird Prävention damit nicht nur als Aufgabe der Medizin verstanden, sondern erfolgt interdisziplinär unter Mitwirkung von Psychologie, Soziologie und Pädagogik. Präventive Maßnahmen sind langfristig angelegt und zielen auf langfristige Veränderungen der Einstellung, des Erlebens und des Verhaltens.

Medizinische Präventionsmaßnahmen sind sowohl ethisch-normativ als auch ökonomisch begründet: Individuelles Leid soll so weit wie möglich verhindert, die Lebensqualität der Menschen verbessert und das Leben selbst verlängert werden. Gleichzeitig soll Prävention die individuellen wie gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Lasten für dann unnötig gewordene Krankenbehandlungen verringern.


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Verhaltens- und Verhältnisprävention

Wir unterscheiden zwischen Verhaltensprävention (die gezielt auf das Handeln einzelner Personen ausgerichtet ist) und Verhältnisprävention (die auf das Umfeld und die Lebensumstände ausgerichtet ist).

Merke

Kinder- und Jugendärzte fühlen sich beidem verpflichtet: der Beratung des einzelnen Kindes und seiner Eltern zur Verhaltensprävention und ebenso der politischen und gesellschaftlichen Anwaltschaft durch Einsatz für gesunde und entwicklungsfördernde Verhältnisse für alle Kinder.

Dies wird in den Satzungen zahlreicher nationaler pädiatrischer Verbände und Fachgesellschaften betont, z. B. der American Academy of Pediatrics (AAP), des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ).

Krankheitsprävention

Prävention (lateinisch praevenire, „zuvorkommen“ʼ „verhüten“) bezeichnet Maßnahmen zur Abwendung von unerwünschten Ereignissen oder Zuständen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen könnten, wenn nichts getan werden würde. Prävention setzt zunächst voraus, dass geeignete Maßnahmen verfügbar sind, um den Eintritt dieser Ereignisse zu beeinflussen. Krankheitsprävention versucht, den Gesundheitszustand der Bevölkerung, von Bevölkerungsgruppen oder einzelnen Personen zu erhalten oder zu verbessern. Das entsprechende Teilgebiet der Medizin wird als Präventivmedizin bezeichnet. Die Begriffe „Vorbeugung“ und „Prophylaxe“ (altgriechisch prophylásso, „von vornherein ausschließen“) werden synonym zum Präventionsbegriff verwendet.

Der Begriff der Krankheitsprävention wird außerdem untergliedert nach dem Ansatzpunkt innerhalb des zeitlichen Verlaufs von Krankheiten und der Form der Ausrichtung ([Tab. 1]). Dabei versucht die Primärprävention durch gezielte Maßnahmen, bestimmte Erkrankungen, Mangelzustände und Unfälle noch vor deren Eintritt zu verhindern (z. B. Beratung der Eltern zur Vorbeugung des plötzlichen Kindstods, prophylaktische Vitamin- und Spurenelementgaben, Impfungen, altersadaptierte Unfallverhütung).

Ziel der Sekundärprävention ist die frühestmögliche Erkennung bereits bestehender Krankheiten, um Krankheitsfolgen und Komplikationen verhindern zu können und dadurch die Langzeitprognose zu verbessern. Die Früherkennungsuntersuchungen U1–U9 für Kinder und die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 in Deutschland stellen eine Kombination primärer und sekundärer Präventionsmaßnahmen dar, wobei anfangs die Sekundärprävention im Fokus stand, während die Primärprävention in den letzten Jahren erfreulicherweise an Bedeutung gewonnen hat.

Tertiärprävention bezieht sich auf alle Maßnahmen bei chronischen Erkrankungen, die einer weiteren Verschlechterung entgegenwirken sollen. Quartärprävention bezeichnet Maßnahmen und Strategien zur Rückfallprophylaxe, zur Verminderung von Therapienebenwirkungen und zur Vermeidung unnötiger medizinischer Maßnahmen.

Tab. 1 Primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre Prävention.

Prävention

primär

sekundär

tertiär

quartär

Zielgruppe

Gesunde

Erkrankte ohne oder mit wenig Symptomen

chronisch Kranke

chronisch Kranke

Ziele

Erkrankung verhindern

Früherkennung mit besserem Behandlungserfolg

Verschlimmerung des Zustands und Krankheitsfolgen verhindern

Rückfälle verhindern, Therapienebenwirkungen vermindern, unnötige Therapien vermeiden

Beispiele

Arteriosklerose verhindern durch gesunde Ernährung und Bewegung

konnatale Hypothyreose erkennen und frühzeitig behandeln, um normale Entwicklung zu ermöglichen

gute Diabeteseinstellung, um Krisen und Gefäßschäden zu verhindern

Krebs bei Kindern mit effektiver, aber bestverträglicher Therapie behandeln, Bestrahlung und Kardiotoxizität reduzieren

Losgelöst von der zeitlichen Dimension richtet sich die universelle Prävention an die gesamte Bevölkerung, selektive Prävention an besonders gefährdete Personen und indizierte Prävention an bereits betroffene.


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Sekundärprävention: Krankheitsfrüherkennung durch Screening

Zur Früherkennung von Krankheiten werden universelle oder selektive Screening-Strategien verwendet. Meist werden Screening-Untersuchungen für bestimmte Alters- oder Risikogruppen eingesetzt. Dabei muss man immer bedenken:

Merke

Ein Screening kann nur einen positiven oder negativen Befund liefern, aber keine Diagnose.

Da es falsch positive Befunde gibt, kann eine Diagnose nur durch entsprechende Konfirmationsdiagnostik gestellt werden. Da es aber auch falsch negative Befunde gibt, kann ein negatives Screening eine Krankheit nicht immer definitiv ausschließen. Eine hohe Sensitivität (wenig falsch negative Befunde) führt zu einer geringeren Spezifität (mehr falsch positive Befunde) und umgekehrt. Das ist systemimmanent und kann nur begrenzt beeinflusst werden. Screening-Methoden unterscheiden sich aber in ihrer Qualität, z. B. gibt es beim heute üblichen Screening auf zahlreiche angeborene Stoffwechselstörungen durch Tandem-Massenspektrometrie (MS-MS) kaum noch falsch negative und dennoch nur sehr wenig falsch positive Befunde, während beim Neugeborenen-Hör-Screening sowohl falsch positive als auch falsch negative Befunde häufig sind.

Eine frühe Krankheitsdiagnose – z. B. nach bestätigtem auffälligen Screening – kann für Betroffene auch Nachteile haben, insbesondere wenn keine wirksamen Behandlungsoptionen bestehen. Daher haben Wilson und Jungner im Auftrag der WHO schon im Jahr 1968 Kriterien festgelegt, unter welchen Voraussetzungen ein Krankheits-Screening sinnvoll erscheint [2]. Diese wurden im Jahr 2018 von einer kanadischen Arbeitsgruppe in einem modifizierten Delphi-Prozess nach einer systematischen Literaturrecherche und Analyse der zwischenzeitlichen Publikationen zum Thema revidiert [3] (s. Infobox).

Info

Aktualisierte Screening-Kriterien [3]

  1. Die Epidemiologie der Erkrankung soll bekannt und die Erkrankung ein bedeutsames Gesundheitsproblem sein (z. B. hohe oder ansteigende Inzidenz oder Prävalenz, bedeutsame Morbidität oder Mortalität).

  2. Der natürliche Verlauf der Erkrankung soll bekannt und die Erkrankung gut definiert sein; es soll eine identifizierbare präsymptomatische Phase geben.

  3. Die Zielpopulation soll klar definiert (z. B. durch einen Altersbereich), identifizierbar und erreichbar sein.

  4. Die Güte des Tests soll für das Screening-Ziel angemessen sein, mit allen testspezifischen Schlüsselkomponenten wie Genauigkeit (Sensitivität, Spezifität und positiver prädiktiver Wert), Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit. Der Test soll für die Zielpopulation akzeptabel und sicher, kostengünstig und effizient anwendbar sein.

  5. Die Testergebnisse sollen eindeutig interpretierbar sein und bestimmen (mit bekannter Verteilung der Testwerte und gut definierten und konsentierten Grenzwerten), welchen Screening-Teilnehmern Konfirmationsdiagnostik oder andere Maßnahmen angeboten werden sollen und welchen nicht.

  6. Es soll einen konsentierten Handlungsablauf für Teilnehmer mit positivem Testergebnis geben, der Konfirmationsdiagnostik, Behandlung oder Intervention und Weiterversorgung einschließt. Die Versorgung soll den natürlichen Verlauf der Erkrankung verändern, für Betroffene verfügbar, erreichbar und annehmbar sein, und die Prognose verbessern (z. B. verbesserte Teilhabe oder Lebensqualität, verminderte Mortalität). Die Belastung für alle Testteilnehmer soll verstanden und akzeptierbar und die Auswirkungen falsch positiver und falsch negativer Testergebnisse minimal sein.

  7. Es soll eine angemessene Infrastruktur (z. B. finanzielle und personelle Ressourcen, Informationswege, Testeinrichtungen, Ausstattung und Testtechnologie) oder einen klaren Plan zur Entwicklung einer angemessenen Infrastruktur geben, der für das Setting geeignet ist und zeitnahen Zugang zu allen Komponenten des Screenings erlaubt*.

  8. Alle Komponenten des Screening-Programms* sollen koordiniert und – wo möglich – in das Gesundheitssystem integriert werden (einschließlich eines formellen Systems zur Information, Beratung, Weiterleitung und Management der Behandlung von Screening-Teilnehmern), um die Kontinuität der Betreuung zu optimieren und dafür zu sorgen, dass kein Screening-Teilnehmer aus der Betreuung fällt.

  9. Alle Komponenten des Screening-Programms* sollen klinisch, sozial und ethisch akzeptabel für Screening-Teilnehmer, Professionelle im Gesundheitswesen und Gesellschaft sein, und es soll effektive Methoden geben, Screening-Teilnehmer zu einer informierten Entscheidung zu führen, um ihre Autonomie zu fördern und ihre Rechte zu schützen.

  10. Der erwartete Nutzen (z. B. verbesserte Teilhabe oder Lebensqualität, verminderte Mortalität) und Schaden (z. B. Überdiagnose und Überbehandlung) für Screening-Teilnehmer und Gesellschaft soll klar definiert und akzeptabel sein. Durch hochwertige wissenschaftliche Evidenz soll belegt sein (oder durch Begleitforschung gezeigt werden), dass der Nutzen den potenziellen Schaden überwiegt.

  11. Eine ökonomische Auswertung (z. B. Kosten-Effektivitäts-Analysen, Kosten-Nutzen-Analysen) des Screening-Programms aus der Sicht des Gesundheitssystems oder der Gesellschaft soll erfolgen oder eindeutig geplant werden, um die vollen Kosten und Effekte der Implementierung, Durchführung und Aufrechterhaltung des Programms zu erfassen. Dabei sollen auch Folgekosten und mögliche Effekte durch Einsatz der Mittel für alternative Strategien (wie primäre Prävention, verbesserte Behandlung und andere medizinische Maßnahmen) berücksichtigt werden.

  12. Das Screening-Programm soll klare Ziele haben, die ausdrücklich mit Planung, Monitoring, Evaluation und Berichterstattung verbunden sind, mit festgelegten Informationswegen und Finanzierung, um anhaltende Qualitätskontrollen und das Erreichen von Qualitätszielen zu sichern.

(* Komponenten eines Screening-Programms schließen Rekrutierung, Testung, Informationszugang, Diagnose, Weiterleitung, Behandlung, Nachverfolgung, Patientenschulung und Unterstützung, Mitarbeitertraining, Programmmanagement und Evaluation ein.)


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Grundlagen des Vorsorge- und Früherkennungsprogramms in Deutschland

Im Jahr 1971 begründete der Gesetzgeber im § 26 des 5. Sozialgesetzbuches (SGB V) den Anspruch von Kindern bis zum 6. Lebensjahr (LJ) auf „Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche, geistige oder psychosoziale Entwicklung in nicht geringem Maße gefährden“. Der damalige „Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen“ (G-BA, inzwischen nur noch „Gemeinsamer Bundesausschuss“), hat diesen Anspruch in seinen „Kinder-Richtlinien“ geregelt und ein „Kinderuntersuchungsheft“ konzipiert, das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gedruckt und von den regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) kostenlos an alle Geburtskliniken, Geburtshäuser, Hebammen, Hausärzte und Pädiater ausgegeben wird. Die Kinder-Richtlinien wurden vom G-BA immer wieder geändert und um neue Untersuchungen erweitert.

2016 wurde das Kinderfrüherkennungsprogramm komplett neu strukturiert und die „Kinder-Richtlinien“ in „Kinder-Richtlinie“ umbenannt [4]. Obwohl der Gesetzgeber den Geltungsbereich des § 26 SGB V inzwischen vom 6. auf das 18. LJ erweitert hatte, enthält die neue Kinder-Richtlinie unverändert 10 Untersuchungen (U1–U9 inkl. U7a) bis zum 6. LJ, aber keine neuen Untersuchungen im Schulalter. Das Neugeborenen-Screening (NGS) wurde um ein Screening auf Mukoviszidose (zystische Fibrose, CF) erweitert. Das bereits vorher von vielen Geburtskliniken, Pädiatern und HNO-Ärzten praktizierte Neugeborenen-Hör-Screening (NHS) wurde obligat. Das Screening auf Störungen der psychomotorischen Entwicklung wurde überarbeitet und erweitert. Die körperliche Untersuchung wurde auf die Erkennung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung spezifiziert. Das Seh-Screening wurde optimiert und die primärpräventive vorausschauende Beratung bekam größeres Gewicht.

Die Kinderfrüherkennnungsuntersuchungen (U) U1–U9 werden im gelben „Kinderuntersuchungsheft“ dokumentiert. Der Inhalt dieses Hefts gibt den Inhalt der Kinder-Richtlinie wieder und stellt daher für alle Beteiligten nachvollziehbar den verbindlichen Standard für die U dar, der in der Patientenversorgung nicht unterschritten werden darf, auch nicht bei privat versicherten Kindern. Der aktuelle Standard wird im Folgenden dargestellt und erläutert.

Info

Richtlinien des G-BA

Richtlinien des G-BA regeln den Anspruch der gesetzlich Versicherten auf Leistung und sind (im Gegensatz zu medizinischen Leitlinien) für Krankenkassen und deren Verbände, Kassenärztliche Vereinigungen, Vertragsärzte, deren Gemeinschaften, ärztlich geleitete Einrichtungen und den öffentlichen Gesundheitsdienst sowie für die Versicherten verbindlich. Für privat Versicherte gelten sie als medizinischer Standard (BGH, Urteil vom 25.11.2003, VI ZR 8/03).


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U1: Neugeborenen-Erstuntersuchung

Die U1 darf von jedem Arzt und von jeder Hebamme durchgeführt werden. Nur wenn ein Pädiater bei der Geburt anwesend ist (bei Risikogeburten oder Komplikationen), fällt sie in seinen Aufgabenbereich. In den ersten Lebensminuten wird die Adaptation des Neugeborenen beobachtet und bei Bedarf unterstützt. Der APGAR-Wert [5] wird 5 und 10 Minuten postnatal bestimmt und im gelben Heft dokumentiert (der 1-Minuten-Apgar wird nicht mehr dokumentiert, da kein Zusammenhang mit der Prognose des Kindes gezeigt werden konnte [5]). Nabelarterien-pH und Basenüberschuss werden gemessen und dokumentiert. Innerhalb der ersten 30 Minuten postnatal soll das Neugeborene auf Reifezeichen, äußere Fehlbildungen, Geburtstraumata, Ikterus und Ödeme untersucht sowie das Geschlecht festgestellt werden. Bei intersexuellem Genitale erfolgt keine vorläufige Festlegung, sondern es wird ein „unbestimmtes“ Geschlecht eingetragen. Körperlänge und Gewicht werden gemessen, nicht aber der Kopfumfang, da die Kopfhaut postnatal meist geschwollen ist und der Umfang bis zur U2 meist abnimmt. Durch die Untersuchung soll der Körperkontakt zwischen Mutter und Kind nicht unnötig früh und nicht unnötig lange unterbrochen werden, um die Bindungsentwicklung möglichst wenig zu stören (optimal wäre dafür 1 Stunde postnatal) [5].

Nach U1: spezielle Früherkennungsuntersuchungen

Pulsoxymetrie-Screening (POS)

Kritische angeborene Herzfehler sind häufig in den ersten Lebensstunden asymptomatisch, können aber in den ersten Lebenstagen (LT) zu einem akuten klinischen Verfall führen. Bis der Herzfehler als Ursache erkannt wird, können bereits irreversible Schäden eingetreten sein. 60% dieser Vitien werden heute durch die pränatale Sonografie erkannt. 20% sind postnatal symptomatisch, z. B. mit einem Systolikum oder abgeschwächten Femoralispulsen. Weitere 16% können durch ein postnatales Pulsoxymetrie-Screening aufgedeckt werden, 4% werden auch damit übersehen ([Abb. 1]) [6]. Das Screening soll in der 25. – 48. Lebensstunde (LS), in Ausnahmefällen schon ab der 5. LS, an einem Fuß durchgeführt werden. Liegt der Wert unter 96% oder gelingt die Messung nicht, muss innerhalb 1 Stunde erneut gemessen werden; lässt sich wieder kein Wert zwischen 96 und 100% messen, muss umgehend eine kinderkardiologische Abklärung erfolgen. Wurde die Messung postnatal versäumt oder nicht dokumentiert, muss sie bis zum 14. LT (= Ende der Toleranzzeit der U2) nachgeholt werden.

Merke

Durch das Pulsoxymetrie-Screening können 16% aller kritischen angeborenen Herzfehler diagnostiziert werden – aber 80% der mit anderen Methoden nicht auffindbaren!

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Abb. 1 Diagnose kritischer konnataler Herzvitien. Grün: Diagnose durch pränatale Sonografie (60%). Petrol: Diagnose durch postnatale klinische Untersuchung (20%). Blau: Diagnose durch Pulsoxymetrie-Screening (16%). Curry: Mit allen 3 Methoden nicht erkannt (4%).

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Erweitertes Neugeborenen-Screening (NGS)

Den Eltern aller Neugeborenen (NG) wird ein Screening auf 14 Zielkrankheiten aus einer Blutprobe angeboten (s. Infobox). Neu kam im Sommer 2019 das Screening auf T-Zell-Defekte einschließlich der schweren kombinierten Immundefekte (Severe Combined ImmunoDefeciency, SCID) hinzu, die mit allogener Stammzelltransplantation gut behandelbar ist. Das Screening erfolgt durch den Nachweis von „T-cell Receptor Excision Circles“ (TRECs), kleine DNA-Ringe, die bei der Produktion von T-Zell-Rezeptoren entstehen. Fehlen sie, so sind keine funktionsfähigen naiven T-Zellen vorhanden. Das ist nicht nur beim SCID der Fall, sondern kann auch andere Ursachen haben, sodass die Konfirmationsdiagnostik unbedingt in einer kompetenten Immundefektklinik erfolgen muss.

Cave

So lange der Verdacht auf einen Immundefekt nicht ausgeräumt ist, darf keine Rotavirus-Impfung erfolgen, da es sich dabei um eine Lebendimpfung handelt und die Impfviren bei kombinierten Immundefekten eine chronische persistierende Infektion auslösen können, die praktisch nicht behandelbar ist.

Somit wird durch das SCID-NGS ein ganz seltenes schweres Risiko der Rotavirus-Impfung ausgeräumt – ein direkter Fortschritt für die ambulante Allgemeinpädiatrie!

Das NGS wird durch MS-MS aus Trockenblut auf Filterpapier durchgeführt. Das Blut muss zwischen der 36. und 72. LS entnommen werden. Meist wird dazu Kapillarblut aus der Ferse abgenommen, venöses Blut ist ebenso geeignet, wenn es zur Verfügung steht. Zahlreiche Details sind bei Entnahme, Trocknung und Versand der Blutprobe zu beachten [9], z. B. muss es bei sehr unreifen Frühgeborenen im postmenstruellen Gestationsalter von 32 Schwangerschaftswochen (SSW) wiederholt werden und bei Reifgeborenen nach vorzeitiger Blutentnahme wegen Frühentlassung, vor Blutaustauschtransfusion etc.

Antibiotika beim NG spielen keine Rolle mehr, seit Bakterienwachstumshemmtests (wie der früher verwendete Guthrie-Test) für das Screening nicht mehr eingesetzt werden; Probleme macht allerdings das neuerdings bei Schwangeren zur Behandlung von Harnwegsinfekten gern eingesetzte Pivmecillinam (Pivmelam®, X-Systo®), weil es intrauterin auf das Kind übergeht und durch seinen Gehalt an Pivalinsäure beim NGS den falsch positiven Verdacht auf Isovalerianazidämie verursachen kann [7].

Das Nachholen eines nicht erfolgten Screenings ist in jedem Lebensalter sinnvoll, besonders bei ätiologisch unklaren Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen. Die Kosten werden dennoch nur in den ersten 4 LW von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen.

Info

Zielkrankheiten des NGS [4]

  • adrenogenitales Syndrom

  • Ahornsirupkrankheit

  • Biotinidasemangel

  • Carnitinzyklusdefekte

  • Galaktosämie

  • Glutarazidurie Typ I

  • Hypothyreose

  • Isovalerianazidämie

  • Long-Chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel

  • Medium-Chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel

  • Phenylketonurie (einschließlich Hyperphenylalaninämien)

  • T-Zell-Defekte (einschließlich schwere kombinierte Immundefekte)

  • Tyrosinämie Typ I

  • Very-Long-Chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel


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Screening auf Mukoviszidose

Der G-BA hat das CF-NGS 2016 mit einem Stufenschema aus der Bestimmung von immunreaktivem Trypsinogen (IRT), pankreatitisassoziiertem Protein (PAP) und DNA-Analyse eingeführt [4]. Seit 2013 gilt das Gendiagnostikgesetz (GenDG). Daher ist vor Durchführung des CF-NGS eine ärztliche Aufklärung nach den Vorgaben des GenDG notwendig. Die Aufklärung durch eine Hebamme, die das Blut entnimmt, mit Rückfragemöglichkeit beim Arzt reicht für das NGS ansonsten aus, für das CF-NGS nicht. Daher wird die Einwilligung für das CF-NGS im gelben Heft auf einer eigenen Seite dokumentiert. Ein Nachholen des CF-NGS ist nur bis zum Ende der 4. LW möglich, da es für ältere Kinder keine evidenzbasierten Grenzwerte für IRT und PAP mehr gibt.


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Neugeborenen-Hör-Screening (NHS)

Laut Kinder-Richtlinie sollen alle NG mittels TEOAE (Transitorisch Evozierte OtoAkustische Emissionen) oder AABR (Automated Auditory Brainstem Response) an beiden Ohren gescreent werden, Kinder mit Risikofaktoren für angeborene Hörstörungen ausschließlich mit AABR. Allerdings gibt es keinen allgemein anerkannten und evidenzbasierten Katalog für solche Risikofaktoren. Das Screening soll in den ersten 3 LT erfolgen, spätestens im Rahmen der U2 (also bis zum 14. LT), bei Frühgeborenen spätestens zum errechneten Geburtstermin. Bei therapiebedürftig kranken Kindern ist ein Aufschub bis zum 3. LM erlaubt [4].

Auffällige Befunde sollen bis zum Ende des 3. LM abgeklärt und die Kinder mit bestätigter Hörstörung bis zum Ende des 6. LM einer angepassten Therapie zugeführt werden. Dies gelingt leider zumindest in Deutschland nur sehr unzureichend. Nur wenn alle auffälligen Screening-Befunde bis zur endgültigen Abklärung nachverfolgt werden (sog. „Tracking“), wird ein adäquates Diagnosealter erreicht [8]. Dies erfolgt in Deutschland nur in wenigen Bundesländern durch Tracking-Zentralen, die auch die auffälligen Befunde des NGS nachverfolgen.


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U2 und U3: Screening auf konnatale Hüftdysplasie

Hüftdysplasien führen unbehandelt zu mangelnder Ausbildung der knöchernen Hüftpfanne und dadurch zur Früharthrose. Während konnatale Hüftluxationen meist durch eine Abduktionshemmung der Hüften auffallen, sind Dysplasien bei der klinischen Untersuchung kaum feststellbar.

Cave

Der früher verwendete Ortolani-Test besteht in einer artifiziellen Subluxation der Hüfte mit nachfolgendem Repositionsmanöver und soll wegen der Gefahr der Auslösung einer Hüftkopfnekrose nicht mehr durchgeführt werden.

Die Sonografie der Hüftgelenke nach Graf macht ein Screening möglich [9]. Da sich bei U2 noch sehr viele unreife, kontrollbedürftige Befunde finden, sieht die Kinder-Richtlinie hier nur ein selektives Screening für Kinder mit Risikofaktoren vor (Geburt aus Beckenendlage, Hüftluxation oder Hüftdysplasie in der Herkunftsfamilie, Stellungsanomalien der Füße und Fehlbildungen). Der Befund dieses selektiven Screenings im Rahmen der U2 wird auf der Seite für das universelle Screening im Anschluss an die U3 als Vorbefund eingetragen.

Das universelle Screening besteht aus einer klinischen Untersuchung der Hüftgelenke auf Beweglichkeit (insbesondere Abduktionshemmung) ohne Ortolani-Test und auf Beinlängendifferenz bei U2 und U3 sowie aus einer Hüftsonografie in der 4. – 5. Lebenswoche mit Toleranzzeit bis zur 8. Lebenswoche (entsprechend der U3). Kriterien für Kontrolluntersuchungen, Konfirmationsdiagnostik und Therapieindikation sind publiziert [9]. Die American Academy of Pediatrics betrachtet die Effektivität der Methode jedoch nicht als ausreichend evidenzbasiert und empfiehlt daher kein universelles sonografisches Hüft-Screening [10].

Merke

Das Screening auf konnatale Hüftdysplasien ist bei der U2 anamnestisch, klinisch und selektiv sonografisch, bei der U3 universell sonografisch.


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U2 bis U9: Sekundärprävention

Zeiträume und Struktur

Anders als die U1 werden alle weiteren U von einem Arzt durchgeführt. Eine pädiatrische Weiterbildung ist dafür eigentlich erforderlich, aber leider nicht vorgeschrieben. Die Zeiträume, in denen die weiteren U durchgeführt werden sollen (Untersuchungszeiträume) bzw. maximal durchgeführt werden können (Toleranzgrenzen), finden sich in [Tab. 2]. Auch bei Frühgeborenen gilt das chronologische und nicht das korrigierte Alter; jedoch muss die Frühgeburt bei der Beurteilung der Ergebnisse berücksichtigt werden [4].

Tab. 2 Zeiträume und Toleranzgrenzen der U2–U9 [4].

Untersuchung

Zeitraum

Toleranzgrenzen

U2

3. – 10. LT

3. – 14. LT

U3

4. – 5. LW

3. – 8. LW

U4

3. – 4. LM

2. – 4½ LM

U5

6. – 7. LM

5. – 8. LM

U6

10. – 12. LM

9. – 14. LM

U7

21. – 24. LM

20. – 27. LM

U7a

34. – 36. LM

33. – 38. LM

U8

46. – 48. LM

43. – 50. LM

U9

60. – 64. LM

58. – 66. LM

Jede U beginnt mit einer etwa einseitigen Elterninformation. Ab U3 folgt ein Feld für Notizen der Eltern, in dem sie sich Auffälligkeiten, Beobachtungen und Fragen an die Ärztin oder den Arzt notieren können.

Es folgt die Anamnese, gegliedert in Eigen-, Familien- und Sozialanamnese. Ab U4 entfällt die Familienanamnese. Die anschließende orientierende Beurteilung der Entwicklung kann an die MFA delegiert werden. Danach folgt die ärztliche körperliche Untersuchung.

Eine primärpräventive („antizipatorische“ oder „vorausschauende“) Beratung erweitert das Programm von der reinen Früherkennung zur echten Vorsorge. Altersspezifische Themen sind vorgegeben.

Zum Abschluss werden die relevanten Ergebnisse zusammengefasst: anamnestische Auffälligkeiten, Körpermaße, Auffälligkeiten zur Beobachtung und ggf. die Vereinbarung weiterer Maßnahmen (ganz im Sinne eines Screenings, das zunächst Auffälligkeiten liefert und ggf. eine Konfirmationsdiagnostik fordert).

Besonderheiten der genannten Einzelelemente werden im Folgenden erläutert.


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Anamnese bei U2 bis U4: Screening auf Gallenwegsfehlbildungen

Die konnatale Gallenwegsatresie ist die schwerste Form der insgesamt seltenen Gallenwegsfehlbildungen. Unbehandelt führt sie zu Leberzirrhose und Tod. Die Prognose wird besser mit einer möglichst frühen Diagnose und bis zur 6. LW durchgeführten Hepatoportoenterostomie nach Kasai [11]; manchmal wird eine Lebertransplantation nötig. Die Fehlbildung verursacht eine Cholestase und manifestiert sich mit einem Icterus prolongatus (im Alter von 14 LT noch an der Haut sichtbar, meist mit graugrüner Färbung, und direkter, also konjugierter Hyperbilirubinämie), dunklem Urin und entfärbten Stühlen.

In pazifischen Regionen liegt die Inzidenz mit maximal 1 : 2400 deutlich höher als in Europa (1 : 14 000 bis 1 : 20 000); dort konnte gezeigt werden, dass sich die Prognose der betroffenen Kinder mit der Ausgabe einer Stuhlfarbkarte ([Abb. 2]) an die Eltern für den 1. Lebensmonat mit frühzeitiger Arztvorstellung bei entfärbten Stühlen verbessern lässt [12]. In Ländern mit niedriger Krankheitsinzidenz wie den USA lassen sich die Vorteile eines Screenings bislang nur vermuten. Es wurde in der Schweiz auf freiwilliger Basis erfolgreich erprobt, ohne zu Irritationen der Eltern zu führen, jedoch bislang nicht weiter evaluiert [12].

Aufgrund der neuen Kinder-Richtlinie muss nun bei U2, U3 und U4 im Rahmen der Anamnese die Stuhlfarbe des Kindes von den Eltern erfragt werden. Da die U2 bei den meisten Kindern bereits am 3. oder 4. LT durchgeführt wird, ist die Stuhlfarbe jedoch fast immer noch durch Mekonium schwarz oder dunkelgrün oder durch geschlucktes mütterliches Blut schwarz oder rot (Melaena spuria). Daher sollte die Stuhlfarbkarte mitgegeben und die Eltern aufgefordert werden, sich bei entfärbten Stühlen beim Arzt zu melden, damit unverzüglich die notwendige Konfirmationsdiagnostik eingeleitet werden kann. Bei U3 wird die Zeit für die Bestätigung der Diagnose und die Operation bis zur 6. LW schon knapp, insbesondere, wenn sie erst in der 5. LW oder gar im Toleranzzeitraum danach durchgeführt wird, was nicht selten vorkommt. Der Sinn eines Stuhlfarben-Screenings bei U4 im Alter von 2 – 4½ LM erschließt sich nicht.

Die Stuhlfarbkarte wird nicht von den KVen zur Verfügung gestellt, sondern muss anderweitig bestellt werden (z. B. unter www.bvkj-shop.de oder www.basca.ch).

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Abb. 2 Die Stuhlfarbenkarte sollte den Eltern bei der U2 mit nach Hause gegeben werden, damit entfärbte Stühle noch vor U3 pädiatrisch abgeklärt werden können.

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Von U3 bis U9: psychomotorisches Entwicklungs-Screening

Von U3 bis U9 wird die psychomotorische Entwicklung in ihren verschiedenen Bereichen anhand des Grenzsteinprinzips überprüft. Solche Grenzsteine erschienen bereits im alten Kinderuntersuchungsheft, teils unter „Erfragte“ und teils unter „Erhobene Befunde“. Sie wurden inhaltlich aber nun stark verändert. Leider kamen die bekannten und bereits im grünen BVKJ-Vorsorgeheft „Paed.plusR“ verwendeten Grenzsteine von Michaelis et al. [13] nicht zur Anwendung. Bei den neuen Grenzsteinen ist leider unklar, auf welchen genauen Zeitpunkt sie sich bei den einzelnen Untersuchungen beziehen – wahrscheinlich bei U3–U5 auf die Mitte des angegebenen Untersuchungszeitraums (also bei U3 Ende der 4. LW, bei U4 Ende des 3. und bei U5 Ende des 6. LM), ab U6 dann zum Ende des jeweiligen 1. – 5. LJ.

Da man die Kinder jedoch in der Praxis zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb Untersuchungs- und Toleranzzeiträume sieht, muss das jeweilige Alter bei der Bewertung der Grenzsteine berücksichtigt werden.

Merke

Interventionsgrenzen wurden vom G-BA nicht festgelegt; aufgrund der Variabilität der kindlichen Entwicklung ist ein nicht erreichter Grenzstein noch nicht gleichbedeutend mit einer Entwicklungsstörung.

Zudem haben sich offensichtliche Fehler eingeschlichen: Beispielsweise sind keinesfalls 90% der Säuglinge bei U3 im Alter von durchschnittlich 4 LW bereits in der Lage, einem Gegenstand mit den Augen nach beiden Seiten mindestens 45° zu folgen. Zahlreiche der verwendeten Grenzsteine lassen sich in der Praxissituation nicht untersuchen (z. B. bei U7: „Spielt etwa 15 Minuten alleine, auch wenn die Mutter oder der Vater nicht im Zimmer/in der Nähe ist“ – das wird in kaum einer Praxis überprüfbar sein) und müssen erfragt werden, mit der Unsicherheit, ob die Eltern ihr Kind über- oder unterschätzen oder gar absichtlich falsche Angaben machen. Nur nicht erfüllte Items werden angekreuzt, sodass man bei fehlenden Kreuzen nicht sicher weiß, ob die Items erfüllt oder gar nicht untersucht wurden.

Die Beobachtung der Interaktion zwischen Eltern und Kind ist aufgeteilt in „Stimmung/Affekt“, „Kontakt/Kommunikation“ und „Regulation/Stimulation“. Die Beschreibungen der normalen Interaktion werden von U3 bis U5 leicht differenziert, sind jedoch bei U5 und U6 identisch, obwohl hier sicherlich die größte Veränderung zu erwarten ist. Sie sind eher unklar formuliert, und auch hier sind offensichtliche Fehler erkennbar: Wie z. B. soll ein Kind bei U3 spontanen Körperkontakt zur Bezugsperson herstellen? Nach U6 wird die Interaktion nicht mehr abgefragt; dennoch sollte sie natürlich bei jeder Früherkennungsuntersuchung beobachtet und berücksichtigt werden.


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U2 bis U9: Screening auf körperliche Erkrankungen, Verletzungen und Misshandlung

Von U2 bis U6 wird eine „Inspektion des ganzen Körpers in Rücken- und Bauchlage und aufrecht gehalten“ gefordert (zumindest bei U2 noch schwierig durchführbar). Von U7 bis U9 heißt es dann: „Inspektion des ganzen Körpers in Rücken- und Bauchlage, im Sitzen, von hinten und von den Seiten“. Dies soll das Übersehen misshandlungsverdächtiger Verletzungen minimieren. Die ärztliche Untersuchung muss mit einer Vielzahl von Unterpunkten dokumentiert werden. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Untersuchungstechniken (wie „Auskultation“), Befunden (wie „Einziehungen“) und Diagnosen (wie „Hernien“), die nur bei Auffälligkeiten angekreuzt werden.

Im Kindervorsorgeprogramm der Schweiz ist dies deutlich besser und übersichtlicher gelöst: Dort sind die zu erhebenden Befunde durch die Checklisten der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) klar und rational strukturiert vorgegeben ([Abb. 3]). Vorgegebene Kästchen werden bei Auffälligkeiten anders markiert als bei Normalbefunden. Bei fehlender Markierung gilt der Punkt als nicht erfragt bzw. nicht untersucht. Das System erscheint dadurch dokumentationssicherer als unseres, wo man bei fehlendem Kreuz nicht erkennen kann, ob der Befund unauffällig war oder versehentlich nicht erhoben wurde.

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Abb. 3 Die Checkliste der SGP für die U im Alter von 6 LM als Beispiel.(Quelle: Prof. Dr. med. Thomas Baumann, Solothurn – Checklisten für die Vorsorgeuntersuchungen nach den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie)

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U2 bis U9: Screening auf Augenfehlbildungen, Augenmotilitätsstörungen, Refraktionsfehler und Amblyopie

Für die Reifung eines normalen Sehvermögens sind neuronale Entwicklungsprozesse notwendig, die nur dann stattfinden, wenn in der Hirnrinde regelmäßig adäquate Reize ankommen. Störungen, die dies verhindern, führen zur Amblyopie, definiert als entwicklungsbedingte Sehstörung trotz optimaler oder optimal korrigierter optischer Verhältnisse. Da das Leitsymptom der Amblyopie die verminderte Sehschärfe und eine Visusbestimmung meist gegen Ende des 3. LJ möglich ist, kann auch erst dann eine Amblyopie diagnostiziert werden.

Merke

Eine Amblyopie ist zwar durch Entfernung des Sehhindernisses und Training des Auges behandelbar, aber je später die Behandlung beginnt, umso geringer die Reversibilität und größer der erforderliche Therapieaufwand.

Schwere Störungen der Netzhautabbildung müssen schon in den ersten Lebenswochen behandelt werden, um eine irreversible Amblyopie zu vermeiden. Daher ist die Früherkennung amblyogener Faktoren so wichtig [14]. Dazu dient der Brückner-Test, der mit der neuen Kinder-Richtlinie zum Pflichtbestandteil von U2 bis U7 wurde. Er muss mit einem direkten Ophthalmoskop durchgeführt werden. Bei U2 und U3 erfolgt eine „Prüfung im durchfallenden Licht“ an jedem Auge einzeln nur aus 10 – 30 cm Entfernung. Dies ist eine hervorragende diagnostische Möglichkeit, Trübungen der brechenden Medien zu erkennen, die im Auflicht einer Visitenlampe nicht sichtbar sind ([Abb. 4]); sie dient hier hauptsächlich zur Diagnose der konnatalen Katarakt, die ohne Operation frühzeitig zur irreversiblen Amblyopie und bis zur funktionellen Blindheit und zu irreversiblem Nystagmus führen kann. Um dies zu verhindern, muss die Operation einer konnatalen Katarakt sehr früh erfolgen.

Merke

Der V. a. eine Katarakt beim Neugeborenen und jungen Säugling ist ein ophthalmologischer Notfall und erfordert die sofortige Vorstellung beim Augenarzt.

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Abb. 4 Seitendifferenz im Brückner-Test aus 3 – 4 m Entfernung. Augenfachärztliche Abklärung und Therapie erforderlich.

Von U4 bis U7 wird der Brückner-Test aus der Ferne (3 – 4 m Abstand) und aus der Nähe (20 – 50 cm Abstand) durchgeführt und der in der Nähe rötliche, aus der Ferne helle Fundusreflex beider Augen seitengetrennt und aus der Ferne im simultanen Seitenvergleich beurteilt [14]. Ein verminderter Reflex kann verschiedene (insgesamt seltene, aber schwerwiegende) Ursachen haben:

  • Trübung der brechenden Medien

  • Pigmentstörung der Retina

  • intraokuläre Raumforderung

  • Netzhautablösung

Eine Seitendifferenz des Reflexes wird aber auch durch Anisometropie oder Strabismus verursacht. Eine Anisometropie ist schon bei einem Seitenunterschied des Brechkraftfehlers von 2 dpt gut erkennbar, ein Strabismus ab einem Schielwinkel von 6°. Die Pupille des stärker fehlsichtigen Auges leuchtet dann aus 3 – 4 m Entfernung weniger hell, während aus der Nähe keine Seitendifferenz besteht ([Abb. 4]). Bei dunkelhäutigen Kindern ist der Reflex infolge der stärkeren Pigmentierung des Augenhintergrunds abgeschwächt, so dass die Beurteilung schwieriger sein kann.

Ein Schielwinkel unter 6° (Mikrostrabismus) allein, also ohne Anisometropie, ist mit dem Brückner-Test meist nicht feststellbar, ebenso wenig mit einem der elektronischen Screening-Autorefraktometer, die zunehmend in pädiatrischen Praxen verwendet werden, aber nicht Bestandteil der U nach der Kinder-Richtlinie ist. Ein Mikrostrabismus stört die binokulare Kooperation und ist daher mit einem Stereotest erkennbar.

Der Einsatz eines elektronischen Screening-Autorefraktometers kann dennoch sinnvoll sein. Diese Geräte messen im Prinzip das gleiche wie der Brückner-Test, können aber eventuelle Schielwinkel, Ametropien und Astigmatismus quantifizieren und ist weniger vom Können des Untersuchers abhängig. Der Test kann bei Kindern mit familien- oder eigenanamnestischem Risiko für eine Sehstörung um den 1. Geburtstag angeboten werden, ansonsten um den 2. Geburtstag.

Risikofaktoren für eine Sehstörung sind in der Herkunftsfamilie Refraktionsfehler, Strabismus und potenziell erbliche Augenerkrankungen sowie beim Kind Frühgeburt, neurologische oder metabolische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und Auffälligkeiten der Augen auf Fotos (insbesondere fehlender oder seitendifferenter Rotreflex in frontalen Blitzlichtaufnahmen).

Merke

Vermuten die Eltern bei ihrem Kind eine Sehstörung, so muss das immer ernst genommen und eine Untersuchung durch einen Augenarzt veranlasst werden!

Natürlich muss bei jeder U ab U2 das Auge zusätzlich zum Brückner-Test auf morphologische Auffälligkeiten wie Ptosis, Kolobome und Bulbusgröße bzw. Hornhautdurchmesser sowie auf Nystagmus inspiziert werden. Laut Kinder-Richtlinie kommt von U4 bis U6 die Untersuchung der Blickfolge zur Detektion einer Fixationsschwäche hinzu, ab U6 Größe, Form und Lichtreaktion der Pupillen (sinnvoll ist das allerdings auch schon vorher), ab U7a die Symmetrie der Lichtreflexe auf der Hornhaut (Hirschberg-Test) sowie ab U6 die Beachtung einer Kopffehlhaltung im Sinne eines Torticollis ocularis als mögliches Zeichen angeborener Fehlinnervationssyndrome.

Bei U7a, U8 und U9 sind zusätzlich ein Stereotest und eine Visusbestimmung vorgesehen. Der Stereotest dient zur indirekten Aufdeckung manifesten Schielens. Zwar sind laut Kinder-Richtlinie Lang-Test 1 und 2, Titmus-Test (mit Polarisationsbrille und Fliege) und TNO-Test (mit Rot-Grün-Brille) erlaubt [4], aber der Lang-Test 1 sollte bevorzugt werden, da dessen Sensitivität höher ist als die der anderen Tests. Wenn die Stereogramme (Katze, Elefant, Auto) erkannt werden, ist manifestes Schielen sehr unwahrscheinlich. Werden sie nicht benannt oder gezeigt, kann eine Störung des Binokularsehens bestehen, oder die Mitarbeit des Kindes ist noch nicht ausreichend.

Beim Visustest soll die Abdeckung des nicht getesteten Auges nicht durch die Hand der Mutter oder gar des Kindes erfolgen, sondern durch ein Okklusionspflaster (für Untersuchungen weniger stark klebend verfügbar als für die Therapie) oder durch eine kindgerechte einseitig okkludierende Brille ([Abb. 5]). Interventionsgrenzen für den Visus werden vom G-BA nicht angegeben. Die Visusangaben sind kooperations- und entwicklungsabhängig. Wir verwenden als unteren Grenzwert für eine augenärztliche Abklärung bei U7a einen Visus von 0,3, bei U8 von 0,5 und bei U9 von 0,7. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Untersuchungsabstand laut G-BA 3 m beträgt. Die Sehtafeln des C-Tests sind auf einen Abstand von 5 m kalibriert. Daher sollten sie in dieser Entfernung verwendet werden. Bedeutsamer als der Absolutwert ist die Visusdifferenz zwischen beiden Augen. Bei einem Seitenunterschied von 2 Zeilen auf der Sehtafel und mehr soll auf jeden Fall eine augenärztliche Abklärung erfolgen.

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Abb. 5 Einseitig okkludierende kindgerechte Brillen für den monokularen Sehtest rechts und links.
Fallbeispiel

Sehstörung

Bei einem sonst gesunden und gut entwickelten Mädchen fällt bei der U9 eine beidseitige Visusminderung auf (0,5 im Lea-Hyvärinen-Test, untere Normgrenze 0,7). Im Lang-1-Stereotest hat sie Schwierigkeiten, die Figuren zu erkennen. Der Augenbefund ist ansonsten normal, die Hornhautreflexbildchen sind symmetrisch, Pupillenreaktion und Bulbusmotilität unauffällig. Der Brückner-Test war von U2 bis U7 unauffällig, der Visus bei U7a beidseits 0,3, bei U8 schon 0,5 (beides eben noch altersgerecht). Aufgrund der unzureichenden Visuszunahme von U8 zu U9 erfolgt die Vorstellung beim Augenarzt, dort werden die Befunde bestätigt. Die Skiaskopie ist unauffällig, erst in Zykloplegie demaskiert sich eine beidseitige Hyperopie von 4 Dioptrien, die das Kind eben noch akkommodativ kompensieren konnte. Nach Brillenversorgung bleibt der Visus unverändert (Zeichen einer leichten Amblyopie beidseits), steigt aber bis zum 6. Geburtstag bis auf 0,8 in den unteren Normbereich an. Eine irreversible Amblyopie konnte somit verhindert werden.


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U8: erneutes Hör-Screening nach Neugeborenen-Hör-Screening

Natürlich findet man mit Hörtests im Vorschulalter zahlreiche Kinder mit Schallleitungsschwerhörigkeiten (meist aufgrund von Paukenergüssen nach ggf. rezidivierender Otitis oder bei Adenoid- mit oder ohne Tonsillenhyperplasie etc.). Jedoch konnte gezeigt werden, dass diese bei normaler Sprach- und allgemeiner Entwicklung und fehlenden Verständigungsproblemen nicht therapiebedürftig und daher nicht Ziel eines Screenings sind [15].

Jedoch gibt es Innenohrschwerhörigkeiten und zentrale Hörstörungen, die sich erst nach dem Neugeborenen-Hör-Screening (NHS) manifestieren oder erworben werden. Außerdem werden mit dem NHS nicht alle Innenohrschwerhörigkeiten und zentralen Hörstörungen erfasst, und leider werden nicht 100% aller auffälligen Befunde bis zur Diagnose oder deren Ausschluss abgeklärt.

Merke

Daher stellt sich die Frage, ob und in welchem Alter ein erneutes Hör-Screening sinnvoll ist.

Leider gibt es zu dieser Frage nur eine einzige aussagekräftige Untersuchung: Sie kommt zu dem Ergebnis, dass man mit einer Audiometrie im Alter von 5 bis 6 Jahren unter 100 000 Kindern zusätzlich 34 Fälle von ein- oder beidseitigen persistierenden Hörverlusten von mehr als 20 dB im Jahr finden kann, die bis dahin weder im NHS noch durch klinischen Verdacht detektiert wurden [16]. Das sind bei der heutigen Geburtenrate in Deutschland etwa 250 Kinder pro Jahr. Allerdings findet genau in dem beschriebenen Alter bei vielen Kindern in Deutschland eine Schuleingangsuntersuchung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst mit einem Hörtest statt.

Dennoch verlangt die Kinder-Richtlinie nun eine Tonaudiometrie bei Kindern im Altern von 3½ bis 4 Jahren und 2 Monaten (Toleranzgrenzen der U8). Die Hörschwelle muss mit mindestens 5 Frequenzen und 4 Lautstärken geprüft werden (empfohlen werden 500, 1000, 2000, 4000, 6000 Hz, jeweils bei 20, 30, 40 und 50 dB). Das Screening gilt als auffällig, wenn auf mindestens einem Ohr bei 30 dB 2 oder mehr Frequenzen nicht gehört werden. Auch bei Senken im Tief-, Mittel- oder Hochtonbereich soll Konfirmationsdiagnostik erfolgen. Schon während der ersten Monate hat sich bei einer Untersuchung des BVKJ in pädiatrischen Praxen gezeigt, dass ca. 50% der Kinder bei U8 mit der Tonaudiometrie überfordert sind. Zuvor war der bei der U8 vorgesehene Hörtest nicht standardisiert und wurde meist als Sprachaudiometrie durchgeführt, was eher dem Entwicklungsstand bei U8 entsprach. Der Hörtest bei U9 ist komplett entfallen.

Fallbeispiel

Sprachentwicklungsverzögerung

Der bis dahin gesunde und normal entwickelte Junge fällt bei U7 auf, weil er erst wenige Wörter spricht. Alle übrigen Grenzsteine werden erreicht. Er wendet den Kopf zu Geräuschquellen wie dem Klingen eines Schlüsselbundes, zeigt benannte Körperteile und befolgt einfache Aufforderungen. Der körperliche Untersuchungsbefund ist unauffällig. Beim Neugeborenen-Hör-Screening waren die TEOAE beidseits normal. Die Diagnose „late talker“ wird gestellt. Die Eltern werden zur Sprachförderung beraten: Sprache nicht fordern, sondern anbieten; viel vorlesen und singen; sprachliche und nicht sprachliche Äußerungen des Kindes in einfacher Sprache wiederholen (z. B. das Kind zeigt auf ein Auto – die Eltern sagen: „Ja, da fährt ein rotes Auto“); Verniedlichungsformen wie „Becherchen“, „Näschen“, „Schühchen“ vermeiden (für Kinder sind das Zungenbrecher). Nach einem halben Jahr wird eine Entwicklungskontrolle vereinbart; das Kind spricht inzwischen einige Worte mehr. Bei U7a mit 3 Jahren ist die Sprachentwicklung normal.


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U8: Screening auf chronische Nierenerkrankungen

Eine Urinuntersuchung mit Mehrfachteststreifen diente bisher bei U8 und U9 zur Detektion einer Mikrohämaturie oder Proteinurie als Frühzeichen chronischer Nierenerkrankungen. Mit der neuen Kinder-Richtlinie ist die Untersuchung bei U9 entfallen und ist jetzt nur noch bei U8 Bestandteil des Früherkennungsprogramms. Ein Screening auf arterielle Hypertension wurde leider nicht eingeführt, obwohl eine Blutdruckmessung bei U9 mit wenig Aufwand gut funktionieren könnte.


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U2 bis U9: Screening auf Störungen von Wachstum und Gewichtsentwicklung

Zur Verlaufsdokumentation der somatischen Daten einschließlich des BMI dienen geschlechtsspezifische Perzentilenkurven am Ende des Heftes. Bei Über- oder Unterschreiten der Normgrenzen, aber auch bei Kreuzen der Perzentilenkurven muss eine Abklärung und ggf. Intervention erfolgen.

Fallbeispiel

Muskelhypotonie

Bei der U5 klagen die Eltern, ihr männlicher Säugling mache vieles noch nicht, was die anderen Babys in der PEKiP-Gruppe (Prager Eltern-Kind-Programm) schon machen. Der Junge liegt in Froschhaltung auf dem Rücken und bewegt sich relativ wenig. Beim Traktionsversuch fehlt die Armbeugung, die Kopfkontrolle ist unzureichend. Er kann sich nur mit Hilfe vom Rücken auf den Bauch drehen. In Bauchlage wird der Kopf nur wenig gehoben, Unterarmstütz ist kurz möglich, Handstütz nicht. PSR und ASR (Patella- und Achillessehnenreflexe) sind beidseits nicht auslösbar. Daraufhin wird nochmals die Zunge inspiziert: hier finden sich Faszikulationen. Das Kind wird in der Neuropädiatrie vorgestellt; dort wird die Verdachtsdiagnose SMA (spinale Muskelatrophie) Typ Werdnig-Hoffmann bestätigt und neben Physiotherapie eine intrathekale Therapie mit Nusinersen eingeleitet. Daraufhin macht der Junge gute Entwicklungsfortschritte. Die Langzeitprognose bleibt allerdings unklar. Der G-BA berät zurzeit über die Aufnahme der SMA ins Neugeborenen-Screening.


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U1 bis U9: Primärprävention

U2 bis U9: Beratung

Eine primärpräventive („antizipatorische“ oder „vorausschauende“) Beratung führt das Programm von der reinen Früherkennung zur echten Vorsorge. Die Themen sind vorgegeben (je nach Alter plötzlicher Kindstod, Ernährung, Vitamine, Spurenelemente, Impfungen, Unfälle, Suchtverhalten, Medien etc.). Nur von U2 bis U6 müssen die Eltern auf regionale Unterstützungsangebote (z. B. Frühe Hilfen) hingewiesen werden – sinnvoll ist dies sicher häufig auch noch später.


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U1 bis U3: Prophylaxe von Vitamin-K-Mangelblutungen

Nach Aufklärung des Vitamin-K-Mangels als Ursache hämorrhagischer Erkrankungen des Neugeboren im Jahr 1952 wurde 1961 in den USA die prophylaktische Gabe von 0,5 – 1 mg Vitamin K intramuskulär oder 1 – 2 mg oral eingeführt. Viele weitere Länder folgten. In den 1990er-Jahren kamen Sorgen bezüglich sehr hoher Vitamin-K-Spiegel in Blut und Leber nach parenteraler Gabe und möglichen Risiken der Injektion auf, sodass verschiedene alternative Schemata mit oraler Applikation entwickelt wurden. Üblich ist heute die Gabe von 2 mg oral bei U1, U2 und U3 [17].

Bei gesunden Neugeborenen ist dies der parenteralen Gabe von 1 mg postnatal gleichwertig. Schemata mit niedrig dosierten täglichen oder wöchentlichen Gaben sind jedoch nachweislich mit einem höheren Blutungsrisiko verbunden und werden daher nicht empfohlen. Für kranke Neugeborene und Frühgeborene, insbesondere bei Vorliegen intestinaler Resorptionsstörungen, ist die parenterale Gabe jedoch überlegen [17]. Applikationsmodus und Dosierung müssen im gelben Heft dokumentiert und geprüft werden.


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U1 bis U6: Rachitisprophylaxe

Vitamin D ist eigentlich kein Vitamin, sondern ein Prohormon, denn der größte Teil des Bedarfs wird unter UV-B-Einstrahlung in der menschlichen Haut gebildet und nur zu einem kleinen Teil mit der Nahrung aufgenommen (insbesondere aus fettem Seefisch, Eiern, Käse und Pilzen). Das Prohormon kann einige Monate gespeichert werden, wird in Leber und Niere zum aktiven Hormon metabolisiert und ist für die Regulation des Kalzium- und Phosphat-Haushalts sowie des Knochenstoffwechsels erforderlich. Muttermilch enthält nur wenig Vitamin D, künstliche Säuglingsnahrungen und Kindermilchen werden mit Vitamin D angereichert. Ohne zusätzliche Vitamin-D-Gabe würden in unseren Breiten ca. ⅙–⅓ aller Säuglinge eine Rachitis entwickeln, da sie noch nicht der Sonne ausgesetzt werden sollen. Sie sollen daher nach Abschluss der postnatalen gastrointestinalen Adaptation (in der Regel in der 2. LW) bis zum 2. erlebten Frühsommer täglich 500 IE eines Vitamin-D-Präparats erhalten. Ob dies als Tablette oder als Öl appliziert wird, ist unwesentlich.

Merke

Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g haben ein höheres Rachitisrisiko, weil sie in den ersten Lebensmonaten erheblich mehr Knochenmasse aufbauen müssen als gesunde Kinder. Sie benötigen daher höhere Vitamin-D-Supplemente (800 – 1000 IU/Tag).

Je älter die Kinder werden, desto größer wird die Rolle der Sonneneinstrahlung. Je nach Hauttyp und UV-Index reichen in unseren Breiten im Sommer 10 – 30 Minuten Sonneneinstrahlung pro Tag auf 10 – 25% der Haut (das entspricht etwa der halben Erythemdosis auf Gesicht, Händen und Unterarmen) für eine ausreichende Vitamin-D-Synthese aus. Steht die Sonne in den Wintermonaten tiefer, filtert die Atmosphäre einen Teil der UV-B-Strahlung aus. Nördlich des 51. Breitengrades (das entspricht der geografischen Breite von Leipzig) findet im Winter auch in exponierter Haut selbst an sonnigen Tagen keine Vitamin-D-Synthese statt; erst südlich des 44. Breitengrades (das entspricht der Lage von Sizilien) werden ganzjährig ausreichende Mengen von Vitamin D in der Haut synthetisiert. Dennoch kommt es dort nicht zu einer Überdosierung, da Vitamin D photosensibel ist und überschüssige Mengen in der Haut bei zu viel Sonneneinstrahlung wieder deaktiviert werden. Dies muss auch bei der Labordiagnostik berücksichtigt werden (Blutproben für Vitamin-D-Bestimmungen vor Licht schützen!).

In Deutschland haben Kinder und Jugendliche daher im Winter niedrige Vitamin-D-Spiegel. Bei Dunkelhäutigen und denjenigen, die nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt werden (z. B. bei Migranten aus bestimmten Kulturkreisen), sind sie besonders niedrig, teils auch ganzjährig. Aufgrund des altersspezifischen Essverhaltens ist die Erwartung unrealistisch, man könne das durch entsprechende Ernährung ändern. Ob die niedrigen Spiegel einen Mangel anzeigen oder von der Evolution so gewollt und somit physiologisch sind, kann nur spekuliert werden.

Vitamin-D-Mangel wird mit vielen Krankheitszuständen in Verbindung gebracht. Gesichert ist nur der Zusammenhang mit Infektanfälligkeit und Depressionsneigung. Vitamin-D-Spiegel-Messungen verursachen inzwischen neben der Schilddrüsendiagnostik die höchsten Kosten im Laborbereich; sie sind aber nur sehr selten sinnvoll! Sinnvoller und deutlich kostengünstiger ist es, bei V. a. einen Mangelzustand über den Winter oder – bei den genannten Populationen – ganzjährig 500 – 1000 IE Vitamin D täglich oder 20 000 IE alle 3 – 4 Wochen zu substituieren.

Merke

Bei erhöhtem Vitamin-D-Bedarf (z. B. unter Therapie mit bestimmten Antiepileptika) wird im Kindes- und Jugendalter generell eine Vitamin-D-Substitution empfohlen [18].

Fallbeispiel

Karies-Rachitis-Prophylaxe

Bei der U6 im Herbst werden die Eltern zur Fortsetzung der Karies-Rachitis-Prophylaxe über den Winter („bis zum 2. erlebten Frühsommer“) beraten. Dabei stellt sich heraus, dass Hebamme und Zahnarzt von der Gabe von Fluorid abgeraten und die Eltern die Tabletten mit Vitamin D und Fluorid nach der U5 abgebrochen hatten. Rachitiszeichen finden sich nicht, die 4 oberen und die 2 inneren unteren Schneidezähne sind durchgebrochen und unauffällig. Da die Eltern keine systemische Fluoridgabe wünschen, werden täglich 500 IE Vitamin D als Öl oder Tablette ohne Fluorid verordnet und angeraten, die Zähne des Kindes einmal täglich mit einer reiskorngroßen Menge Kinderzahnpasta mit 500 ppm Fluorid zu putzen. Außerdem wird eine Vorstellung beim örtlichen Kinderzahnarzt zur zahnärztlichen Früherkennungsuntersuchung empfohlen.


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Kariesprophylaxe

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ) befürwortet die systemische Fluoridierung mit Tabletten, da Zahnpasta von Kindern bis ins 5. LJ hinein meist noch verschluckt wird, aber als Kosmetikum nicht für den Verzehr geeignet ist [19]. Das Ausspucken der Zahnpasta lernen gesunde Kinder meist erst im Lauf des 5. LJ.

Hingegen befürwortet die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten e. V. (DGZMK) die lokale Fluoridierung mittels Zahnpasta vom 1. Zahn an, weil sie die systemische Fluoridierung für unwirksam hält und keine Gefahren durch das Verschlucken von Zahnpasta sieht [19].

Das einzige Risiko beider Methoden der Fluoridzufuhr liegt in der Fluorose der bleibenden Zähne und der Knochen. Die Häufigkeit von leichten Formen der Fluorose wird in der zahnärztlichen Literatur mit ca.10 – 20% der Bevölkerung angegeben [20]. Diese Zahl erscheint uns Pädiatern sehr hoch, weil sie kaum als störend wahrgenommen wird und harmlos ist; schwere Formen der Fluorose sind äußerst selten geworden. Das Fluoroserisiko erscheint niedriger bei Applikation als Tablette, weil es bei Zahnpasta schnell Dosierungsfehler geben kann. Jedoch hat das Bundesinstitut für Risikobewertung in Deutschland 2018 keine Belege für Unterschiede in der Wirksamkeit und Sicherheit der beiden Applikationswege gefunden. Insgesamt ist die Studienlage sehr dürftig [20].

Wahrscheinlich wirken sowohl systemische als auch lokale Fluoridapplikation vornehmlich über eine Erhöhung der Fluoridkonzentration im Speichel. Der Zahnschmelz wird bei niedrigem pH während und nach Essen und Trinken demineralisiert und in den Nahrungspausen wieder remineralisiert; ist der Speichel fluoridhaltig, wird vermehrt Fluorapatit in den Zahnschmelz eingebaut, das kariesresistenter ist als Hydroxylapatit.


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U3 bis U9: Impfberatung

Bei U3 müssen die Eltern oder Betreuungspersonen über die anstehenden Impfungen informiert werden. Grundlage dafür ist nicht die aktuelle STIKO-Empfehlung, sondern die Schutzimpfungsrichtlinie des G-BA (SI-RL), die die Kostenübernahme von Impfungen für gesetzlich Versicherte (auch Kinder) regelt. Sie tritt nach Änderung der STIKO-Empfehlung mit einer Verzögerung von meist ca. 3 – 6 Monaten in Kraft. Für privat Versicherte gilt die STIKO-Empfehlung ab Veröffentlichung als medizinischer Standard. Die meisten privat versicherten Kinder sind jedoch Kinder von Lehrern und anderen Beamten, die über die Beihilfe versichert sind. Die Beihilfe orientiert sich bei ihrer Kostenübernahme an der SI-RL.

Ab U4 beinhaltet jede U eine Überprüfung des Impfstatus auf altersgemäße Vollständigkeit nach der SI-RL, eine Beratung der Eltern zum Impfstatus und das Angebot, anstehende oder nachzuholende Impfungen durchzuführen.


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U2 bis U9: Ergebnisse

Zum Abschluss jeder U werden die relevanten Ergebnisse zusammengefasst: anamnestische Auffälligkeiten, Körpermaße, Auffälligkeiten zur Beobachtung und ggf. die Vereinbarung weiterer Maßnahmen (ganz im Sinne eines Screenings, das zunächst Auffälligkeiten liefert und ggf. eine Konfirmationsdiagnostik fordert).

Es folgt der Verweis zur zahnärztlichen Frühuntersuchung und -beratung, von U2 bis U5 eine Überprüfung, ob die speziellen FU durchgeführt sind, von U4 bis U9 die Überprüfung des Impfstatus auf Vollständigkeit sowie weitere Terminvereinbarungen.


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Inanspruchnahme von U2 bis U9

In Deutschland gibt es keine Pflicht zur Wahrnehmung von Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen. Die Teilnahmeraten für die einzelnen U lagen Anfang des Jahrtausends für die U3 etwas über 95%, fiel aber bis zur U9 auf ca. 86% ab. Dann wurden in zahlreichen Bundesländern Wege beschritten, die Inanspruchnahme zu erhöhen, meist mit unterschiedlich aufgebauten Melde- und Erinnerungssystemen, die letztlich darauf hinauslaufen, dass Familien, deren Kinder nicht zur U gebracht werden, vom öffentlichen Gesundheitsdienst oder der Jugendhilfe kontaktiert werden. Dies hat zu einem deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme geführt: Sie liegt jetzt für die U3 bei 98 – 99% und für die U9 immerhin noch um 95%.


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Fazit für die Praxis

Leider gibt es im Gegensatz zu den laborchemischen und technischen Elementen für die Effektivität der klinischen Elemente der U nur sehr wenig Evidenz. Auch fehlen häufig klare evidenzbasierte Interventionsgrenzen und Pfade für die Konfirmationsdiagnostik. Hier ist eine verbesserte Versorgungsforschung dringend erforderlich, insbesondere vor Einführung neuer Elemente. Klare und einfache Strukturen mit wenigen, dann aber positiven und negativen Angaben würde das Programm anwendungsfreundlicher und sicherer machen. Eine elektronische Dokumentationsmöglichkeit könnte die notwendige Doppeldokumentation in einem Untersuchungsheft für die Eltern und in der Arztpraxis stark vereinfachen und uns die Arbeit in den Praxen erleichtern.


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Kernaussagen
  • Gesundheitsförderung richtet sich nicht auf die Verhinderung bestimmter Krankheiten, sondern auf die Förderung der Gesundheit („Salutogenese“).

  • Primäre Prävention will das Auftreten bestimmter Gesundheitsstörungen verhindern (Rachitis, Karies, Unfälle, Übergewicht, Arteriosklerose etc.)

  • Sekundäre Prävention will bestehende Krankheiten erkennen, um das Auftreten von Krankheitssymptomen zu verhindern oder die Prognose zu verbessern. Ein Screening ist nur dann gerechtfertigt, wenn spezifische Kriterien erfüllt sind.

  • Tertiäre Prävention will die Verschlechterung chronischer Krankheiten verhindern, quartäre Prävention will Folgeschäden zu vermindern.

  • Welche Präventionsmaßnahmen für Kinder von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden, regelt die Kinder-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA).

  • Laut Kinder-Richtlinie werden von der Geburt bis zum 6. Lebensjahr 10 Früherkennungsuntersuchungen mit primärpräventiver Beratung angeboten. Die Teilnahmerate liegt nach Welle 2 der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) bei 98 – 99,7% [21].

  • Für Neugeborene und Säuglinge werden Screening-Tests auf kritische angeborene Herzfehler, Hormon-, Stoffwechsel- und Immunstörungen, Hörstörungen und Hüftdysplasien empfohlen.

  • Ziele sind das Erkennen von Fehlbildungen und Erkrankungen, psychosozialen Belastungen, Störungen der Eltern-Kind-Interaktion, der somatischen und psychomotorischen Entwicklung, des Hörens und Sehens sowie von Gefährdung des Kindeswohls.

  • Ein weiteres Ziel ist die Minimierung altersspezifischer Risiken durch primärpräventive Beratung der Eltern.

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Burkhard Lawrenz, Arnsberg.


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Autorinnen/Autoren

Burkhard Lawrenz

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Dr. med., Jahrgang 1957. 1975 – 1982 Studium der Medizin (Universität des Saarlandes, CAU Kiel, JGU Mainz). 1983 – 1989 Assistenzarzt. 1989 Facharzt, bis 1995 Oberarzt Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkte Kinderonkologie und Neonatologie. 1991 Promotion (GAU Göttingen). 1995 – 1998 Leiter einer Kinder-Reha-Klinik in Bad Oeynhausen. Seit 1999 Kinder- und Jugendarzt in Arnsberg/Westfalen, Schwerpunkt Prävention/Impfungen.

Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.).; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Mitgliedschaft in BVKJ, DGAAP und DGKJ. Sprecher im Ausschuss Prävention des BVKJ.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Burkhard Lawrenz
Privatpraxis für Kinder- und Jugendmedizin
Grafenstr. 80
59821 Arnsberg


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Abb. 1 Diagnose kritischer konnataler Herzvitien. Grün: Diagnose durch pränatale Sonografie (60%). Petrol: Diagnose durch postnatale klinische Untersuchung (20%). Blau: Diagnose durch Pulsoxymetrie-Screening (16%). Curry: Mit allen 3 Methoden nicht erkannt (4%).
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Abb. 2 Die Stuhlfarbenkarte sollte den Eltern bei der U2 mit nach Hause gegeben werden, damit entfärbte Stühle noch vor U3 pädiatrisch abgeklärt werden können.
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Abb. 3 Die Checkliste der SGP für die U im Alter von 6 LM als Beispiel.(Quelle: Prof. Dr. med. Thomas Baumann, Solothurn – Checklisten für die Vorsorgeuntersuchungen nach den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie)
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Abb. 4 Seitendifferenz im Brückner-Test aus 3 – 4 m Entfernung. Augenfachärztliche Abklärung und Therapie erforderlich.
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Abb. 5 Einseitig okkludierende kindgerechte Brillen für den monokularen Sehtest rechts und links.