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DOI: 10.1055/a-0899-9334
Die Perspektive wechseln! – Die Betätigung und nicht das Individuum befunden
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
05 July 2019 (online)
- Individuelle Betrachtung von Betätigung überwinden
- Es braucht eine gemeinsame Vision
- Brücke zwischen Theorie und Praxis
- Prozessmodell gewährleistet den Übertrag in sieben Schritten
- Ein Profil der Betätigung „Haushaltsarbeit“ erstellen
- Gemeinsamer Nenner: das Tun
- Literatur
Die Occupational Science analysierte lange Zeit Individuen und ihre Erfahrungen mit Betätigungen. Wie es gelingen kann, diese Betrachtungsweise zu überwinden und stattdessen die Betätigung – zum Beispiel Haushaltsarbeit – zu befunden, hat Ergotherapeutin Dr. Danielle Hitch untersucht. Wir haben ihren Artikel aus dem Journal of Occupational Science nutzerfreundlich für Sie zusammengefasst.
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Zweifelsohne befinden wir uns in der Ergotherapie in einem Paradigmenwechsel. Manch einem gehen die Veränderungen in Richtung Betätigungsbasierung nicht schnell genug. Andere fühlen sich überrannt und finden diese „neue Mode“ zu theoretisch. Und man kann es ihnen nicht verdenken. Es ist schwer, den Überblick zu behalten, die komplexen Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Betätigung zu fassen und in die praktische ergotherapeutische Arbeit zu „übersetzen“.
An dieser Stelle setzt Ergotherapeutin Dr. Danielle Hitch mit ihrem Artikel im Journal of Occupational Science an. Darin zeigt sie, wie die Betätigungswissenschaft die Ergotherapiewissenschaft ([TAB. 1]) mit theoretischem Wissen füttern kann, um Ergotherapeuten für die Diskussionen der Zukunft zu stärken. Inwiefern sich die beiden Wissenschaften da rüber hinaus gegenseitig befruchten, zeigt die vorliegende nutzerfreundliche Zusammenfassung von Hitchs Artikel „Keeping occupation front and centre to address the challenges of transcending the individual“.
Individuelle Betrachtung von Betätigung überwinden
Laut Hitch fokussierte sich die Occupational Science lange Zeit auf die Analyse individueller Erfahrungen. Sie versucht dies nun zu ändern und die Betätigung anstelle des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Mit einem Perspektivenwechsel ist die potenzielle Gefahr verbunden, individuelle Erfahrungen zu vernachlässigen (Josephson 2016, zitiert in Hitch 2017). Darüber hinaus könnte es schwierig werden, valide Messinstrumente zu finden, welche die Erfordernisse von Betätigung messen, ohne das Individuum zu betrachten.
Ziel des Artikels von Hitch ist es daher, eine Herangehensweise darzustellen, die diese individuelle Betrachtungsweise von Betätigungen überwindet und dennoch folgende Aspekte beinhaltet:
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die Betrachtung von Personen und örtlichen Gegebenheiten
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die vier Dimensionen von Betätigung nach Ann Wilcock (Doing, Being, Becoming und Belonging)
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mögliche Auswirkungen von Betätigungen auf die individuelle Teilhabe
Betätigungen sind Dinge, die Menschen tun müssen, wollen und sollen.
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Es braucht eine gemeinsame Vision
Basis eines möglichen Frameworks soll laut Hitch (2017) die Definition von Betätigung der „International Society for Occupational Science“ (ISOS) sein. Ihr zufolge sind Betätigungen „die verschiedenen alltäglichen Aktivitäten, die Menschen als Einzelpersonen, in Familien und in Gemeinschaften unternehmen, um Zeit zu verbringen und Sinn und Zweck in ihr Leben zu bringen“. Betätigungen sind „Dinge, die Menschen tun müssen, wollen und sollen“. Die Occupational Science muss sich nach Meinung von Hitch mit dieser fundamentalen, gemeinsamen philosophischen Grundlage der Occupational Science und Ergotherapie identifizieren. Nur so kann sie die Veränderung zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung über Betätigung schaffen und dabei die zugrunde liegenden Annahmen und Werte der Ergotherapie berücksichtigen.
Ein solches Framework sollte nicht nur das Konzept der Betätigung berücksichtigen, sondern auch die Situation, in der die Betätigung auftritt. Außerdem muss es gewährleisten, dass Ergotherapeuten eine praktische Anwendung ableiten können. Es sollte zudem die Erkenntnisse aller Disziplinen nutzen, die sich bereits mit dem komplexen Wesen der menschlichen Betätigung beschäftigt haben. Diese Diversität birgt jedoch die Gefahr, dass ein „Patchworkteppich“ an Wissen anstelle einer gemeinsamen Vision in Form eines Modells, einer Theorie oder eines Standards entsteht. Ohne eine gemeinsame Vision finden wir uns in einem Paradigmenwechsel mit allen dazugehörigen Kontroversen (Kuhn 2012, zitiert in Hitch 2017).
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Brücke zwischen Theorie und Praxis
Die bekannten ergotherapeutischen Modelle enthalten Betätigung zwar als zentrales Konzept, wurden aber entwickelt, um die einzigartige Sichtweise der Ergotherapie in praktisches Handeln zu übersetzen und es zu leiten. Nach Meinung von Hitch muss ein Paradigma in der Occupational Science im Gegensatz dazu breitgefasste Annahmen und Perspektiven eines Betätigungsphänomens repräsentieren können. Daher stellt sie das „Pan Occupational Paradigm“ (POP) vor (Hitch et al. 2014, zitiert in Hitch 2017). Es soll das Wissen über menschliche Betätigung so bereitstellen, dass es der Occupational Science, der Ergotherapiewissenschaft sowie der Ergotherapie als Profession dienlich ist. Auf diese Weise spannt es eine Brücke zwischen Theorie und Praxis.
Das „Pan Occupational Paradigm“ (POP) besteht aus drei zentralen Elementen:
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Es fokussiert sich auf Menschen als „occupational beings“, also auf Personen, Bevölkerungsoder Personengruppen, die tätig sind und vier Dimensionen von Betätigung in sich tragen: Doing (das Tun), Being (das Sein), Becoming (das Werden) und Belonging (das Dazugehören). Diese Dimensionen wurden erstmals von Wilcock und Hocking 2015 geprägt und befinden sich laut Hitch in fortwährender Weiterentwicklung.
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Gesundsein (WellBeing) und Kranksein (IllBeing) stellt das POP als Kontinuum dar, das die Verbindung zwischen Betätigung und den Ergebnissen von Gesundsein aufzeigt. Im Ergebnis kann das Betätigen positiv (z. B. Gesundheit, Gerechtigkeit) oder negativ (z. B. Krankheit, Ungerechtigkeit) sein. Es ist immer einzigartig für das Individuum und seinen speziellen Kontext. Die Darstellung als Kontinuum drückt zudem aus, wie sich die Teilhabe an Betätigungen über den Lebenszyklus verändert und somit das Individuum bzgl. Gesundsein und Kranksein beeinflussen kann.
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Der Rolle der Ergotherapie wird im POP explizit Beachtung geschenkt. Dies ist weniger wichtig für die Occupational Science, hilft aber, den Fokus auf die Übertragbarkeit der gesammelten Erkenntnisse in die Praxis zu richten.
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Prozessmodell gewährleistet den Übertrag in sieben Schritten
Hitch erarbeitete ein zum POP passendes Prozessmodell, den „Integrating Theory, Evidence and Action Process“ (ITEA) (Hitch et al. 2014, zitiert in Hitch 2017). Er erlaubt es Ergotherapeuten, Theorie, Evidenz und Praxis auf stimmige Art und Weise zusammenzuführen ([ABB. 1]). Wie es die Übertragung in die Praxis gewährleistet, zeigt Hitch anhand des Beispiels „Haushalts arbeit“:
Betätigungen sind die verschiedenen alltäglichen Aktivitäten, die Menschen als Einzelpersonen, in Familien und in Gemeinschaften unternehmen, um Zeit zu verbringen und Sinn und Zweck in ihr Leben zu bringen.


Im ersten Schritt des ITEAProzesses formulierte Hitch die Forschungsfrage: Was können die Evidenzen peerreviewter Journals für das Verständnis von Betätigungswissenschaftlern und Ergotherapeuten zu den Dimensionen Doing, Being, Becoming und Belonging hinsichtlich der Betätigung Haushaltsarbeit beitragen?
Um dieser Frage nachzugehen, wählte Hitch im zweiten Schritt das POP als leitendes Rahmenmodell, um die gefundenen Evidenzen zu dem Thema Haushaltsarbeit einordnen und diskutieren zu können.
Im dritten Schritt war für Hitch zu klären, welche Methode geeignet ist, um die Forschungsfrage zu beantworten. Um sowohl qualitative als auch quantitative Forschungsergebnisse verschiedener Disziplinen einschließen zu können, erschien Hitch ein integratives Review als geeignetste Methode. Bei der Recherche in 59 Datenbanken verschiedener Disziplinen (Gesundheit, Sozialwissenschaften, Pädagogik, Kunst, Technologie und Business) fand sie insgesamt 1.092 Artikel. Nachdem sie diese Liste von Duplikaten bereinigt und die jeweiligen Abstracts auf die Eignung zur Beantwortung der Forschungsfrage gescreent hatte, blieben 48 Artikel übrig, die sie als Volltext las. Von diesen erfüllten 36 Artikel die Einschlusskriterien und stellten die finale Auswahl zur Beantwortung der Forschungsfrage dar.
Die Inhalte ordnete Hitch im vierten Schritt den Kategorien des POP zu: Doing, Being, Becoming und Belonging ([TAB. 2], S. 14).
Im fünften Schritt prüfte sie alle 36 Artikel mithilfe des „Mixed Methods Appraisal Tool“ (MMAT) auf ihre methodische Qualität (Pluye et al. 2011, zitiert in Hitch 2017).
Für die Beantwortung der Forschungsfrage kann festgehalten werden, dass die meisten gefundenen Artikel sich den Aspekten Doing (das Tun) und Being (das Sein) von Haushaltsarbeit in europäischen oder USamerikanischen Ländern beschäftigen. Das heißt, ihre Sichtweise auf diese Betätigung ist westlich geprägt. Dabei kommen die Erkenntnisse oft aus der quantitativen Ergebnisforschung.
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Ein Profil der Betätigung „Haushaltsarbeit“ erstellen
Der ITEAProzess sieht im sechsten Schritt vor, die gefundenen Daten aller Artikel zu verdichten, in Beziehung zueinander zu setzen und zu vergleichen ([ABB. 1]). Im darauffolgenden finalen Schritt werden sie wieder so zusammengesetzt, dass sie ein neues schlüssiges Konstrukt ergeben – in diesem Fall ein Profil der Betätigung „Haushaltsarbeit“ vor dem Hintergrund des gewählten Rahmenmodells POP. Dieses Profil bildet auch die Antwort auf die Forschungsfrage von Hitch: Es besteht aus Evidenzen peerreviewter Journals zu „Haushaltsarbeit“ und trägt zum Verständnis dieser Betätigung bei ([TAB. 2], S. 14).
In der Diskussion der Ergebnisse bemerkt Hitch, dass durch den ITEAProzess und die Verwendung des POP eine Evidenzsynthese stattgefunden hat. Diese erlaubt es, das Phänomen „Haushaltsarbeit“ als situatives Konzept zu zeichnen – und eben kein Bild eines Individuums bei der Hausarbeit. Es zeigt nicht nur evidenzbasiert, welche Kapazitäten, Fähigkeiten und welches Wissen nötig ist, um Hausarbeit auszuführen, sondern auch wer, was, wann, wie, in welchem Kontext und mit welcher Zufriedenheit oder Performanz bei der Haus arbeit tut.
Weiter wird durch das Profil deutlich, dass es noch einiges zu tun gibt in der Forschung rund um die Betätigung „Haushaltsarbeit“. So beschäftigen sich die meisten Studien mit dem Doing und Being, die Kategorien Becoming und Belonging des POP werden bis jetzt eher weniger beleuchtet. Auch beschäftigen sich die Studien mehrheitlich mit den negativen Auswirkungen auf die Gesundheit. Daher ruft Hitch dazu auf, das erstellte Profil zu Haushaltsarbeiten zu ergänzen und dazu beizutragen, die Betätigung und die durch sie be einflussten Personen und Orte genauer zu beschreiben.
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Gemeinsamer Nenner: das Tun
Ich persönlich glaube, dass es sehr nützlich sein kann, wenn man diesen verbindenden Weg einschlägt: zwischen Theorie und Praxis, zwischen Occupational Science und Ergotherapieforschung. Einen Weg, der die Unterschiede der beiden wissenschaftlichen Disziplinen und deren Effekte auf die Ergotherapie darstellen kann, ohne Trennendes zu stark zu betonen.
Aus einem Patchworkteppich wird eine gemeinsame Vision.
Wer hat nicht schon einmal im Rahmen einer ergotherapeutischen Behandlung das Thema „Haushaltsarbeit“ in irgendeiner Art und Weise angeschnitten? Aber seien wir ehrlich: Oft ist unser Verständnis von der Betätigung „Haushaltsarbeit“ durch eigene Erfahrungen als Individuum bzw. als Therapeutin geprägt.
Mir war vor der Studie von Hitch nicht bewusst, wie viel Literatur es zu dem scheinbar „banalen“ Thema bereits gibt. Es ist meines Erachtens nach genial, diese Evidenzen zusammengefasst in ein verständliches Modell zu formulieren, aus dem therapeutische Anwendungen genauso wie weiterführende Forschungsfragen abgeleitet werden können. Auf diese Weise ergibt sich aus dem „Patchworkteppich“ aus Evidenzen verschiedener Professionen eine gemeinsame Vision der Betätigung. Zusammenhänge zwischen Gesundheit und einer Betätigung können systematisch und evidenzbasiert aufgezeigt werden. Damit könnte auch jede Argumen tation rund um Ergotherapie und die Ergo therapie als Profession im Gesundheitssystem gestärkt werden.
Das löst zwar nicht die Probleme wie Überforderung oder die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Modellen, die ein Paradigmenwechsel mit sich bringt. Aber es macht vielleicht nachvollziehbar, warum er für die Weiterentwicklung der Profession gut sein kann. Der Artikel kann uns auch ins Gedächtnis rufen, dass es den Theoretikern und Praktikern unter uns um dasselbe geht: das Tun! Und vielleicht bringt ein genauer Blick auf die Tabelle auf der nächsten Doppelseite mit den Ergebnissen manch spannende Diskussion über das Konzept der Betätigung „Haushaltsarbeit“ hervor.
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Literatur
- 1 Hitch D.. Keeping occupation front and centre to address the challenges of transcending the individual. J Occup Sci 2017; 24: 494-509
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Literatur
- 1 Hitch D.. Keeping occupation front and centre to address the challenges of transcending the individual. J Occup Sci 2017; 24: 494-509



