Pädiatrie up2date 2020; 15(03): 239-253
DOI: 10.1055/a-0898-0154
Neuropädiatrie/Psychiatrie

Vernachlässigung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen

Andreas Oberle
,
Rose-Renate Nowotzin
 

Vernachlässigung im Kindes- und Jugendalter gehört zu den am häufigsten berichteten Misshandlungsformen. Dieser Beitrag definiert und charakterisiert Vernachlässigung und deren Erscheinungsformen und gibt Empfehlungen zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung.


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Einleitung

Vernachlässigung, als häufigste Form der Kindeswohlgefährdung, lag 2018 in Deutschland bei 60% aller Betroffenen vor (Statistisches Bundesamt 2019, [1]). Vernachlässigung ist häufig schwer fassbar, insbesondere, wenn sie hinter den Abläufen des Alltags „versteckt“ wird, als Erziehungsmaßnahme getarnt ist und in der „Einzelsituation“ eher harmlos wirkt. Es kann sich innerhalb von Familien als „Generationen-übergreifendes Phänomen“ darstellen. Die Konsequenzen und die Tragweite der Handlungen sind akut und auf den ersten Blick oft nicht eindeutig erkennbar. Wir denken bei Vernachlässigung an Ereignisse von elterlicher Überforderung, das „Nicht-Erkennen-von-Bedürfnissen“ und Formen der Erniedrigung/Entwürdigung eines Kindes oder Jugendlichen. Damit ist offensichtlich, dass sowohl Anteile von körperlicher als auch emotionaler Kindeswohlgefährdung eine Rolle spielen können.

Definition

Vernachlässigung

Definition nach Schone u. Mitarb. [2]

Vernachlässigung wird definiert als „die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre.“

„Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.“

Definition nach Kindler u. Mitarb. [3] und in Anlehnung an § 1666 BGB

„Vernachlässigung wird definiert als andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet.“


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Erscheinungsformen der Vernachlässigung

Zusatzinfo

Anmerkung der Autoren

Neben „andauernden“ und „wiederholten“ Ereignissen können durchaus auch einmalige extreme Situationen auftreten, bei denen z. B. aufgrund mangelnder Aufsicht ein Kind ertrinken oder aus dem Fenster fallen kann oder im Sommer im heißen Auto „vergessen“ wird, was dann sofort zu einer akuten Vernachlässigung mit unter Umständen Todesfolge führen kann.

Überblick

Erscheinungsformen von Vernachlässigung

  • körperliche Vernachlässigung

  • medizinische Vernachlässigung

  • erzieherische Vernachlässigung

  • emotionale/seelische Vernachlässigung

  • Vernachlässigung der Aufsichtspflicht

  • Aussetzung in eine gewalttätige Umgebung

Die Einteilung der Vernachlässigungsformen ist zunächst eine akademische. Sie hilft den Akteuren, die eine Vernachlässigung wahrnehmen, bei der Einordnung und Sortierung der eigenen Gedanken zum Geschehen und kann dazu beitragen, dass die Schwere der Auswirkungen auf die weitere Entwicklung klarer wird.

In der Realität treffen wir selten reine Formen an, viel häufiger liegen Vernachlässigungen in mehreren Bereichen vor. Das muss dann auch so in die nachfolgende Einschätzung einfließen, damit man zu einer Handlungsoption und zu einem Sicherheitskonzept kommen kann.

Körperliche Vernachlässigung

Unter dem Oberbegriff der körperlichen Vernachlässigung finden wir das Verhalten der Sorgeberechtigten, das die Bedürfnisse eines Kindes nach altersentsprechender Nahrung, nach Obdach, einem Schlafplatz, nach körperlicher Unversehrtheit und Schmerzfreiheit, aber auch nach witterungsangemessener Kleidung und nach Hygiene nicht erfüllt [4].

Die Hinweiszeichen auf eine Vernachlässigung in diesem Bereich können sehr vielfältig sein.

Zunächst wird die körperliche Gesamtsituation inkl. der somatischen Daten (Größe, Gewicht, BMI und Kopfumfang) zu beurteilen sein. Gibt es dabei in den Perzentilen auffällige Perzentilensprünge, die nicht durch eine organische Erkrankung erklärt werden können, muss man sich auch über Vernachlässigung Gedanken machen.

Dabei sollte man nicht nur an die Unterernährung oder ausgeprägte Fehlernährung mit den dazu gehörigen Mangelerscheinungen (klassische Eisenmangelanämie bei reiner Milchernährung von Kleinkindern, Vitamin-D-Mangel-Rachitis, Mangelerscheinungen bei rein veganer Ernährung ohne Ausgleich der essenziellen Nährstoffe) denken, auch eine Adipositas per magna, eventuell ebenfalls einhergehend mit einer Fehlernährung, kann ein Zeichen für eine Vernachlässigung sein.

Des Weiteren kann die Beobachtung des Essverhaltens wichtige Aufschlüsse in Bezug auf einen Vernachlässigungsverdacht geben. Wenn Kinder alles Essbare, was sie bekommen können, an sich reißen und in sich hineinschlingen, so ist dies sicherlich auffällig und sollte hinterfragt werden.

Immer wieder kann beobachtet werden, dass Kinder keine saisonal angepasste Kleidung oder zu kleine Schuhe tragen, was dann zu vermehrten Infekten bzw. zu Druck- und Scheuerstellen an den Füßen führen kann. Ungepflegte, abgerissene Fingernägel und eine starke Milchzahnkaries bei Kindern können auf eine Vernachlässigung hindeuten. Aber ein kariöses Milchzahngebiss oder eine schnullerbedingte Kieferfehlstellung alleine reichen noch nicht aus, um die Diagnose Vernachlässigung zu stellen, sie können lediglich Hinweiszeichen sein.

Merke

Es kommt immer darauf an, möglichst viele Bereiche des körperlichen Zustands eines Kindes zusammen mit dem jeweiligen Kontext genau wahrzunehmen und zu beschreiben, um dann bei einer Häufung von Auffälligkeiten eine Vernachlässigung als Ursache in Betracht zu ziehen.

Alte Schmutzreste in den Hautfalten oder im Nabel, stark riechende Kleidung (z. B. nach Rauch oder Schweiß) bei Sorgeberechtigten und Kind sollten genauso wahrgenommen werden wie gehäufte Luftwegsinfekte (nicht gerade im ersten Kitajahr) oder immer wiederkehrende, schlecht abheilende Mund- und Windelsoorerkrankungen.

Es können stark verschmutzte oder verschlissene Funktionsutensilien auffallen, z. B. bei den Schulsachen in Form von nicht benutzbaren Buntstiften, dem Fehlen eines Federmäppchens oder ähnlichem, im klinischen Bereich im Fehlen von Zahnbürste oder Kamm/Bürste.

Fallbeispiel 1

Säugling

Der 4 Monate alte Alexander wurde aufgrund von Trinkschwierigkeiten und stagnierender Gewichtszunahme von der Kinder- und Jugendärztin mit seiner Mutter in unsere Baby-Sprechzeit ins Sozialpädiatrische Zentrum geschickt. Die u. a. mit dem Messen und Wiegen des Jungen betrauten Kinderkrankenschwestern berichteten bereits, dass der Junge in einem schlechten Pflegezustand sei, insbesondere sei der strenge Geruch beim Ausziehen der vollen (nur mit Urin gefüllten) Windel aufgefallen. In unserer Sprechstunde berichtete dann die Mutter (mit dem Jungen auf dem Arm), dass die Kinder- und Jugendärztin unbedingt die Kontrolle wollte, sie selbst hätte eigentlich keine Probleme mit Alexander.

Im Rahmen der von der Psychologin vorgeschlagenen Spielsituation legte die Mutter ein Spielzeug mit den Worten „Komm Alexander, spiel mal“ vor ihren (auf der Matte in Bauchlage befindlichen) Sohn und schaute sich im Untersuchungszimmer um. Alexander wiederum schaute an der Mutter vorbei zur Psychologin und nahm Blickkontakt mit ihr auf. Als diese den Jungen daraufhin ansprach, lautierte und lächelte Alexander.


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Medizinische Vernachlässigung

Im Bereich der medizinischen Vernachlässigung finden wir häufig eine Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge, die sich bei Durchsicht von Früherkennungsheft und eventuell auch von Mutterpass und Impfbuch leicht nachweisen lässt. Hinweiszeichen können sein, dass häufiger die durchführenden Kinderärzte/-ärztinnen gewechselt haben, ohne dass ein Wohnortwechsel stattgefunden hat (Kinderärztehopping). Fehlende Vorsorgeuntersuchungen können einen Hinweis darauf geben, dass in der fälligen Zeit andere familiäre Belastungen die Durchführung der Untersuchung verhindert haben, obwohl diese gesetzlich verpflichtend ist. Das kann zum Anlass genommen werden, nach Belastungen zu fragen und über Hilfen nachzudenken, ohne dass den Betroffenen gleich ein Vorwurf gemacht werden muss.

Wenn Kinder, die zunächst geimpft wurden, dann keine weiteren Impfungen oder Auffrischungen erhalten haben, sollte nach den Gründen gefragt werden.

Bei Kindern mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung ist die Anforderung an die Sorgeberechtigten unter Umständen durch die zusätzliche Pflege oder Verantwortung so groß, dass sie dieser nicht mehr adäquat nachkommen können.

Vernachlässigungen aus Erschöpfungssituationen heraus sind nicht selten und müssen aufmerksam wahrgenommen und begleitet werden.

Wenn Sorgeberechtigte eine bereits gestellte Diagnose verweigern und nicht annehmen können, kann auch daraus eine Vernachlässigung des medizinisch Notwendigen erfolgen.

Spätestens in der Pubertät kommt bei vielen chronisch erkrankten Jugendlichen der Zeitpunkt, an dem sie sich gegen die Erkrankung, die notwendigen Therapien und eventuellen Einschränkungen des Lebensstils auflehnen. Dann wird es für die betreuenden Sorgeberechtigten und Ärzte schwierig, die Jugendlichen „bei der Stange zu halten“ und zur Fortsetzung der Therapien zu bewegen. Es muss geklärt werden, wer in der Familie die Verantwortung für die Therapien übernimmt und trägt. Dies hängt sehr stark von der emotionalen Reife der betroffenen Jugendlichen ab (s. [Fallbeispiel 3]).

Wenn bei Kindern Entwicklungsverzögerungen oder Entwicklungsstörungen festgestellt werden, so müssen die Eltern davon überzeugt werden, dass dies dann auch Therapien notwendig machen kann. Werden diese Therapien (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie u. a.) nicht durchgeführt, ist von einer medizinischen Vernachlässigung zu sprechen, wenn dadurch dem Kind verweigert wird, das Entwicklungspotenzial, das in ihm steckt, zu wecken und zur Entfaltung zu bringen.

Auch ein „Vergessen“ der Sorgeberechtigten, ihr Kind beim Augenarzt oder HNO-Arzt vorzustellen, bei berechtigtem Verdacht auf eine Seh- oder Hörstörung, ist eine Form von medizinischer Vernachlässigung.

Zunehmend kommt auch in das Bewusstsein, dass ein adäquater Sonnenschutz für Kinder wichtig und Nachlässigkeiten nicht tolerabel sind.

In allen Bundesländern gibt es eine Schuleingangs- oder Einschulungsuntersuchung, welche die Sorgeberechtigten mit ihren Kindern wahrnehmen müssen. Es ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt, in welchem Abstand zur Einschulung diese stattfindet und welche Konsequenzen bei der Verweigerung der Untersuchung entstehen. Ein Hinweiszeichen auf Vernachlässigung kann das Fehlen dieser Untersuchung ebenfalls sein.


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Kognitive und erzieherische Vernachlässigung

Fallbeispiel 1

Säugling

Um auf das „eigentliche“ Problem einzugehen, wurde sodann die Trinksituation (die Mutter fütterte den Jungen mit einem Milchpräparat) beobachtet. Auf dem Arm/Schoß der Mutter konnte Alexander unter der Beobachtung der Mutter den Sauger gut annehmen und trank zügig. Die Mutter versuchte, ein Gespräch mit der Psychologin zu beginnen. Als Alexander hustete, sprach sie weiter, schaukelte ihn kurz nebenbei (ohne zu schauen, was los ist und ihm eine Pause zu ermöglichen). Erst als Alexander zu weinen begann und versuchte, sich aus seiner Position heraus wegzudrehen, reagierte sie und legte ihn in den Kinderwagen mit dem Kommentar „Jetzt mag er nicht mehr, die andere Hälfte der Flasche mache ich ihm später nochmal warm …“.

Hier zeigen sich Hinweise auf eine körperliche Vernachlässigung (Körpergeruch, übervolle Windel), eine emotionale Vernachlässigung (Auffälligkeiten in der Mutter-Kind-Interaktion, mangelndes feinfühliges Verhalten der Mutter in Bezug auf die Bedürfnisse des Kindes in diesem Alter (ohne adäquate Unterstützung im Spiel, keine altersentsprechender unterstützender Rahmen in der Füttersituation).

Als weitere Schritte wurde eine Familienhilfe und eine entwicklungspsychologische Beratung zur Verbesserung der Mutter-Kind-Interaktion in den verschiedenen Alltagsbereichen über das Jugendamt installiert und engmaschigere Verlaufskontrollen beim Kinder- und Jugendarzt vereinbart.

Unter kognitiver und erzieherischer Vernachlässigung wird beispielsweise ein Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen, fehlende erzieherische Einflussnahme auf einen unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz oder Suchtmittelgebrauch des Kindes oder Jugendlichen, fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- oder Förderbedarfs verstanden.

Hinweise dafür sind auch, wenn es in Familien keine geregelten Strukturen gibt. Alarmierend ist, wenn morgens die Kinder nicht geweckt werden, um in Kita oder Schule zu gehen, wenn es keine geregelten Mahlzeiten oder auch keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr gibt.

Auch sollten in der Tagesstruktur nicht nur die Mahlzeiten, sondern auch die Spiel-, Lern- und Arbeitszeiten geregelt sein, ebenso wie die Zu-Bett-Geh- und Schlafenszeiten.

Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie für ihre Kinder eine wichtige Vorbildfunktion haben und diese auch ausfüllen müssen. Das bedeutet beispielsweise, dass sie ihren Kindern Angebote zum Sprechen durch eine ausreichende Kommunikation geben müssen, um eine normale Sprachentwicklung zu ermöglichen. Altersentsprechende Angebote zum Spielen und zur Bewegung sind essenziell für die gesunde Entwicklung. Auffälligkeiten in diesen Bereichen ergeben zahlreiche Hinweise für Vernachlässigung.

Fallbeispiel 2

Kleinkind (3,6 Jahre)

Der dreieinhalbjährige Samuel wird in der Notaufnahme zur körperlichen Untersuchung vorgestellt, nachdem eine Nachbarin eine Meldung beim Jugendamt gemacht hat, dass aus der Wohnung, in der Samuel mit seinen Eltern lebt, immer wieder Schreie und Schläge zu hören seien, und dass der Junge auch immer wieder alleine auf dem Balkon wohl ausgesperrt werde.

Samuel kommt in Begleitung seines Vaters und zweier Mitarbeiterinnen des Jugendamts in die Klinik. Das Verhalten von Samuel ist im Erstkontakt mit der untersuchenden Ärztin insofern auffällig, dass er durch die Zimmertür auf sie zustürzt und erst einmal auf ihren Schoß will. Der Vater kommt hinterher und holt den Jungen vom Schoß der Ärztin ab. Die körperliche Untersuchung lässt Samuel ohne große Gegenwehr über sich ergehen. Auf verbale Kommunikationsangebote der Ärztin geht er nicht ein. In der Kommunikation mit dem Vater fällt dann auf, dass die Sprache sehr einfach in extrem kurzen Sätzen ist und dass Samuel offensichtlich nicht alles versteht, was der Vater sagt. Das körperliche Erscheinungsbild ist wenig auffällig, die Haare wirken allerdings matt und ungepflegt, die Kleidung ist nicht sauber, Größe und Gewicht sind im unteren Normbereich. Eine starke motorische Unruhe fällt auf, die den Jungen dazu treibt, alles im Untersuchungszimmer anzufassen, auszuräumen und teilweise zu zerstören. Der Vater gebietet ihm dabei keinerlei Einhalt. Außer einer kleinen Anzahl unspezifisch geformter Hämatome an den Armen und Schienbeinen können keine weiteren pathologischen Befunde erhoben werden.


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Emotionale Vernachlässigung

Emotionale Vernachlässigung (Kinderschutzleitlinie 2019, [5]), in Anlehnung an WHO und Maltreatment Classification Systems [6].

Bei der emotionalen Vernachlässigung handelt es sich um eine andauernde oder extreme Vernachlässigung der psychischen Bedürfnisse eines Kindes.

Es werden dabei folgende Bereiche erfasst:

  • Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit: das Bedürfnis nach einem Familienumfeld, das frei von Feindseligkeit und Gewalt ist, sowie das Bedürfnis nach einer konstant verfügbaren und stabilen Bezugsperson.

  • Bedürfnis nach Akzeptanz und Selbstwertgefühl: das Bedürfnis nach wohlwollender Aufmerksamkeit und der Abwesenheit von extrem negativer und unrealistischer Bewertung.

  • Bedürfnis nach altersgemäßer Autonomie und Selbstständigkeit: das Bedürfnis des Kindes, seine Umwelt und außerfamiliäre Beziehungen zu erkunden, das Bedürfnis, sich innerhalb der elterlichen Grenzen und Regeln individuell zu entwickeln, sowie das Bedürfnis des Kindes, keine unangemessenen Verantwortlichkeiten zu tragen oder Beschränkungen auferlegt zu bekommen.

Dazu müssen die Bezugspersonen die besonderen Bedürfnisse eines Kindes oder Jugendlichen in der entsprechenden Altersklasse kennen und in der Lage sein, diese auch zeitnah zu erfüllen. Je jünger ein Kind ist, desto rascher bedarf es einer Erfüllung seiner Bedürfnisse. Außerdem müssen Bezugspersonen fähig sein, ihre eigenen Bedürfnisse zu diesem Zeitpunkt zurückzustellen. Eltern mit einer psychischen Erkrankung oder einer Suchtproblematik haben genau in diesem Bereich eher Schwierigkeiten. Auch sehr junge, noch nicht so reife Eltern tun sich manchmal schwer, ihre eigenen Bedürfnisse für die des Kindes hintanzustellen [7]. Dabei ist es wichtig, einzuordnen, in welchem Ausmaß allen Bezugspersonen die Erfüllung dieser Bedürfnisse gelingt.

Merke

Eine emotionale Vernachlässigung geht häufig auch mit einer emotionalen Misshandlung einher.


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Vernachlässigung der Aufsichtspflicht

Bei der Vernachlässigung der Aufsichtspflicht denken wir zunächst daran, dass Eltern nach bestem Wissen Unfälle im häuslichen Bereich verhindern sollen. Dazu sollten sie ein gewisses Gefahrenbewusstsein entwickeln, damit sie ihren Säugling nicht alleine auf dem Wickeltisch oder Bett/Sofa liegen lassen, damit sie alle scharfkantigen Möbel abpolstern, die Steckdosen sichern, Fenster verschließen und verhindern, dass Kleinkinder Stühle benutzen, um hoch zu klettern und aus dem Fenster oder über die Balkonbrüstung schauen zu können [8].

Das sichere Wegräumen und Verwahren von Medikamenten, Putzmitteln, Zigaretten und Feuerzeugen gehört ebenfalls zur Aufsichtspflicht.

Verbrühungen und Verbrennungen durch Wasserkocher, heiße Herdplatten, offene Kaminfeuer oder beim Grillen kommen immer wieder unfallbedingt vor.

Eine gute Verkehrserziehung gehört ebenso zur Aufsichtspflicht wie das von Eltern begleitete Erlernen des Umgangs mit Computer und Handy. Sorgeberechtigte müssen dem Alter des Kindes angepasst Regeln erstellen, wann und wie lange Medien genutzt werden und welche Internetzugänge gewährt werden. Es ist nötig zu wissen, womit sich Kinder im Netz beschäftigen, zumindest bei jüngeren Kindern.

Zusatzinfo

Zehn Empfehlungen für die Mediennutzung im Familienalltag der BZgA [9]

  1. den eigenen Umgang mit Medien kritisch überprüfen

  2. Vereinbarungen treffen

  3. über Medien reden

  4. Kinder beim Medienkonsum begleiten

  5. persönliche Regeln finden

  6. kreativ mit Medien sein

  7. für Ausgleich zum Medienkonsum sorgen

  8. Fernseher und Computer „draußen lassen“

  9. Dauerberieselung vermeiden

  10. Kinder ins Internet begleiten


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Aussetzen in eine gewalttätige Umgebung

Das Aussetzen in eine gewalttätige Umgebung ist eine eigene Form der Vernachlässigung. Darunter fällt das Miterleben von häuslicher Gewalt, auch wenn sich diese nicht speziell gegen das Kind richtet. Außerdem ist diese Form gegeben, wenn junge Kinder zu gewalttätigen Veranstaltungen (z. B. im Sport) mitgenommen werden oder wenn sie gezwungen werden, entsprechende Filme mit anzuschauen, z. B. Darstellungen in Medien, die brutale Gewalt zeigen. Auch das Anschauen von pornografischem Material kann unter diesen Gewaltbegriff gefasst werden. In der Folge kann es zu langanhaltenden Verunsicherungen der Kinder kommen und zu einer verzerrten Wahrnehmung und Unterscheidung von gewaltsamem zu sozial verträglichem, „normalem“ Verhalten.

Fallbeispiel 2

Kleinkind (3,6 Jahre)

Die begleitenden Jugendamtsmitarbeiterinnen berichten von ihrem Hausbesuch, den sie auf die Meldung hin am selben Tag unternommen haben, dass sie eine sehr unaufgeräumte und verschmutzte Wohnung vorgefunden hätten, mit Samuel auf dem Balkon, der nicht kindersicher war, und mit seiner Mutter, die aber durch Drogen oder Alkohol nicht wirklich ansprechbar gewesen sei. Es habe in der Wohnung keine adäquaten Spielsachen gegeben und auch wenig essbare Nahrungsmittel, im Kühlschrank sei verschimmeltes Brot gewesen. Eine Kommunikation zwischen Mutter und Sohn habe nicht stattgefunden, zur Untersuchung in der Klinik sei deshalb der Vater bei der Arbeit informiert worden, welcher direkt in die Klinik mitkam.

Bei diesem Kind finden sich aus den Beobachtungen im klinischen Setting und durch die Beobachtungen der Jugendamtsmitarbeiterinnen gleich mehrere Anhaltspunkte für verschiedene Vernachlässigungsformen:

  • Es besteht der Verdacht auf eine emotionale Vernachlässigung bei nicht altersadäquater Interaktion mit den Eltern (Sprung auf den Schoß der fremden Ärztin und fehlende Kommunikation mit der Mutter zu Hause).

  • Es zeigen sich Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung im kognitiv-erzieherischen Bereich (Sprachentwicklungsverzögerung, keine altersentsprechenden Spielsachen, auf Nachfrage wird berichtet, dass Samuel keine Kita besucht, keine Tagesstruktur mit geregelten Mahlzeiten, der Junge wurde durch den Vater nicht an seinem planlos-aktiv zerstörerischen Verhalten im Untersuchungszimmer gehindert).

  • Auch Zeichen für eine Vernachlässigung im körperlichen Bereich können festgestellt werden (schmutzige Kleidung, wenig essbare Nahrungsmittel, verschimmeltes Brot).

Bei der gemeinsamen Beratung über die Befunde kommen die Mitarbeiterinnen des Jugendamts zu der Einschätzung, dass die verschiedenen Vernachlässigungsformen ein solches Ausmaß haben, dass dieser Junge zunächst nicht wieder in das häusliche Umfeld entlassen werden kann. Dies besprechen sie mit dem Vater, der daraufhin einer vorübergehenden Unterbringung des Jungen in einer Bereitschaftspflegefamilie zustimmt. Parallel dazu wird das Jugendamt sondieren, inwieweit eine Zusammenarbeit mit der Mutter und dem Vater gelingen kann unter Einbeziehung von Familienhilfe und einer Kita sowie (abhängig von einer genaueren Diagnostik der Entwicklungsrückstände bei Samuel) von unterstützenden therapeutischen Maßnahmen.


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Welche Merkmale können auf eine emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung hinweisen?

Im Bereich der Eltern-Kind-Interaktion zeigen sich allgemein Beziehungsstörungen und negative Interaktionen mit der primären Bezugsperson .

Im Sozialverhalten fallen Jugendliche durch aggressives und/oder delinquentes Verhalten auf, Kinder und Jugendliche können Schwierigkeiten bekommen, stabile und gesunde Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten. Dadurch und durch ein wenig regelkonformes, aggressives und destruktives Verhalten haben diese Kinder häufig wenig gleichaltrige Freunde und Schwierigkeiten, sich im sozialen Kontext (Familie, Kindergarten, Schule) anzupassen. Eine emotionale Erstarrung, „freezing“ genannt, ist ein Alarmzeichen, ebenso ein undifferenziertes, übermäßig freundliches Zugehen auf Fremde.

Psychische Auffälligkeiten und/oder Störungen können sich durch nach außen oder nach innen gerichtetes Verhalten äußern oder wenn kein belastbares Selbstwertgefühl entwickelt wird. Angstzustände, Distanzlosigkeit gegenüber Fremden, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten, selbstverletzendes Verhalten, Depressionen, Essstörungen und psychosomatische Beschwerden können ihren Ursprung in emotionaler Vernachlässigung haben [10].

Im Bereich der Kognition können Lern- und Leistungseinschränkungen auftreten.

Die produktiven und rezeptiven sprachliche Fertigkeiten können eingeschränkt sein.

Weitere Verhaltensauffälligkeiten können auftreten mit z. B. stereotypen Bewegungsmustern und unangemessenen Gewohnheiten wie Daumenlutschen, Nägel knabbern oder Schaukeln.


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Häufigkeit der verschiedenen Erscheinungsformen von Vernachlässigung in den unterschiedlichen Altersbereichen

Wir beziehen in unsere Überlegungen Kinder und Jugendliche von 0 – 18 Jahren ein und differenzieren folgende 3 Altersbereiche ([Abb. 1]):

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Abb. 1 Die Entwicklung und das Verhalten von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen werden wesentlich von der Beziehung zu den Eltern oder den nahen Bezugspersonen beeinflusst. Dabei gibt es jeweils positive und negative Einflüsse. Die Intensität nimmt im Laufe der Jahre ab, verschwindet aber nie ganz, auch wenn die Interaktionen und deren Auswirkungen immer weniger offensichtlich sind.
  • Säuglinge und Kleinkinder: 0 – 3 Jahre,

  • Kinder: 3 – 10 Jahre,

  • Pubertierende und Jugendliche: 11 – 18 Jahre.

Säuglinge und Kleinkinder

Bei Säuglingen und Kleinkindern ist an körperliche und emotionale Vernachlässigung zu denken, die nicht adäquate Gesundheitsfürsorge, die schon während der Schwangerschaft auftreten kann, postpartal an die problematische Beziehung/Bindung zu den engsten Betreuungspersonen. Dabei sind Faktoren, die vom Kind oder von der Umgebung ausgehen können, zu differenzieren.


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Kinder

Bei Kindern zeigen sich Vernachlässigungen im Rahmen einer nicht altersentsprechend adäquaten und förderlichen Gesundheits- und Erziehungsfürsorge. In dieser Altersgruppe spielen begleitende Maßnahmen wie Förderungen durch Spielgruppen, Musik- oder Sportvereine und öffentliche Jugendgruppen eine modifizierende Rolle. Der Einfluss aus Kindergarten und Schule, aber auch durch das gesamte soziale Umfeld ist nicht zu unterschätzen. Ungünstige sozioökonomische Rahmenbedingungen wie Isolationen kommen bei dieser Gruppe zum Tragen.


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Pubertierende und Jugendliche

Pubertierende und Jugendliche erfahren emotionale Vernachlässigung durch empfundenes oder reales Unverständnis und mangelndes Interesse ihrer nächsten Umgebung. Die Peergroup kann dabei einen sowohl stabilisierenden als auch destabilisierenden Einfluss nehmen, letzterer verstärkt durch Drogen, inkl. Nikotin und Alkohol, Cybermobbing und Cybergrooming. Kontaktanbahnungen im Internet mit dem Ziel sexueller Kontakte spielen zunehmend eine größere Rolle. In dieser Altersgruppe treten als Auswirkung verschiedener Vernachlässigungsformen Verhaltensmuster mit Delinquenz, Aggressivität, Drogenabusus und selbstverletzendem Verhalten auf. Auch eine vergleichsweise erhöhte Suizidalitätsrate ist bemerkenswert.

Fallbeispiel 3

12-jähriges Mädchen

Die 12-jährige Anna kommt zur stationären Aufnahme mit dem RTW, weil sie auf dem Schulweg gestürzt sei und sich eine Radiusfraktur und Schürfungen zugezogen hat.

Bei der genaueren Anamnese stellt sich heraus, dass die Ursache für den Sturz wohl ein atonischer Krampfanfall gewesen ist. Das Krampfleiden ist bei Anna schon seit vielen Jahren bekannt und sie ist medikamentös eingestellt.

Bei Durchsicht der früheren Arztbriefe der Klinik fällt auf, dass mehrfach die Blutspiegelkontrollen ihres Medikaments sehr niedrig waren.

Sie wird stationär aufgenommen, um genauer zu klären, warum es trotz Therapie zu weiteren Anfällen kommt. Die Medikamente werden im klinischen Setting regelmäßig gegeben und von Anna auch eingenommen, der Medikamentenspiegel steigt wie erwartet.


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Alternative Systematik der Vernachlässigungsformen

Es erfolgt die Einteilung in eine aktive und passive Form.

Aktive Vernachlässigung

Aktive Vernachlässigung ist die wissentliche Verweigerung von altersgemäßer Fürsorge und Beaufsichtigung.

Mögliche Hintergründe dafür sind Haltungen der Sorgeberechtigten aufgrund von Traditionen, extremen Überzeugungen (z. B. fundamentalistische Einstellungen in verschiedenen Religionen) oder alternativen Lebenskonzepten.

Auch Überforderungen der Sorgeberechtigten, beispielsweise durch schwere oder chronische Erkrankungen des Kindes mit einem deutlich erhöhten Betreuungsbedarf oder eigene psychische Probleme, können Ursachen für eine aktive Vernachlässigung sein.

Merke

Zentral: Unterlassungen bei der täglichen Versorgung und Pflege und das Nichtwahrnehmen altersentsprechender kindlicher Bedürfnisse.

Aktive Vernachlässigung Jugendlicher kann sich äußern in zu früher Übertragung elterlicher Aufgaben auf Jugendliche. Dabei müssen die Jugendlichen beispielsweise die Verantwortung für das Funktionieren des Haushalts oder die Versorgung der Geschwister übernehmen. Oder sie werden als „Partnerersatz“ nach Trennungs- und Verlustsituationen benutzt. Eine zu frühe Einschätzung „als alt genug“, für sich selbst zu sorgen, kann besonders bei Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen oder kognitiver Beeinträchtigung zu schwerwiegenden Vernachlässigungen führen, wenn diese noch nicht reif dafür sind (s. [Fallbeispiel 3]). Fehlendes Interesse und Verständnis für die Lebenswelt und das Lebensumfeld der Jugendlichen sind eine immer wieder beobachtete Form emotionaler Vernachlässigkung.

Fallbeispiel 3

12-jähriges Mädchen

Im Gespräch mit dem Vater stellt sich heraus, dass Anna morgens ihre Medikamente komplett alleine richten und einnehmen muss. Der Vater arbeitet in der Frühschicht und ist schon aus dem Haus, wenn das Mädchen aufstehen muss. Die Mutter arbeite in der Nachtschicht und müsse morgens schlafen, könne sich also auch nicht um die Medikamente kümmern. Überhaupt sei Anna ja schon alt genug, um diese Verantwortung zu übernehmen. Das könne man ja als Eltern erwarten.

Während des stationären Aufenthalts fällt auf, dass Anna noch sehr kindlich ist und sich sichtlich schwertut, Zusammenhänge zu begreifen und sich zu merken. Auf diese Diskrepanz zwischen chronologischem Alter und Entwicklungsreife angesprochen reagiert der Vater ziemlich abwehrend. Dann müsse sich halt die sonderpädagogische Schule um die Medikamenteneinnahme kümmern, er habe andere Aufgaben.

Es wird klar, dass mit Erklären und Hinweisen auf die elterliche Pflicht, sich um die Gesundheit des Kindes zu kümmern, wenn dieses dazu noch nicht in der Lage ist, keine sichere Medikamenteneinnahme gewährleistet werden kann.

In der Rücksprache mit der insoweit erfahrenen Fachkraft im Kinderschutz wird der Fall so eingeschätzt, dass eine Vernachlässigung im erzieherischen und besonders im medizinischen Bereich vorliegt, die bereits akut zu einer Schädigung geführt hat und die in Zukunft zu weiteren Beeinträchtigungen führen wird.

Von der Klinik aus wird das Jugendamt über diese Einschätzung informiert. Dieses erarbeitet mit den Eltern einen Plan zur Sicherung der Medikamenteneinnahme und kontrolliert auch die Umsetzung des Plans.


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Passive Vernachlässigung

Passive Vernachlässigung ist geprägt durch Nichtwissen über die jeweils dem Entwicklungsstand angepassten Erfordernisse der Kinder. Auch mangelnde Einsicht und/oder eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten der Sorgeberechtigten führen zu passiven Vernachlässigungen. Die Versorgung eines Kindes tritt dann gegenüber vermeintlich wichtigeren Dingen in den Hintergrund.

Passive Vernachlässigung Jugendlicher hat zur Folge, dass diese in weiten Strecken sich selbst überlassen sind, dass es keine gemeinsamen Abläufe in der Familie oder bei Mahlzeiten gibt, dass keine „Familienzeit“ und keine gegenseitige Teilhabe am Alltag des jeweils Anderen oder eine empathische Kommunikation mehr stattfindet.

Merke

Bei der Bewertung der erhobenen Beobachtungen und Befunde spielen Faktoren aus dem familiären und sozialen Umfeld eine große Rolle. Diese Faktoren werden als Risikofaktoren und als Schutzfaktoren bezeichnet.


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Risikofaktoren und Schutzfaktoren

Risikofaktoren bedeuten, dass das Risiko für eine Vernachlässigung durch den entsprechenden Faktor deutlich erhöht ist gegenüber dem Risiko in der Allgemeinbevölkerung. Für den Begriff Risikofaktoren verwendet die Kinderschutzleitlinie den etwas positiver besetzten Begriff der Belastungsfaktoren [5].

Im Vordergrund stehen 3 Bereiche:

  • Belastungen durch die familiäre soziale Situation sind schlechte oder fehlende materielle Ressourcen oder Arbeitslosigkeit [11].
    Obdachlosigkeit oder eine schlechte Wohnsituation (zu viele Menschen auf zu kleinem Raum, feuchte oder schimmelige Wohnung) verschärfen die Lage.
    Ein fehlendes familiäres und/oder soziales Umfeld (Isolation an einem fremden Ort, in einem fremden Land, fehlende Sprachkenntnisse, häufiger Wohnungswechsel durch berufliche Notwendigkeiten) sind zusätzliche Belastungen. Auch das Wohnen in einem sozial benachteiligten oder von Gewalt geprägten Stadtteil kann negative Auswirkungen haben.

  • Belastungen durch die persönliche Situation der dem Kind oder Jugendlichen besonders Nahestehenden entwickeln sich durch eine schwierige eigene Biografie mit Vernachlässigungserfahrungen und dadurch fehlende Strategien im Umgang mit dem eigenen Kind. Suchterleben [8] und psychische Erkrankungen eines Elternteils sowie körperliche oder kognitive Einschränkungen erhöhen das Risiko für Vernachlässigungen stark. Einen weiteren Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Vernachlässigung liegt in einer sehr jungen und weniger reifen Elternschaft. Durch Mehrbelastungen wie z. B. die zusätzliche Pflege von Mitgliedern der älteren Generation oder die Doppelbelastung durch Berufstätigkeit erhöht sich das Risiko für Überlastung und Vernachlässigung ebenfalls.

  • Trennungs- und strittige Scheidungssituationen erhöhen das Risiko wie das familiäre Zusammenleben mit Stiefeltern oder Stiefgeschwistern (Patchwork-Familien).

  • Als belastende kindliche Faktoren sind Entwicklungsstörungen bekannt, Behinderungen, chronische Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten, Mehrlinge oder ungewollte Kinder.

Neben den Risikofaktoren sind für die Abwägung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, auch die Schutzfaktoren für Kinder und Jugendliche relevant, die als sogenannte Resilienzfaktoren oder Ressourcen wirken:

  • Zu den kindbezogenen Ressourcen zählen allgemeine Intelligenz und spezielle Begabungen, Selbstvertrauen und positives Selbstwertgefühl, ein aktives Bewältigungsverhalten und konstruktive Problemlösestrategien sowie Selbsthilfefertigkeiten. Eine enge Bezugsperson mit Vorbildcharakter, auch außerhalb der Familie, ist eine nicht zu unterschätzende Ressource.

  • Familiäre Ressourcen sind verlässliche und sichere Bezugs- und Bindungspersonen aus dem engeren Betreuungsumfeld, die auch als Vorbilder dienen können. Ein familiärer Zusammenhalt, eventuell auch in der Großfamilie, und ein positives Bewältigungsverhalten innerhalb der Familie gelten als protektive Faktoren. Eine „Streitkultur“ in der Familie ist ebenfalls hilfreich.

  • Unter sozialen Ressourcen versteht man das Vorhandensein eines positiven sozialen Netzwerks (Nachbarschaften, Sportverein, Freizeitgruppen, Kindertagesstätte, Schule, Kirchen usw.). Verlässliche unterstützende Freundschaften und Beziehungen gelten als Schutzfaktoren, unter Umständen auch die Peergroup bei Jugendlichen. Professionelle und ehrenamtliche soziale Unterstützung (z. B. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Frühe Hilfen, Kinder- und Familienzentren, Müttercafés, Jugendhäuser, Jugendfarmen, „Leihgroßeltern“) sind entlastende Faktoren. Auch Rückzugsräume für Kinder und Jugendliche sind wichtig. Tierkontakte können deutlich stützende Maßnahmen sein. Menschen mit Vorbildfunktion sind wichtig. Diese Vorbilder verändern sich während der Entwicklung und haben auch für die Jugendlichen eine wichtige Bedeutung.

Übergeordnete Faktoren wie die UN-Kinderrechtskonvention haben die Wahrnehmung der Rechte der Kinder in vielen Gesellschaften verändert und geprägt [12].

Zusatzinfo

UN-Kinderrechtskonvention [12]

Die UN-Kinderrechtskonvention wurde am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen und trat am 2. September 1990 in Kraft. Deutschland hat sie dann 1992 ratifiziert. Sie enthält insgesamt 40 Kinderrechtsartikel, aus denen hier die 10 wichtigsten Rechte als Grundrechte vorgestellt werden:

  1. Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht,

  2. Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit (Geburtsurkunde),

  3. Recht auf Gesundheit (ein Recht auf bestmögliche Gesundheit, evtl. im Widerspruch zum deutschen Gesundheitssystem und dessen Kassenleistungen),

  4. Recht auf Bildung und Ausbildung,

  5. Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung,

  6. Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln,

  7. Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens,

  8. Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung,

  9. Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause,

  10. Recht auf Betreuung bei Behinderung.

Die Bundesregierung hat die meisten Forderungen der Kinderrechtskonvention in deutsches Recht gegossen, es bleiben aber noch ungeregelte Feinheiten übrig, z. B. in der Umsetzung der Inklusion. Die Vereinten Nationen, in diesem Fall UNICEF, erheben regelmäßig in allen Ländern, die unterzeichnet haben, die Ausführung und Einhaltung der Kinderrechte und machen dadurch auch Aussagen zur Lebensqualität der Kinder in allen Staaten.


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Kinderbewusstsein – was ist das?

In Analogie zum Umweltbewusstsein könnten wir, als gesellschaftliche Grundhaltung, ein Kinderbewusstsein formulieren [13].

Wissen wir ausreichend genau, was ein Kind altersgerecht für eine förderliche Entwicklung benötigt? Kennen wir die hemmenden und unterstützenden Einflüsse? Wie oft spielt die Frage nach der Auswirkung unserer Entscheidungen und Handlungen auf die Kinder eine wesentliche Rolle?

Die Kinderrechtskonvention fordert von Staatengemeinschaften, dass Kinder bei allen politischen Entscheidungen, die sie mitbetreffen, angemessen beteiligt werden. Dies könnte eventuell durch einen Kinderbeauftragten in Analogie zu Gleichstellungsbeauftragten eingefordert werden oder bei einem Einbezug der Kinderrechte ins Grundgesetz berücksichtigt werden.

Auf der Grundlage eines Kinderbewusstseins könnten wir Abweichungen besser verstehen und definieren, die zur Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen beitragen.

Zusatzinfo

Die Kinderschutzleitlinie 2019 [5]

Die Kinderschutzleitlinie 2019 [5] beinhaltet Handlungsempfehlungen zum Schutz und zur Förderung von Kindern und Jugendlichen. Alle Fachkräfte aus den Bereichen des Gesundheitswesens, der Jugendhilfe und Pädagogik sollen sowohl für das Erkennen und den Umgang mit einer Kindesmisshandlung, -vernachlässigung oder einem sexuellen Missbrauch als auch für die Vermittlung von Unterstützungen bei Bedarfen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sensibilisiert und unterstützt werden. Eine rechtliche Grundlage ist das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (Bundeskinderschutzgesetz, § 4 KKG, 2012).

An der Entwicklung waren 82 Fachgesellschaften, Organisationen, Bundesministerien und Bundesbeauftragte beteiligt.

Damit gibt es jetzt eine Handreichung, die nicht nur für den medizinischen Sektor Gültigkeit hat, sondern für alle Berufsgruppen und Institutionen, die sich mit Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung beschäftigen. Schon durch das Bundeskinderschutzgesetz wurde 2012 der Auftrag für den Kinderschutz an alle weitergegeben: Kinderschutz geht alle an.


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Was ist zu tun, um zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung zu kommen?

Vorgehen bei dem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung (Überschneidungen zu weiteren Formen von Kindeswohlgefährdung bestehen):

  1. Genaue, wertfreie Dokumentation der Beobachtungen, die zum Verdacht führen: Unabhängig davon, um welche Form der Vernachlässigung es sich handelt, muss das Beobachtete dokumentiert werden. Auch wenn noch nicht klar ist, ob es sich tatsächlich um eine Vernachlässigung im Sinne einer Kindeswohlgefährdung handelt, muss möglichst genau beschrieben werden, was aufgefallen ist. Auch Beobachtungen über Verhaltensweisen, die positiv bewertet werden können, sind wichtig und zu dokumentieren.
    Im Bewusstsein, dass die Einschätzung einer Gefährdung auch von den persönlichen Vorstellungen und der kulturellen Prägung des Beobachters beeinflusst wird, ist eine möglichst nicht wertende Dokumentation wichtig. Im Austausch mit einer Fachkraft kann dann aus einem zweiten Blickwinkel die persönliche „Färbung“ des Beobachters minimiert werden.

  2. Erweiterte Anamnese [14] zur Sicherung oder Entkräftung des Verdachts: Um nicht nur Beobachtungen zu bewerten, muss versucht werden, durch eine ausführliche Anamnese bei den Sorgeberechtigten und je nach Alter auch in einem Gespräch mit dem Kind oder den Jugendlichen die Hintergründe zu erfahren. Für manch ein auffälliges Verhalten kann es dann doch noch eine plausible Erklärung geben. Die Anamnese erfordert die Fähigkeit des aktiven Zuhörens und auch von interkultureller Kompetenz. Strukturierte Anamnesebögen können dabei hilfreich sein. In Situationen, bei denen es um eine akute Gefährdung geht, sollte bei reduzierter Sprachkompetenz von Migranten ein Dolmetscher hinzugezogen werden, der neutral ist und in keiner persönlichen Beziehung zur betroffenen Familie steht.

  3. Einbeziehung von Sorgeberechtigten und Kindern/Jugendlichen in die Anamnese und die weiteren Schritte: Bei allen Schritten in Kinderschutzverfahren sind nicht nur die Sorgeberechtigten, sondern auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu beteiligen. Alle Seiten sollen angehört werden.

  4. Gemeinsames Erarbeiten eines Sicherungskonzepts oder von Maßnahmen, welche die Gefährdung beseitigen können (Diagnostik, Therapieplan, wer kann unterstützen?): Wenn man nach den Beobachtungen und der Anamnese zum Schluss kommt, dass eine Kindeswohlgefährdung besteht, so ist dies den Sorgeberechtigten mitzuteilen (s. Bundeskinderschutzgesetz § 4 KKG) und die Jugendlichen sind dabei einzubeziehen.


    Gemeinsam kann das weitere Vorgehen erörtert und definiert werden. Es ist sicherzustellen, dass eine akute Situation beseitigt wird (Sicherungskonzept), dabei wird schriftlich festgehalten, wer welche nächsten Schritte unternimmt: z. B. die Ärztin/der Arzt macht weitere Entwicklungsdiagnostik, die Kita wird gebeten, sich um Sprachförderung intensiv zu bemühen, die Eltern regeln die übermäßige Mediennutzung und führen wenigstens eine gemeinsame Mahlzeit am Tag ein, bei der über alles Erlebte gesprochen wird. Die Familie überlegt sich, ob sie Hilfen annehmen kann und will, z. B. von den Großeltern oder von einer Fachkraft aus der Jugendhilfe.
    Ein erneuter Termin wird vereinbart, um das bisher Erreichte zu kontrollieren.
    Es sollte sichergestellt werden, dass bei Nichterscheinen der Familie auch tatsächlich Konsequenzen erfolgen.

  5. Schriftliches Festhalten, wer wann sich wieder darum kümmert: Am besten unterschreiben die Eltern, die Jugendlichen und der Arzt/die Ärztin die vereinbarten Schritte und geben einen festen Termin mit oder halten fest, wer die Terminvereinbarung in der Hand behält.

  6. Wenn die Vereinbarungen nicht eingehalten werden oder die Gefährdung weiter besteht → Austausch mit einer insoweit erfahrenen Fachkraft zur Verifizierung der Gefährdung.
    Wenn die Familie nicht kooperativ ist, den nächsten Termin nicht einhält oder alle besprochenen Maßnahmen nicht umsetzt oder auch nicht umsetzen kann (z. B. wegen eigener Erkrankung oder kognitiver Probleme), muss erneut geprüft werden, ob die Gefährdung noch besteht. Ist dies der Fall, soll eine insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz eingeschaltet und befragt werden.
    Die insoweit erfahrenen Fachkräfte haben den Auftrag, Menschen zu beraten, die sich von Berufs wegen mit Kindern befassen und dabei eine Kindeswohlgefährdung beobachten. Die Beratung erfolgt anonym und findet in der Regel nicht mit einem Mitarbeiter des Jugendamts statt. Bezahlt wird die insoweit erfahrene Fachkraft aber durch das Jugendamt. Bitte informieren Sie sich, wer in Ihrem Bereich die für Sie als Ärztin/Arzt zuständige Fachkraft ist.

  7. Bei weiterem Bestehen der Gefährdung Einbeziehung des zuständigen Jugendamts zur weiteren Prüfung der Kindeswohlgefährdung: Wenn Sie im gemeinsamen Erörtern der bisher erhobenen Daten und Vorgehensweisen zu dem Schluss kommen, dass eine Kindeswohlgefährdung besteht, dann sind Sie berechtigt nach § 4 KKG, das Jugendamt in Kenntnis zu setzen, mit allen Daten und Fakten, die Sie zu dieser Einschätzung gewonnen haben. Nach dem Bundeskinderschutzgesetz haben Sie nur dem Jugendamt gegenüber das Recht, ihre ärztliche Schweigepflicht zu brechen, nicht gegenüber anderen Einrichtungen wie Schule, Kita oder Polizei.
    Bevor Sie das Jugendamt benachrichtigen, sollten Sie diesen Schritt den Sorgeberechtigten mitteilen. Die Sorgeberechtigten müssen nicht einverstanden sein, sollen aber informiert sein (z. B. mit folgender Formulierung: Ich mache mir über die weitere [gute] Entwicklung Ihres Kindes aus dem oder dem Grund große Sorgen. Da wir bisher gemeinsam nicht wesentlich weiter gekommen sind in der Umsetzung von Hilfen für Ihr Kind, werde ich jetzt aus dieser Sorge heraus das Jugendamt informieren und bitten, dass Sie von dort weitere Unterstützung und Hilfe bekommen).

  8. Notwendigkeit, ein gemeinsames Fallverständnis zu entwickeln, damit alle beteiligten Stellen an einem Strang ziehen können im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft: Beim Einschalten des Jugendamts („Meldung des Verdachts auf eine Kindeswohlgefährdung“ beim Jugendamt) ist es sehr wichtig, dass die Sozialpädagogin/der Sozialpädagoge, der die Meldung aufnimmt, richtig versteht, was Sie eigentlich beobachtet haben, was das derzeitige Problem ist und was dies aus Ihrer Sicht für die Zukunft in der Entwicklung dieses Kindes bedeuten kann und wird.
    Es ist nicht immer leicht, zu einem gemeinsamen Fallverständnis zu kommen, da Sie aus dem medizinischen Blickwinkel eine Diagnose stellen und in der Regel genaue Vorstellungen haben, was getan werden sollte, während das Jugendamt nicht nur das Kind mit seiner Diagnose sieht, sondern auch die ganze Familie einbezieht, besonders aber die Sorgeberechtigten zur Annahme von Hilfen überzeugen oder überreden muss.
    Die Einschätzung des Jugendamts selbst, welche Maßnahmen jetzt die richtigen sind, kann von Ihrer Einschätzung deutlich abweichen. Mit der Meldung an das Jugendamt haben Sie Verantwortung für die Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt als Wächteramt und damit an den Staat abgegeben. Das bedeutet aber nicht, dass Sie nicht im Hilfeprozess als behandelnde Ärztin/behandelnder Arzt mit Ihrem Wissen, Ihrer Autorität und auch Ihrem Vertrauensverhältnis zur Familie in die Verantwortungsgemeinschaft für das Kind miteinbezogen sind.
    Alle schon bestehenden, guten Zugangswege zu einer Familie können und sollen weiter genutzt werden.


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Welche weiteren Handlungsempfehlungen ergeben sich für die vernachlässigenden Bezugspersonen, wenn eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung festgestellt wurde?

Orientierung an der Kinderschutzleitlinie 2019 [5]:

  • Vernachlässigenden Personenberechtigten und Bezugspersonen sollen Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Reviktimisierung angeboten werden.

  • Maßnahmen für Personenberechtigte/Bezugspersonen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen sollen durch einen theoretischen Ansatz geprägt sein, der sich mit den Fragestellungen zu vernachlässigenden Verhaltens der Personenberechtigten/Bezugspersonen auseinandersetzt → z. B. Motivation der Personen/Bezugspersonen stärken, gefolgt von Eltern-Kind-Interaktion.

  • Die Therapie, Behandlung oder Einbindung der vernachlässigenden Personenberechtigten/Bezugspersonen sollen gezielt der Art der stattgehabten Kindesvernachlässigung angepasst sein. Theoretische Ansätze für Maßnahmen sollen Bezug nehmen auf das Fehlverhalten dieser Person, wie z. B. destruktives Erziehungsverhalten, Fehlerzuschreibung, dysfunktionales Bindungs- und Interaktionsmuster dieser Person mit dem Kind, sowie ein Training der Erziehungskompetenz dieser Person beinhalten.

  • Bei Maßnahmen für vernachlässigende Personensorgeberechtigte/Bezugspersonen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Reviktimisierung sollten Kinder und Jugendliche in dem Maße einbezogen werden, soweit sie dem zustimmen.


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Kernaussagen
  • Grundlage für ein umfassendes Verständnis, aber auch für die weiteren Maßnahmen sind Kenntnisse, was für die weitere Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen altersentsprechend förderlich ist (Kinderbewusstsein).

  • In der zur Sorge Anlass gebenden Beobachtung ist die individuelle Situation des Kindes/Jugendlichen und seines engen Umfelds zu betrachten.

  • Die Prognose, welche Probleme aus den Beobachtungen für die zukünftige Entwicklung wichtig sind, darf nicht vergessen werden.

  • Die für eine gute Entwicklung notwendigen Bedürfnisse verändern sich in den Lebensphasen.

  • Modifizierende Faktoren sind gesellschaftliche und kulturelle Variablen.

  • In den Lebensphasen von Kindern oder Jugendlichen verändert sich die Beziehung zu den nächsten Betreuenden, meist den Eltern, die immer ein wichtiger Faktor bleiben (s. [Abb. 1]).

  • Dafür sind, bis auf extreme Ausnahmesituationen, Verlaufsbeobachtungen erforderlich:

    • „Dran-Bleiben“ versus „Akut-Entscheidung“

  • Es bestehen Fortbildungsdefizite, insbesondere bei der emotionalen Vernachlässigung.

  • An weitere Kinder im gleichen Haushalt oder Betreuungskontext muss immer mitgedacht werden.

  • Lokale Strukturen im Sinne von „Verantwortungsgemeinschaften“ z. B. mit der Jugendhilfe sind wichtig.

  • Der Zugang zum zuständigen Jugendamt und zu einer insoweit erfahrenen Fachkraft im Kinderschutz sollte „gebahnt“ sein, man sollte sich bereits kennen, bevor es zu einem Kinderschutzfall kommt (regionale Netzwerke und Qualitätszirkel).

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Andreas Oberle, Stuttgart.


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Autorinnen/Autoren

Andreas Oberle

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Dr. med., geboren 1959 in Stuttgart. Medizinstudium in Ulm. Ärztliche Ausbildungsstationen: Kardiologie, Hämatologie und Onkologie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkten: Allgemeinpädiatrie, Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Neuropädiatrie, Sozialpädiatrie, Kinderschutz. Ärztlicher Direktor des Sozialpädiatrischen Zentrums am Olgahospital Klinikum Stuttgart. Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin.

Rose-Renate Nowotzin

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Dr. med., geboren 1953 in Tübingen. Medizinstudium in Tübingen. Ausbildung in Anästhesie und Intensivmedizin. Facharztausbildung in Kinder- und Jugendmedizin in Ludwigsburg. Niederlassung in Praxis Stuttgart, nach Familienpause medizinische Leitung einer Mutter-Kind-Klinik auf Wangerooge. Arbeit im Jugendärztlichen Dienst des Gesundheitsamts Stuttgart und als Kinderärztin im Kinderschutzteam Olgahospital Stuttgart. Freiberufliche Dozentin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Sozialwesen.

Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein.
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Andreas Oberle
Sozialpädiatrisches Zentrum
Olgahospital Klinikum Stuttgart
Kriegsbergstr. 72
70174 Stuttgart
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. September 2020

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Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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Abb. 1 Die Entwicklung und das Verhalten von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen werden wesentlich von der Beziehung zu den Eltern oder den nahen Bezugspersonen beeinflusst. Dabei gibt es jeweils positive und negative Einflüsse. Die Intensität nimmt im Laufe der Jahre ab, verschwindet aber nie ganz, auch wenn die Interaktionen und deren Auswirkungen immer weniger offensichtlich sind.