Hebamme 2019; 32(03): 12-21
DOI: 10.1055/a-0893-8500
Geburt
Teil 1 der Serie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Betreuung von Frühgeborenen und Neugeborenen mit Erkrankungen von Schwangerschaft bis Wochenbett

Oda von Rahden
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Korrespondenzadresse

Klinikum Oldenburg
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin – Elisabeth-Kinderkrankenhaus
Dr. Oda von Rahden
Rahel-Straus-Straße 10
26133 Oldenburg

Publication History

Publication Date:
27 June 2019 (online)

 

Wird ein Kind zu früh oder krank geboren, stürzt dies die Eltern in eine akute Krise, die von Ängsten, Sorgen und Unsicherheiten gekennzeichnet ist [7]. Dies beeinflusst gravierend den Verlauf des Wochenbettes und den Bindungsaufbau zwischen Mutter / Eltern und Kind. Für eine optimale Betreuung müssen die besonderen Umstände des Wochenbetts nach einer Frühgeburt oder der Geburt eines kranken Kindes betrachtet werden. Teil 1 der Serie vermittelt Hintergrundwissen und Praxiserfahrung von der Schwangerschaft bis zur Geburt.


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Abb. 1 Die Schwangerschaft, Geburt und erste Zeit mit einem frühgeborenen oder kranken Kind stellt eine besondere Herausforderung für Eltern dar. Dieses Kind kam in der 26. SSW zur Welt, das Bild zeigt es am fünften Lebenstag. (Foto: privat [rerif])

Hintergrund

Im Gegensatz zu einem reif geborenen oder gesunden Kind wird ein zu früh oder krank geborenes Kind – in Abhängigkeit vom Schweregrad – mehr oder minder lange stationär behandelt. Dies zieht in der Regel erhebliche Belastungen für die gesamte Familie nach sich. Neben der Sorge um die Gesundheit betrifft dies auch den organisatorischen und finanziellen Aufwand, den es für Familien bedeuten kann, das Kind in der Klinik zu begleiten. Die individuelle Lebenslage der betroffenen Familie kann eine Ressource sein und viele unterstützende Faktoren bieten. Es können jedoch auch diverse ungünstige Einflussfaktoren vorliegen, die die Bewältigung dieser Herausforderungen erschweren. Dies gilt gleichermaßen für die Geburt eines kranken oder behinderten Kindes wie für die Geburt eines Frühgeborenen. Auch wenn sich folgende Ausführungen auf die zu frühe Geburt eines Kindes beziehen, sind sie ebenso auf die Geburt eines kranken Babys übertragbar.

Prävalenz

Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten die Rate der Frühgeburten stetig angestiegen war, liegt sie seit einigen Jahren relativ konstant bei 9 % [1]. Das bedeutet, dass in Deutschland jedes Jahr, trotz aller geburtsmedizinischen Bemühungen, rund 60.000 Kinder vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. Hebammen treffen somit im Rahmen der Wochenbettbetreuung immer wieder auf Wöchnerinnen mit zu früh geborenen Kindern.


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Ursachen

Die Ursachen für eine Frühgeburt sind vielfältig und bis heute nicht abschließend geklärt [24]. So sind Frühgeburten eine Folge von vorzeitigen Wehen oder vorzeitigem Blasensprung sowie von indizierten Geburtseinleitungen aufgrund von mütterlichen oder fetalen Erkrankungen. Der Anstieg von Frühgeburten wird von Geburtsmedizinern mit der Zunahme von Mehrlingsschwangerschaften, bedingt durch Sterilitätsbehandlungen, sowie mit vermehrten vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigungen aufgrund medizinischer Indikationen erklärt [24].


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Definition und Klassifikation

Die WHO unterteilt Frühgeborene in Abhängigkeit vom Gestationsalter in drei Kategorien [26]:

  • Extremely preterm < 28 SSW

  • Very preterm 28 - <32 SSW

  • Moderate or late preterm 32 - 37 SSW

Die international verwendete Klassifikation nimmt demgegenüber eine Einteilung nach Geburtsgewicht vor, was eine Unterscheidung von Kindern mit niedrigem Gestationsgewicht und -alter allerdings nicht mehr zulässt:

  • LBW (low birth weight) < 2500g

  • VLBW (very low birth weight) < 1500g

  • ELBW (extremely low birth weight) < 1000g

Die Bundesauswertung der Geburtshilfe unterteilt ihre Daten sowohl nach Gestationsalter (gemäß WHO-Einteilung) als auch nach Geburtsgewicht [1] [13].


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Medizinische Versorgung von Frühgeborenen in Deutschland

Die Überlebenschancen zu früh geborener Kinder haben sich aufgrund von Fortschritten in der Perinatalmedizin in den vergangenen Jahrzehnten stark verbessert. Ursächlich hierfür sind neben der verbesserten vorgeburtlichen Überwachung die Förderung der kindlichen Lungenreife mittels Surfactantpräparaten sowie differenzierte Beatmungstechniken. Neben diesen Faktoren kommt der Zentralisation der Behandlung in Perinatalzentren eine große Bedeutung zu [21] [9]: Zur Gewährleistung einer optimalen Behandlungsqualität von Frühgeborenen wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ein Stufenkonzept für Perinatalzentren entwickelt. Dieses regelt, welche Kriterien Perinatalzentren zur Versorgung von Früh- und Neugeborenen oder von sehr kleinen Frühgeborenen erfüllen müssen. Hierzu zählen sowohl die personelle Aufstellung und technische Ausstattung als auch räumliche Voraussetzungen. Seit der jüngsten Überarbeitung sieht der Beschluss die in [Tab. 1] dargestellte Einteilung der Versorgungsstufen vor [8]. Mit dem Stufenkonzept soll sichergestellt werden, dass z. B. Erfahrung, Expertise, optimale medizinische, pflegerische und psychosoziale Versorgung gewährleistet sind. Jedoch geht diese Zentralisierung zulasten einer wohnortnahen Versorgung und stellt die Eltern vor weitere Probleme.

Tab. 1

Einteilung der geburtshilflichen Versorgungsstufen

Versorgungsstufe

Bezeichnung

Aufnahme- / Zuweisungskriterien

I

Perinatalzentrum Level I

  • geschätztes Geburtsgewicht < 1250g oder < 29 + 0 SSW

  • pränatal diagnostizierte Fehlbildung, die postpartal intensivmedizinische Behandlung erfordert (z. B. Herzfehler, Gastroschisis, Zwechfellhernie)

II

Perinatalzentrum Level II

  • geschätztes Geburtsgewicht 1250–1499g oder 29 + 0 - 31 + 6 SSW

  • schwere schwangerschaftsassoziierte Erkrankung (z. B. HELLP)

  • Wachstumsretardierung des Feten < 3. Perzentile

III

Perinataler Schwerpunkt

  • geschätztes Geburtsgewicht ab 1500g oder 32 + 0 - 35 + 6 SSW

IV

Geburtsklinik

  • ab 36 + 0 SSW

Quelle: GBA 2013 [8]


Folgen der zentralen Versorgung für die Familien

Die Einzugsgebiete von Level-1-Zentren sind vor allem in Flächenstaaten sehr groß. Die Wohnorte der Familien von sehr früh, klein oder krank geborenen Kindern liegen somit in einem weiten Umkreis. Die stationäre Behandlung dieser Kinder umfasst in der Regel einen Zeitraum bis kurz vor oder um den eigentlichen Geburtstermin und dauert demzufolge einige Wochen oder Monate. Daher müssen häufig gerade die Eltern, deren Babys einen besonders langen Krankenhausaufenthalt vor sich haben, große Entfernungen zu ihrem Kind – mitunter über 100 km bis zum nächstgelegenen Perinatalzentrum – bewältigen. Wohnortnahe Rückverlegungen sind meist erst nach einigen Wochen möglich und bedeuten für die Familien nicht zwangsläufig eine Entlastung, da sie sich in der heimatnahen Klinik wieder neu zurechtfinden und Vertrauen zum Personal erneut aufbauen müssen.

Die räumliche Trennung zwischen Wohnort und Frühgeborenenstation stellt, neben beruflichen Verpflichtungen und / oder der Betreuung von Geschwisterkindern, ein wesentliches Hindernis für Eltern dar, ihrem Frühgeborenen nahe zu sein [17]. Eine regelmäßige Anwesenheit beim Kind ist jedoch Grundvoraussetzung für den Aufbau der Eltern-Kind-Bindung. Für eine komplikationslose Entwicklung des Frühgeborenen spielt der Bindungsaufbau eine sehr wichtige Rolle, sodass die elternzentrierte Pflege inzwischen einen anerkannten Bestandteil der medizinischen Versorgung zu früh geborener Säuglinge darstellt [4] [2].


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Betreuung während der Schwangerschaft und Geburt

Verlegung ins Perinatalzentrum

Gemäß GBA-Beschluss werden schwangere Frauen mit zu erwartender Frühgeburt, sofern noch möglich, bereits vor der Geburt in ein Perinatalzentrum des entsprechenden Versorgungslevels verlegt [8]. Hierdurch sollen riskante Nottransporte der zu früh geborenen Kinder vermieden werden. In Abhängigkeit von der jeweiligen Schwangerschaftskomplikation schließt sich für die schwangere Frau nun ein unter Umständen einige Wochen dauernder stationärer Aufenthalt an. Liegt das Perinatalzentrum in größerer Entfernung zum Heimatort, durchlebt das Paar bzw. die Familie diese Zeit mit all ihren Sorgen und Ängsten mehr oder weniger getrennt. Die Schwangere lebt, aufgrund der jederzeit drohenden Frühgeburt, in ständiger Sorge um ihr Kind. Liegt eine mütterliche Komplikation vor, z. B. Präeklampsie oder Infektion, kommt zur Sorge um das Kind die Sorge um die eigene Gesundheit hinzu. Es wird von Tag zu Tag und von Woche zu Woche gezählt. Besonders prekär wird diese Phase erlebt, wenn die Komplikationen in den Schwangerschaftswochen auftreten, in denen sich das Kind an der Grenze zur Lebensfähigkeit befindet. In Deutschland liegt diese derzeit bei der 23. SSW [3].

INFO

Aufgaben des interdisziplinären Teams im Perinatalzentrum

  • Vorbereitung auf die Geburt (Hebammen)

  • Physiotherapie aufgrund der langen Liegezeit

  • Überwachung Zustand Mutter und Kind (Hebammen, GynäkologIn, PränatalmedizinerIn)

  • Förderung Mutter-Kind-Bindung (Hebammen, PsychologIn)

  • Beratung zu sozialen Aspekten (SozialarbeiterIn)

  • Emotionale Stabilisierung durch psychologische Betreuung


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Psychosoziale Beratung

Gelingt es, die Schwangerschaft noch über einen längeren Zeitraum zu erhalten, hat die Schwangere die Möglichkeit, sich mit dem frühzeitigen Ende der Schwangerschaft auseinanderzusetzen und auf die Geburt vorzubereiten. Immer mehr Kliniken bieten risikoschwangeren Patientinnen Beratungsgespräche und / oder eine psychosoziale Begleitung (z. B. durch Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Pflegekräfte mit Casemanagementausbildung bzw. Weiterbildung als Elternberaterin) an.

Die Beratungsinhalte variieren je nach Schwangerschaftswoche und behandeln in erster Linie Fragen zum Geburtsmanagement und Vorgehen bei einer Frühgeburt:

  • Wie erfolgt die Vorbereitung auf Spontangeburt und Sectio?

  • Was wird bei der Erstversorgung des Kindes gemacht?

  • Wann kann ich / mein Mann das Kind sehen?

  • Wann werde ich mein Kind in den Arm nehmen können?

  • Welche Probleme werden zu erwarten sein und wie werden sie behandelt?

  • Auf welcher Station wird mein Kind sein?

Manche Kliniken bieten den Eltern vor der Geburt eine Besichtigung der neonatologischen Intensivstation an. In anderen Kliniken besuchen Pflegekräfte der neonatologischen Intensivstation Risikoschwangere und erklären anhand von Fotos und Anschauungsmaterialien (z. B. Magensonde, CPAP-Maske) die zu erwartende Behandlung des Frühgeborenen.

Die psychosoziale Betreuung gewinnt in deutschen Perinatalzentren zunehmend an Bedeutung und wird vom GBA als Qualitätskriterium gefordert [8]. Im Rahmen der psychosozialen Begleitung thematisieren die Frauen Ängste und Sorgen in Bezug auf die drohende Frühgeburt ebenso wie andere Belastungen aus dem häuslichen Umfeld oder Insuffizienz- und Schuldgefühle. Zur Umsetzung des GBA-Beschlusses entwickeln einstweilen viele Perinatalzentren eigene Konzepte für die psychosoziale Begleitung [6] [10] [25] [18].


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Mangelnde Möglichkeit zur Vorbereitung

Die Möglichkeit, sich emotional auf eine zu frühe Geburt vorzubereiten haben allerdings nur die Schwangeren, die bereits präpartal eine längere Zeit stationär im Perinatalzentrum verbringen. Viele Frühgeburten ereignen sich jedoch relativ plötzlich, sodass die Schwangere bzw. das Paar wenig oder keine Gelegenheit hat, sich damit auseinanderzusetzen. In manchen Fällen verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Schwangeren oder des Ungeborenen so rapide, dass von der Diagnosestellung der Schwangerschaftserkrankung bis zur Entscheidung zur vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft nur wenige Tage oder Stunden liegen (z. B. bei HELLP-Syndrom, Infektion, Plazentainsuffizienz). Im Falle einer Notsectio kann die Schwangere sich überhaupt nicht auf die zu frühe Geburt vorbereiten, was in der Regel traumatisch erlebt wird [14].

Merke

Viele Risikoschwangere erfahren neben der rein medizinischen Versorgung eine psychosoziale Begleitung. Dennoch bleibt eine Frühgeburt für viele Betroffene in Anbetracht ihrer existenziellen Ängste und Sorgen eine gravierende psychische Belastung oder wird sogar als ein traumatisches Ereignis erlebt.


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Problemlage von Eltern frühgeborener Kinder

Eine Frühgeburt stellt für Eltern immer eine absolute Krisensituation dar. Der Geburtsablauf hat kaum etwas gemein mit den Vorstellungen und Wünschen, die Eltern in Bezug auf die Geburt ihres Kindes haben.

Sectio und frühe Trennung von der Mutter

Laut Bundesauswertung Geburtshilfe wurden 2014 drei Viertel aller Kinder in Deutschland mit einem Geburtsgewicht von unter 1500g per Sectio geboren [1]. Die Mutter nimmt die plötzliche Trennung vom Kind als völlig fremdbestimmt wahr. Zudem fehlt ihr trotz Spinalanästhesie das „normale“ Geburtserleben. Der vorgeburtliche Bondingprozess wird zwangsläufig abgebrochen [15].


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Schuld- und Insuffizienzgefühle

Die Geburt markiert einen tragischen Meilenstein – das verfrühte Ende der Schwangerschaft und der ebenfalls verfrühte Beginn der Elternschaft. Die mit der Frühgeburt einhergehende Dramatik wird als existenzielle Bedrohung wahrgenommen, bei der es letztlich um das Überleben von Mutter und Kind geht. Hinzu kommen Gefühle der Schuld und Unzulänglichkeit, weil der eigene Körper das Baby nicht länger austragen konnte. Eltern berichten, dass sie sich während der ersten Tage nach der Frühgeburt wie betäubt oder erstarrt gefühlt und dass sie Mühe gehabt hätten, Informationen aufzunehmen. Weiterhin litten sie unter starken Selbstzweifeln und einer physiologischen Übererregbarkeit [20].


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Posttraumatische Belastungsstörung

Eltern können als Reaktion auf das Erlebte eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln [28]. Eine PTBS ist eine psychologische Reaktion auf eine physische oder psychische Bedrohung, die auftritt, wenn die betroffene Person mit der Bewältigung des Erlebten überfordert ist. Folge sind psychische Beeinträchtigungen, wie Depressionen, Angstzustände, Albträume oder Flashbacks (Intrusionen). Das Auftreten einer PTBS hängt in erster Linie von der individuellen Bewertung der Frühgeburt als Bedrohung und von den persönlichen Ressourcen sowie Bewältigungsstrategien ab. Daher kann auch eine objektiv komplikationsarme Frühgeburt traumatisch erlebt werden.

Psychische Beeinträchtigungen nach einer als traumatisch erlebten Frühgeburt sind individuell sehr verschieden – sowohl bezüglich der Symptomatik als auch der Dauer [27]. In einigen Fällen klingen die Beeinträchtigungen nach einigen Wochen wieder ab, bei anderen bleiben die Beschwerden unbehandelt über Monate bis Jahre bestehen.

STUDIE

Auch beim Vater steigt das Risiko für Wochenbettdepression

Nach einer Frühgeburt besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Wochenbettdepression [23] [5]. Zu diesem Ergebnis kamen Helle et al. bei ihrer Untersuchung im Rahmen der HaFEN-Studie. Sie verglichen Hamburger Eltern von Säuglingen mit einem Geburtsgewicht < 1500g (VLBW) und Eltern von reifen Neugeborenen. Dabei kamen sie zum Ergebnis, dass das Risiko einer (Wochenbett-)Depression bei Geburt eines VLBW-Babys für die Mütter 4–18x und für die Väter 3–9x höher lag als bei Müttern und Vätern reif geborener Kinder [12]. Dies weist darauf hin, dass beide Elternteile ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Depression haben. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass nicht nur die emotionale Situation der Mutter, sondern auch die des Vaters mehr berücksichtigt werden sollte.


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Auswirkungen auf den Bondingprozess

Die körperliche und seelische Verfassung der Wöchnerin nach einer Frühgeburt ist denkbar ungünstig, um die für das nachgeburtliche Bonding erforderliche geistige Offenheit und freudige Neugier aufzubringen. Hinzu kommt, dass aufgrund der Sectio und medizinischen Erstversorgung des Neugeborenen der erste Kontakt zum Kind meist erst Stunden nach der Geburt stattfindet. Dieser ist dann in der Regel sehr eingeschränkt, das Kind darf meist zwar berührt werden, ein Haut-zu-Haut-Kontakt ist bei sehr kleinen Frühgeborenen allerdings noch kaum möglich. Die Atmosphäre der neonatologischen Intensivstation überfordert die Eltern und befeuert ihre Ängste zusätzlich. Das nachgeburtliche Bonding – als Beginn des Bindungsaufbaus – ist unter diesen Umständen massiv beeinträchtigt [16].


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Beeinträchtigte Eltern-Kind-Bindung

Das Frühgeborene sendet keine für die Eltern erkennbaren Bindungssignale aus. Als Folge der Unreife sind seine Interaktionsmöglichkeiten stark eingeschränkt und es reagiert nicht wie ein reifes Neugeborenes auf Ansprache und Berührungen durch die Eltern. Diesen erscheinen ihre Bemühungen der Kontaktaufnahme, die aufgrund der medizinischen Versorgung erschwert ist, häufig als sinnlos. Statt bei den Eltern liegt das Frühgeborene in einem Inkubator, hat zur Herz-Kreislauf-Überwachung, Ernährung und ggf. Beatmung diverse Kabel und Schläuche am Körper. Dieser Anblick wirkt auf Eltern sehr beängstigend und verunsichernd und hemmt sie stark. Aufgrund seiner Größe wirkt das Kind besonders zart und verletzlich und es entspricht nicht den Wunschvorstellungen der Eltern.

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Abb. 2 Lebenserhaltende Maßnahmen statt Bonding: Inkubatoren auf einer neonatologischen Intensivstation. (Foto: O.v. Rahden [rerif])

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Sorge um kindliche Gesundheit

Die Sorge der Eltern hängt unmittelbar vom Gesundheitszustand und der Prognose des Frühgeborenen ab [15]. Unter ungünstigen Umständen wird ihr gesamter Lebensentwurf in Frage gestellt. Treten in den ersten Lebenstagen Komplikationen auf, können diese chronische Erkrankungen oder schwerwiegende Behinderungen zur Folge haben. Eine genaue Prognose zu deren Ausprägung können Neonatologen in dieser frühen Phase nicht geben, sodass Eltern für die nächsten Wochen und Monate mit dieser Unsicherheit leben müssen. Hinzu kommt bei den Eltern Trauer, denn es ist zu erahnen, dass das zukünftige Leben als Familie sich anders gestalten wird, als gewünscht und erhofft.

INFO

Unterschiedliches Erleben der Mütter und Väter

Während der mehrere Wochen oder Monate dauernden Phase der stationären Behandlung des Frühgeborenen bleibt das Belastungsniveau der Eltern hoch. Es wird entscheidend beeinflusst vom gesundheitlichen Entwicklungsverlauf des Kindes sowie von individuellen Stressoren, aber auch Ressourcen der Eltern. Diese Zeit wird von den Müttern und Vätern erfahrungsgemäß unterschiedlich erlebt.

Väter konzentrieren sich stärker auf organisatorische und technische Aspekte, z. B. die Anmeldung des Kindes bei Standesamt und Krankenkasse, oder auf medizinische Details, z. B. der intensivmedizinischen Behandlung ihres Kindes. In ihrem Streben nach einer Verbesserung der Situation suchen sie sich Tätigkeitsfelder, in denen sie sich aktiv um Lösungen bemühen und ihren Partnerinnen „den Rücken frei halten“ können. Sarimski stellte fest, dass Väter ihr Kind positiver beurteilten als die Mütter und dass ihr aktives Verhalten der Stabilisierung des familiären Gleichgewichts diente [20].

Mütter von Frühgeborenen sind hingegen durch Sorgen und Ängste um das Kind und das fehlende Bonding nach der Geburt vielfach stark verunsichert und emotional labil. Im Unterschied zu Müttern reif geborener Kinder empfinden sie kaum Gefühle von Stolz und Vertrauen in das Kind und haben weniger mütterlich-fürsorgliche Impulse [22]. Die ersten Besuche auf der Intensivstation kosten Überwindung, da der Anblick des Frühgeborenen und die Atmosphäre der Station große Trauer und Angstgefühle auslösen können. Mit den angstauslösenden Reizen wiederholt konfrontiert zu werden, erschwert die emotionale Verarbeitung der als traumatisch erlebten Geburt und kostet die Frau erheblichen Kraftaufwand. Die intensivmedizinische Behandlung macht es ihr anfangs unmöglich, das Kind selbst zu versorgen. Dies führt zusätzlich zu Gefühlen der Unzulänglichkeit, da sie sich in ihren mütterlichen Kompetenzen als unzureichend wahrnimmt und somit den (eigenen) Ansprüchen an eine „gute Mutter“ nicht genügen kann.

Die Wöchnerin ist gefordert, sich im Klinikalltag zurechtzufinden. Um die Laktation ausreichend anzuregen, sollte sie achtmal am Tag Milch abpumpen und dies zeitlich mit den Besuchen der Frühgeborenenstation abstimmen. Diese richten sich nach den Versorgungszeiten des Kindes. Die Koordination des weitestgehend fremdbestimmten Tagesablaufs stellt eine große Herausforderung dar. Die Mutter erlebt sich als hilflos in einem Strudel treibend. Sie scheint auf die Erfordernisse nur reagieren, diese aber nicht selbst gestalten zu können. Ihre eigenen Bedürfnisse nimmt sie kaum wahr bzw. stellt sie – in Anbetracht des leidenden Frühgeborenen – komplett zurück.

Diese geschlechtsstereotypen unterschiedlichen Verhaltens- und Verarbeitungsweisen von Mutter und Vater sind nicht unbedingt Ausdruck eines konservativen Familienbildes. Vielmehr erweisen sie sich als sinnvoll zur Bewältigung dieser kritischen Lebensphase. Die mütterliche Emotionalität ermöglicht, trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen, die Aufnahme der Mutter-Kind-Bindung, während die Aktivitäten des Vaters der familiären Absicherung dienen [27].


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Handlungsempfehlungen für den Klinikaufenthalt

Unter Experten gilt mittlerweile als unbestritten, dass die zu frühe Geburt eines Kindes als kritisches Lebensereignis für die Eltern bzw. die Familie zu betrachten ist. Dies gilt vor allem, wenn es sich um ein sehr kleines Frühgeborenes oder um ein krank geborenes Kind handelt. Die psychosoziale Begleitung der Eltern zählt daher inzwischen zu einem etablierten Bestandteil der Behandlung von Frühgeborenen. Nachfolgend seien einige Handlungsempfehlungen zusammengefasst, die während des Aufenthaltes auf der neonatologischen Intensivstation dazu beitragen können, den Bindungsaufbau unter diesen erschwerten Bedingungen zu fördern.

Bindungsfördernde Elternarbeit

Eltern benötigen eine feinfühlige Anleitung für die Kontaktaufnahme zu ihrem Kind. Zu dieser zählen erste Berührungen des im Inkubator liegenden Babys und – mit steigendem Zutrauen – umsorgende Tätigkeiten wie das Wickeln, das Lagern im Inkubator oder das Sondieren von Muttermilch.

Glücklicherweise ist das Zeitfenster für das Bonding beim Menschen nicht so exklusiv wie bei vielen Säugetieren [16][19]. Auch wenn durch die Frühgeburt und Sectio die Startbedingungen für den Bindungsaufbau ausgesprochen ungünstig waren, so kann dennoch eine sichere Eltern-Kind-Bindung wachsen. Allerdings bedarf dies nunmehr spezieller Förderung und Zeit.


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Känguru-Pflege

Ein zentraler Aspekt der bindungsfördernden Pflege ist das sog. Känguruen. Hierbei wird der Mutter oder dem Vater das Frühgeborene unbekleidet auf den nackten Oberkörper gelegt. Das Elternteil liegt mit dem Kind für mehrere Stunden in einem Liegestuhl. Die Känguru-Pflege (engl.: Kangaroo care) hat für beide Seiten eine enorme Wirkung: Die Eltern werden emotional stabilisiert, da sie ihr Kind nicht nur visuell, sondern mit allen Sinnen wahrnehmen können. Meist entsteht durch das Känguruen ein Gefühl der Zuversicht und des Zutrauens in das Kind, das auf den ersten Blick so zerbrechlich erschien.

Das Känguruen ermöglicht einen vertraulichen Kontakt zum Kind. Häufig beginnen Eltern hierbei ein Zwiegespräch mit ihrem Frühgeborenen Baby und sie entwickeln eigene Interaktionsformen. Das Känguruen erleichtert es den Eltern, elterliche Fürsorge für ihr Kind zu entwickeln. Sie nehmen sich weniger hilflos wahr und erkennen, dass ihre Präsenz für ihr Kind ebenso wichtig ist wie die medizinische Behandlung, ggf. sogar noch wichtiger [6]. Als Vorteile des Känguruens werden in der Literatur weiterhin Vorteile für das Stillen und die psychische Gesundheit der Eltern beschrieben [4] [2].

Die Frühgeborenen profitieren ebenfalls stark von der Känguru-Pflege. Durch den engen Kontakt zu Mutter oder Vater werden alle Sinne des Kindes stimuliert. Es riecht, hört, schmeckt und fühlt seine Eltern. Durch das Känguruen wird außerdem die Darmperestaltik angeregt, sodass das Frühchgeborene leichter Stuhl absetzen kann. Weiterhin erkennt es die Stimmen der Eltern und lernt sehr schnell, die Gerüche und Berührungen der Eltern von denen des medizinischen Fachpersonals zu unterscheiden. Das Frühchgeborene erlebt, dass seine Eltern auf seine Signale reagieren und macht hierdurch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Mit der Zeit beginnt es, mit seinen Eltern zu kommunizieren. Forschungserkenntnisse deuten zudem darauf hin, dass die neuronale Entwicklung Frühgeborener durch die Känguru-Pflege verbessert werden kann [11].

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Abb. 3 Eine die Bindung fördernde Betreuung ist bei den Eltern von Frühgeborenen und krank geborenen Säuglingen besonders wichtig. Hier im Bild eine Mutter beim Känguruen. (Foto: O.v. Rahden [rerif])

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Fallbeispiele für die interdisziplinäre Betreuung von Schwangerschaft bis Geburt

Von der Zwillingsschwangerschaft über den Klinikaufenthalt zur verfrühten Elternschaft

Lena* und Felix* (alle mit* markierten Namen sind redaktionell verändert) erwarten Zwillinge. Die Schwangerschaft war geplant und nach der ersten Überraschung freuen sich beide, dass sie gleich zwei Kinder bekommen. Lena* geht weiter ihrer Arbeit als Sachbearbeiterin nach und plant, zwei Wochen Urlaub vor dem Beginn des Mutterschutzes zu nehmen. Ihr Gynäkologe informiert sie, dass eine Zwillingsschwangerschaft ein größeres Komplikationsrisiko hat. Dennoch ist der Schock groß, als bei einer Vorsorgeuntersuchung in 22 SSW festgestellt wird, dass die Cervix fast verstrichen und die Fruchtblase prolabiert ist. Lena* wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo ihr notfallmäßig eine Cerclage gelegt wird. Sie bekommt eine i. v. Tocolyse und strenge Bettruhe verordnet. Lena* hatte nie Wehen und ist verunsichert, weil sie nicht bemerkt hat, dass „etwas nicht stimmt“. Sie fürchtet nun bei jeder Bewegung, dass sich die Fruchtblase öffnen könnte und die Geburt nicht mehr aufzuhalten ist. Eine Ärztin erklärt ihr, dass die Kinder noch zu klein und unreif seien und keine Überlebenschance hätten. Felix* kommt täglich ins Krankenhaus und spricht ihr Mut zu. Auch er fühlt sich hilflos.

9 Tage später (23 + 6 SSW) wird sie ins nächstgelegene Level-I-Zentrum verlegt, da es nun eine geringe Überlebenschance gibt. Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigt sich, dass sich der Muttermund weiter geöffnet hat. Lena* und Felix* erfahren, dass damit zu rechnen sei, dass die Fruchtblase springt und es daher jederzeit zu einer Sectio kommen könne. Lena* wird Cortison zur Lungenreifebehandlung der Kinder gespritzt. Am folgenden Tag erklärt die Neonatologin Lena* und Felix*, die Zwillinge hätten nun eine Überlebenschance von etwas mehr als 50 %, sofern die drei Tage dauernde Lungenreifebehandlung abgeschlossen werden kann. Ob die Kinder dann auch beatmet werden können, wisse man erst nach der Geburt. Es sei aufgrund der extremen Unreife der Kinder sehr wahrscheinlich, dass weitere Komplikationen auftreten. Die Neonatologin erklärt, dass die Eltern ein Mitspracherecht bei der Behandlungsentscheidung hätten. Die beiden wissen nicht, wie sie dazu stehen und was sie fragen sollen. Sie wussten nicht, dass so kleine Kinder leben können und sie hatten noch nie über ein behindertes Kind nachgedacht. Sie hoffen, dass die Kinder noch eine Weile im Bauch bleiben und gedeihen. 2 Tage später erklärt eine Kinderkrankenschwester Lena* und Felix*, wie die ersten Tage eines Frühgeborenen auf der neonatologischen Intensivstation ablaufen. Anhand von Puppen und Fotos zeigt sie, wie groß die Zwillinge jetzt ungefähr sind und wie es aussieht, wenn ein Kind im Inkubator liegt. Lena* und Felix* können einen Tubus, eine Magensonde und eine CPAP-Maske ansehen und anfassen. Nun sind sie etwas beruhigt, da man doch viel für die Kinder tun kann.

3 Tage später (in der 24 + 4 SSW) hat Lena* eine vaginale Blutung. Ihr wird erklärt, dass man eine Sectio machen muss, sollte die Blutung zunehmen. Lena* kann sich nun kaum noch ablenken. Felix* hat sich krankgemeldet und ist viel bei Lena*. Er übernachtet bei einem Freund, der nahe der Klinik wohnt. Lena* und Felix* reden viel darüber, wie die Kinder wohl aussehen werden und dass sie Angst vor dem Anblick haben. Sie fragen sich, ob man so kleine Kinder am Leben erhalten und wie man wissen soll, was in dieser Situation richtig ist. Am folgenden Tag wird entschieden, die Kinder aufgrund der anhaltenden vaginalen Blutung und des unter Spannung stehenden Cerclagefadens per Sectio auf die Welt zu holen. Die Neonatologin erklärt unmittelbar vor der Sectio den Eltern, wie die Erstversorgung der Kinder nach der Geburt geplant ist. Lena* und Felix* trauen sich, ihre Befürchtungen und Fragen zu äußern. Die Neonatologin sagt, dass die Kinder aufgrund der abgeschlossenen Lungenreifebehandlung nun eine bessere Überlebenschance hätten. Direkt nach der Geburt wolle sie anhand der Lebenszeichen der Kinder beurteilen, wie realistisch ein Überleben ist. Und dass sie sich, wenn Lena* und Felix* einverstanden sind, u. U. auch gegen eine Erstversorgung entscheiden würde. Dies werde man sofort mit ihnen besprechen. Lena* und Felix* sind einverstanden und erleichtert, dass nicht sie allein über das Leben der Kinder entscheiden sollen.

Am frühen Nachmittag desselben Tages werden Laura* mit 630g und Sophie* mit 610g in der 24 + 5 SSW geboren. Felix* ist mit im OP und kann nach der Erstversorgung zu seinen Töchtern. Trotz der gezeigten Bilder erschrickt er nun doch sehr beim Anblick der winzigen „verkabelten“ Kinder. Berühren möchte er sie noch nicht. Beide Kinder werden intubiert und liegen mit Infusionen auf der Neonatologie. Lena* wird, bevor sie auf die Wochenbettstation gebracht wird, im Bett auf die Neonatologie geschoben. Man stellt ihr Bett zwischen die Inkubatoren, sodass sie ihre Kinder hinter Plexiglas liegend sehen kann. Die Neonatologin berichtet den Eltern vom Start der beiden. Lena* sind die Kinder fremd. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es die beiden aus ihrem Bauch sind. Sie fühlt sich völlig erschöpft, aber auch ein bisschen erleichtert: Die Risikoschwangerschaft ist zu Ende und die Kinder leben.

Diskussion des Fallbeispiels

Das Beispiel zeigt, dass Eltern von Frühgeborenen zum Zeitpunkt der Geburt bereits eine sehr belastete Zeit hinter sich haben. Vor allem, wenn die Komplikationen in einer Schwangerschaftswoche auftreten in der das Überleben des Kindes fraglich scheint, befinden sich die Eltern in einer existenziellen Krise, in der sie sich unversehens und unter Zeitdruck mit moralischen Fragen zu Leben und Tod Gedanken machen sowie ihre Einstellung zu einem eventuell behinderten Kind finden müssen.

Daraus ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen:

  • Die Begleitung der Eltern in dieser Phase muss darauf ausgerichtet sein, ihnen fundierte Informationen zur gesundheitlichen Perspektive des Kindes zu liefern.

  • Die Eltern benötigen Beistand, um das verfrühte Ende der Schwangerschaft und den unerwartet frühen Beginn der Elternschaft zu bewältigen. Hierzu bedarf es einer guten Zusammenarbeit im interdisziplinären Team.

  • Bereits während der Schwangerschaft, wenn die Risikoschwangere in erster Linie von (Klinik-)Hebammen und Gynäkologin betreut wird, sollten erste Kontakte zu Kinderärzten und Fachkinderkrankenpflegekräften stattfinden, um den Übergang auf die neonatologische Intensivstation zu erleichtern.

  • Im Optimalfall werden die Eltern außerdem bereits vor der Geburt psychologisch bzw. psychosozial betreut.

  • Diese Form der präpartalen Begleitung durch ein interdisziplinäres Team gelingt allerdings nur, wenn die Schwangere vor der Geburt bereits stationär aufgenommen war.


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Plazentalösung mit Notsectio

Johanna* ist mit ihrem zweiten Kind in 32 SSW schwanger, als sie feststellt, dass ihr Bauch sich sehr fest und unangenehm schmerzhaft anfühlt. Kurz darauf bemerkt sie eine leichte vaginale Blutung. Sie ruft ihren Mann an und bestellt einen Krankenwagen. In der Klinik wird festgestellt, dass sich die Plazenta teilweise gelöst hat und eine Notsectio gemacht werden muss.

Johanna* wird in aller Eile über die Risiken einer Sectio aufgeklärt und es wird ihr gesagt, dass ein Kinderarzt ihr Baby medizinsich versorgen wird. Unmittelbar bevor sie in den OP gebracht wird, stellt sich der Kinderarzt kurz vor. Zeit für Fragen bleibt nicht.

Als Johanna* aufwacht, berichtet ihr die Hebamme, dass es ihrem Sohn soweit gut gehe und dass er auf der neonatologischen Intensivstation läge. Ihren Mann habe man inzwischen informiert und er sei auf dem Weg zur Klinik. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt der Kinderarzt, den Johanna* vor der Notsectio kurz gesehen hatte. Er stellt sich noch mal vor und berichtet, dass das Baby die Geburt soweit gut überstanden habe. Das Atmen falle ihm allerdings noch schwer, deshalb habe es zur Unterstützung eine CPAP-Maske bekommen.

Nachdem Samuel* in der Klinik eingetroffen ist, wird Johanna* im Bett auf die Neo geschoben und kann gemeinsam mit ihrem Mann ihren Sohn Robert* zum ersten Mal im Inkubator liegend sehen. Durch die CPAP-Maske ist nicht viel von seinem Gesicht zu erkennen. Durch eine Klappe am Inkubator darf Johanna* zum ersten Mal nach Roberts* Hand fassen.

Diskussion des Fallbeispiels

Wenn wie in diesem Fall die Frühgeburt plötzlich eintritt, erleben Eltern dies häufig, als hätten sie in einem Film mitgespielt, von dem sie im Nachhinein meist nur wenige Szenen in Erinnerung haben. Sie sind in dieser Phase kaum aufnahmebereit und können ärztlichen Aufklärungsgesprächen kaum folgen. Sie empfinden das eigene Kind als fremd, zumal es nicht viel mit den Vorstellungen vom eigenen Baby gemein hat.

Daraus ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen:

  • Wenn die Eltern bei einer Notsectio vom Geburtsereignis völlig plötzlich überrascht wurden, gilt es, sie möglichst zeitnah an ihr Kind in der Neonatologie heranzuführen.

  • Hierbei geht es vor allem um einen direkten Kontakt zum Kind: Es sehen und anfassen zu dürfen, sofern bereits möglich auch in den Arm zu nehmen.

  • Das Bedürfnis der Eltern nach Kontakt zum Kind hat einen ebenso großen Stellenwert wie jenes nach Informationen zum Gesundheitszustand des Kindes.

  • Das interdisziplinäre Team muss berücksichtigen, dass die Eltern aufgrund einer potenziellen Traumatisierung häufig nicht in der Lage sind, das Gehörte vollständig aufzunehmen. Mitunter werden nur wesentliche Dinge behalten und andere als nebensächlich eingestuft und vergessen.

  • Eine sensible und angemessen redundante Anleitung der Wöchnerin ist daher durchaus sinnvoll.

VORSCHAU

Der Förderung der Eltern-Kind-Bindung kommt, auch Wochen nach der Frühgeburt, ein großer Stellenwert zu, da viele Eltern im Umgang mit ihrem Kind noch unsicher sind. Lesen Sie in der nächsten Ausgabe DIE HEBAMME in Teil 2 der Serie, wie Sie Familien in den ersten Tagen und Wochen nach der Frühgeburt und nach der Klinikentlassung adäquat begleiten. Die Autorin stellt exemplarische Einzelfälle anschaulich vor, vermittelt Ergebnisse der Literaturrecherche und leitet Handlungsempfehlungen für die Praxis ab.


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Autorinnen / Autoren

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Dr. Oda von Rahden ist Hebamme und Dipl. Psychologin am Klinikum Oldenburg, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin – Elisabeth-Kinderkrankenhaus. Die Hilfen für Familien mit Frühgeborenen zählen zu ihren Arbeitsschwerpunkten.

  • Literatur

  • 1 AQUA. Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2014. 16 /1-Geburtshilfe. Qualitätsindikatoren. 2015 verfügbar unter: https://www.sqg.de/downloads/Bundesauswertungen/2014/bu_Gesamt_16N1-GEBH_2014.pdf [Zugriff 19.01.16]
  • 2 Athanasopoulou E, Fox JR. Effects of kagaroo mother care on maternal mood and interaction patterns between parents and their preterm, low birth weight infants: a systematic review. Infant Ment Health J 2014; 35 (03) : 245-62
  • 3 AWMF. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024 / 019, Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit. 2014 verfügbar unter: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-019l_S2k_Fr%C3%BChgeburt_Grenze_Lebensf%C3%A4higkeit_2014-09.pdf [Zugriff 31.01.16]
  • 4 Baley J. Skin-to-skin-care for term and preterm infants in the neonatal ICU. Pediatrics 2015; 136 (03) . 596-599
  • 5 Carson C, Redshaw M, Gray R, Quigley MA. Risk of psychological distress in parents of preterm children in the first year: evidence from the UK Millennium Cohort Study. BMJ Open: 2015: 5
  • 6 Christ-Steckhan C. Elternberatung in der Neonatologie. München: Ernst Reinhardt; 2005
  • 7 Forcada-Guex M, Borghini A, Pierrehumbert B. et al. Prematurity, maternal posttraumatic stress and consequences on the mother-infant relationship. Early Hum Dev 2011; 87 (01) . 21-26
  • 8 Gemeinsamer Bundesausschuss – GBA 2019 Richtlinie Qualitätssicherungs-Richtlinie Früh- und Reifgeborene des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Reifgeborenen. (Inkraftgetreten 01.01.2019). Abrufbar unter: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1730/QFR-RL_2018-05-17_iK-2019-01-01.pdf [03.05.2019] [20.05.2019]
  • 9 Gortner L, Landmann E. Prognosen etrem unreifer Frühgeborener. Monatszeitschrift Kinderheilkunde 2005; 153 (12) . 1148-1156
  • 10 Gross-Letzelter M, Baumgartner M, Kovacic A. Frühchen-Eltern. Eine sozialpädiatrische Studie. Lengerich: Papst; 2010
  • 11 Head LM. The effect of kangaroo care on neurodevelopmental outcomes in preterm intanfs. J Perinat Neonatal Nurs 2014; 28 (04) . 290-299
  • 12 Helle N, Barkmann C, Bartz-Seel J. et al. Very low birth-weight as a risk factor for postpartum depression four to six weeks postbirth in mothers and fathers: Cross-sectinal results from a controlled multicentre cohort study. J Affect Disord 2015 (180) : 154-161
  • 13 IQTIG. Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2017 Geburtshilfe. 2018 verfügbar unter https://iqtig.org/downloads/auswertung/2017/16n1gebh/QSKH_16n1-GEBH_2017_BUAW_V02_2018-08-01.pdf [Zugriff 22.052019]
  • 14 Jotzo M. Trauma Früh- und Risikogeburt. In: Jörg Reichert. & Mario Rüdiger. (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Psychologisch-sozialmedizinische Versorgung von Familien Frühgeborener. Göttingen: Hogrefe; 112-139 2013
  • 15 Korja R, Latva R, Lehtonen L. The effects of preterm birth on mother-infant interaction and attachment during the infant´s first two years. Acta Obstet Gynecol Scand 2012; 91 (02) . 164-173
  • 16 Lang C. Bonding. Bindung fördern in der Geburtshilfe. (1). . München: Urban & Fischer; 2009
  • 17 Latva R, Lehtonen L, Salmelin RK. et al. Visits by the family to the neonatal intensive care unit. Acta Paediatr 2007; 96 (02) : 215-20
  • 18 Reichert J. Rüdiger M. (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Psychologisch-sozialmedizinische Versorgung von Familien Frühgeborener. Göttingen: Hogrefe; 2013
  • 19 Renz-Polster H. Neues (und altes) zur Bonding-Debatte. Hebammenforum 2015; 9: 866-71
  • 20 Sarimski K. Frühgeburt als Herausforderung. Psychologische Beratung als Bewältigungshilfe. Göttingen: Hogrefe; 1999
  • 21 Schneider H, Helmer H. Frühgeburt: pränatale und intrapartale Aspekte. In: Schneider H, Husslein P, Schneider K.T.M. (Hrsg.) Die Geburtshilfe. 5.. Aufl. (S. 257-306). Berlin: Springer; 2016
  • 22 Steinhardt A, Zöllner N. Elternberatung in der Neonatologie – Stationäre frühe Hilfen bei Risikogeburten. In: Jörg Reichert & Mario Rüdiger (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Göttingen; Hogrefe: 140-153 2013
  • 23 Vigod SN, Villegas L, Dennis CL. et al. Prevalence and risk factors for postpartum depression among women with preterm and low-birth-weight infants: a systematic review. BJOG 2009; 117: 540-550
  • 24 Vogel JP, Chawanpaiboon S, Moller AB. et al. The global epidemiology of preterm birth. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 2018. ; DOI: https: / /doi.org/10.1016/j.bpobgyn.2018.04.003 [21.05.2019]
  • 25 Vonderlin E, Nöcker-Ribaupierrre M, Wilken M. Unterstützende Behandlungsangebote in der Neonatologie. Monatsschrift Kinderheilkunde 2010; 158 (10) : 42-47
  • 26 WHO. Preterm Birth. Fact sheet Nr. 363. 2015 verfügbar unter: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs363/en/ [Zugriff 28.01.16 ]
  • 27 Wense von der A, Bindt C. Risikofaktor Frühgeburt. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln. Weinheim: Beltz; 2013
  • 28 Zerach G, Elsayag A, Shefer S. et al. Long-term maternal stress and posttraumatic stress symptoms related to developmental outcome of extremely premature infants. Stress Health 2015; 31 (03) . 204-213

Korrespondenzadresse

Klinikum Oldenburg
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin – Elisabeth-Kinderkrankenhaus
Dr. Oda von Rahden
Rahel-Straus-Straße 10
26133 Oldenburg

  • Literatur

  • 1 AQUA. Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2014. 16 /1-Geburtshilfe. Qualitätsindikatoren. 2015 verfügbar unter: https://www.sqg.de/downloads/Bundesauswertungen/2014/bu_Gesamt_16N1-GEBH_2014.pdf [Zugriff 19.01.16]
  • 2 Athanasopoulou E, Fox JR. Effects of kagaroo mother care on maternal mood and interaction patterns between parents and their preterm, low birth weight infants: a systematic review. Infant Ment Health J 2014; 35 (03) : 245-62
  • 3 AWMF. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024 / 019, Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit. 2014 verfügbar unter: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-019l_S2k_Fr%C3%BChgeburt_Grenze_Lebensf%C3%A4higkeit_2014-09.pdf [Zugriff 31.01.16]
  • 4 Baley J. Skin-to-skin-care for term and preterm infants in the neonatal ICU. Pediatrics 2015; 136 (03) . 596-599
  • 5 Carson C, Redshaw M, Gray R, Quigley MA. Risk of psychological distress in parents of preterm children in the first year: evidence from the UK Millennium Cohort Study. BMJ Open: 2015: 5
  • 6 Christ-Steckhan C. Elternberatung in der Neonatologie. München: Ernst Reinhardt; 2005
  • 7 Forcada-Guex M, Borghini A, Pierrehumbert B. et al. Prematurity, maternal posttraumatic stress and consequences on the mother-infant relationship. Early Hum Dev 2011; 87 (01) . 21-26
  • 8 Gemeinsamer Bundesausschuss – GBA 2019 Richtlinie Qualitätssicherungs-Richtlinie Früh- und Reifgeborene des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Reifgeborenen. (Inkraftgetreten 01.01.2019). Abrufbar unter: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1730/QFR-RL_2018-05-17_iK-2019-01-01.pdf [03.05.2019] [20.05.2019]
  • 9 Gortner L, Landmann E. Prognosen etrem unreifer Frühgeborener. Monatszeitschrift Kinderheilkunde 2005; 153 (12) . 1148-1156
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  • 11 Head LM. The effect of kangaroo care on neurodevelopmental outcomes in preterm intanfs. J Perinat Neonatal Nurs 2014; 28 (04) . 290-299
  • 12 Helle N, Barkmann C, Bartz-Seel J. et al. Very low birth-weight as a risk factor for postpartum depression four to six weeks postbirth in mothers and fathers: Cross-sectinal results from a controlled multicentre cohort study. J Affect Disord 2015 (180) : 154-161
  • 13 IQTIG. Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2017 Geburtshilfe. 2018 verfügbar unter https://iqtig.org/downloads/auswertung/2017/16n1gebh/QSKH_16n1-GEBH_2017_BUAW_V02_2018-08-01.pdf [Zugriff 22.052019]
  • 14 Jotzo M. Trauma Früh- und Risikogeburt. In: Jörg Reichert. & Mario Rüdiger. (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Psychologisch-sozialmedizinische Versorgung von Familien Frühgeborener. Göttingen: Hogrefe; 112-139 2013
  • 15 Korja R, Latva R, Lehtonen L. The effects of preterm birth on mother-infant interaction and attachment during the infant´s first two years. Acta Obstet Gynecol Scand 2012; 91 (02) . 164-173
  • 16 Lang C. Bonding. Bindung fördern in der Geburtshilfe. (1). . München: Urban & Fischer; 2009
  • 17 Latva R, Lehtonen L, Salmelin RK. et al. Visits by the family to the neonatal intensive care unit. Acta Paediatr 2007; 96 (02) : 215-20
  • 18 Reichert J. Rüdiger M. (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Psychologisch-sozialmedizinische Versorgung von Familien Frühgeborener. Göttingen: Hogrefe; 2013
  • 19 Renz-Polster H. Neues (und altes) zur Bonding-Debatte. Hebammenforum 2015; 9: 866-71
  • 20 Sarimski K. Frühgeburt als Herausforderung. Psychologische Beratung als Bewältigungshilfe. Göttingen: Hogrefe; 1999
  • 21 Schneider H, Helmer H. Frühgeburt: pränatale und intrapartale Aspekte. In: Schneider H, Husslein P, Schneider K.T.M. (Hrsg.) Die Geburtshilfe. 5.. Aufl. (S. 257-306). Berlin: Springer; 2016
  • 22 Steinhardt A, Zöllner N. Elternberatung in der Neonatologie – Stationäre frühe Hilfen bei Risikogeburten. In: Jörg Reichert & Mario Rüdiger (Hrsg.). Psychologie in der Neonatologie. Göttingen; Hogrefe: 140-153 2013
  • 23 Vigod SN, Villegas L, Dennis CL. et al. Prevalence and risk factors for postpartum depression among women with preterm and low-birth-weight infants: a systematic review. BJOG 2009; 117: 540-550
  • 24 Vogel JP, Chawanpaiboon S, Moller AB. et al. The global epidemiology of preterm birth. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 2018. ; DOI: https: / /doi.org/10.1016/j.bpobgyn.2018.04.003 [21.05.2019]
  • 25 Vonderlin E, Nöcker-Ribaupierrre M, Wilken M. Unterstützende Behandlungsangebote in der Neonatologie. Monatsschrift Kinderheilkunde 2010; 158 (10) : 42-47
  • 26 WHO. Preterm Birth. Fact sheet Nr. 363. 2015 verfügbar unter: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs363/en/ [Zugriff 28.01.16 ]
  • 27 Wense von der A, Bindt C. Risikofaktor Frühgeburt. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln. Weinheim: Beltz; 2013
  • 28 Zerach G, Elsayag A, Shefer S. et al. Long-term maternal stress and posttraumatic stress symptoms related to developmental outcome of extremely premature infants. Stress Health 2015; 31 (03) . 204-213

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Abb. 1 Die Schwangerschaft, Geburt und erste Zeit mit einem frühgeborenen oder kranken Kind stellt eine besondere Herausforderung für Eltern dar. Dieses Kind kam in der 26. SSW zur Welt, das Bild zeigt es am fünften Lebenstag. (Foto: privat [rerif])
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Abb. 2 Lebenserhaltende Maßnahmen statt Bonding: Inkubatoren auf einer neonatologischen Intensivstation. (Foto: O.v. Rahden [rerif])
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Abb. 3 Eine die Bindung fördernde Betreuung ist bei den Eltern von Frühgeborenen und krank geborenen Säuglingen besonders wichtig. Hier im Bild eine Mutter beim Känguruen. (Foto: O.v. Rahden [rerif])