Schlüsselwörter
Wirbelsäule - Immobilisation - Rettung - Präklinik
Abkürzungen
ABCDE:
Airway Breathing Circulation Disability Exposure/Examination
BWK:
Brustwirbelkörper
DISH:
diffuse idiopathische Skeletthyperostose
GCS:
Glasgow Coma Scale
HWS:
Halswirbelsäule
LWK:
Lendenwirbelkörper
LWS:
Lendenwirbelsäule
PHTLS:
Prehospital Trauma Life Support®
RR:
Blutdruck
SHT:
Schädel-Hirn-Trauma
Einleitung
Die adäquate präklinische Versorgung von Patienten mit relevanten Wirbelsäulenverletzungen
ist aufgrund der möglichen Auswirkungen dieser Verletzungen auf das weitere Leben
des Patienten essenziell. Ziel ist es, keine weiteren Schäden zu verursachen und durch
eine zügig eingeleitete Therapie die Rückbildungsfähigkeit, insbesondere bei Wirbelsäulenverletzungen
mit neurologischem Defizit, zu verbessern.
Epidemiologie und Ätiologie der Wirbelsäulenverletzung
Epidemiologie und Ätiologie der Wirbelsäulenverletzung
Annähernd 10 Millionen Unfallverletzte werden pro Jahr in Deutschland in der präklinischen
Notfallmedizin behandelt [1]. In den letzten 10 Jahren zeigt sich eine Inzidenz von relevanten Wirbelsäulenverletzungen
von ca. 9% [2]. Beim polytraumatisierten Patienten liegt die Inzidenz von schwerwiegenden Wirbelsäulenverletzungen
bei 34%, wobei bis zu 7,5% der Verletzten eine Rückenmarkläsion erleiden [3], [4]. Es fällt auf, dass sowohl thorakale als auch abdominelle Verletzungen häufig mit
Wirbelsäulenverletzungen assoziiert sind. Die Brust- und Lendenwirbelsäule stellt
mit etwa 80% den größten Anteil an den Verletzungen der Wirbelsäule dar.
Merke
Aufgrund der anatomischen Gegebenheiten ist der thorakolumbale Übergang, vor allem
das Segment BWK12/LWK1, der am häufigsten von Frakturen betroffene Wirbelsäulenabschnitt.
In Europa zeigt sich das Hochrasanztrauma als eine der häufigsten Ursachen für eine
Wirbelsäulenverletzung. Neben Verkehrsunfällen (37%) und Stürzen aus einer Höhe > 3
Meter (30%) lassen sich in den vergangenen Jahren zunehmend auch geriatrische Wirbelsäulenverletzungen
aufgrund von Bagatelltraumata beobachten [5], [6], [7]. Offene Wirbelsäulenverletzungen sind in Europa eine Rarität, werden jedoch häufig
bei Explosions- oder Schussverletzungen in Krisengebieten, bei terroristischen Anschlägen
und in Ländern mit liberaleren Waffengesetzen gesehen.
Entstehung und Einteilung von Wirbelsäulenverletzungen
Entstehung und Einteilung von Wirbelsäulenverletzungen
Verletzungen an der Wirbelsäule sind häufig durch ein Trauma mit großer Krafteinwirkung
verursacht. Die diskoligamentären Verletzungen werden von den knöchernen Läsionen
der Wirbelkörper unterschieden. Aufgrund des Verletzungsmechanismus lassen sich 3
Schädigungsarten beschreiben ([Abb. 1]):
-
Kompressionsverletzungen,
-
Flexions-/Extensionsverletzungen,
-
Translationsverletzungen.
Abb. 1 Mögliche Verletzungsarten an der Wirbelsäule.
a Kompressionsverletzungen.
b Flexions- und Extensionsverletzungen.
c Translationsverletzungen.(Quelle: Kandziora F, Schleicher P, Schnake K et al. Die
AOSpine-Klassifikation thorakolumbaler Wirbelsäulenverletzungen. Zeitschrift für Orthopädie
und Unfallchirurgie 2016; 154: 35 – 42)
Kompressionsverletzungen der Wirbelsäule
Typisches Verletzungsmuster für die Kompressionsverletzung an der Wirbelsäule ist
die axiale Stauchung der Wirbelsäule. Die Landung auf dem Gesäß nach einem Sturz oder
der Anprall des Kopfes gegen die Windschutzscheibe sind Beispiele für den typischen
Unfallmechanismus. Auch Kopfsprung-Unfälle in seichtes Wasser sind mit einem hohen
Risiko einer Wirbelsäulenverletzung, insbesondere an der Halswirbelsäule, verbunden.
Durch das plötzliche Abbremsen werden die axialen Stauchungskräfte auf die Wirbelsäule
weitergeleitet und führen dann im schwächsten Anteil (häufig im thorakolumbalen Übergang
oder in der subaxialen Halswirbelsäule) zu einer Kompressionsverletzung mit möglicher
Beteiligung der angrenzenden Bandscheibe ([Abb. 1 a]).
Distraktionsverletzungen der Wirbelsäule
Distraktionsverletzungen sind Kombinationsverletzungen aus knöchernen und/oder diskoligamentären
Verletzungen. Sie können bedingt sein durch eine Hyperflexions- oder Hyperextensionsbewegung
der Wirbelsäule. So kann es im Rahmen eines Auffahrunfalls zu einer Distraktion im
Halswirbelsäulenbereich kommen, wenn beispielsweise die Kopfstütze nicht adäquat eingestellt
ist und in der Folge der Kopf nach vorne und hinten schlagen kann ([Abb. 1 b]).
Translationsverletzungen der Wirbelsäule
Diese Verletzungen sind häufig Kombinationsverletzungen, wobei eine zusätzliche translatorische
oder rotatorische Komponente vorliegt. Typische Verletzungsbeispiele sind Hochrasanztraumata
im Straßenverkehr oder Sportverletzungen bei Skirennen. Verdrehbewegungen der Wirbelkörper
zueinander können hierbei zu komplexen Zerreißungen der diskoligamentären Strukturen
und zu Frakturen der begleitenden Wirbelkörper führen ([Abb. 1 c]).
Praxis
Einschätzung der Stabilität von Wirbelsäulenverletzungen
Ob eine vorliegende Verletzung der Wirbelsäule als stabil oder instabil zu werten
ist, kann am Unfallort nicht festgelegt werden. Hierzu ist eine adäquate Bildgebung
notwendig.
Präklinisch kann üblicherweise lediglich der Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung geäußert werden. Hierbei sollte die Differenzierung
zwischen dem Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung mit und ohne neurologisches
Defizit erfolgen. Dies ist insbesondere für die Entscheidung zum weiteren Transport
wichtig.
Merke
Potenziell wirbelsäulenverletzte Patienten mit neurologischen Ausfallerscheinungen
sollten zügig in eine Klinik mit der Möglichkeit einer sofortigen operativen Intervention
verbracht werden.
Ein Sonderfall ist der Patient mit ankylosierender Erkrankung der Wirbelsäule (z. B.
Morbus Bechterew/diffuse idiopathische Skeletthyperostose [DISH]). Liegt eine ankylosierende
Erkrankung der Wirbelsäule vor, verliert diese durch Ossifikationen der diskoligamentären
Strukturen zunehmend an Flexibilität. Dieser Prozess führt zu einer kyphotischen Degeneration
der Wirbelsäule. Kommt es bei diesen Patienten zu einem Trauma, ist die Wahrscheinlichkeit
für eine Fraktur im Sinne einer Distraktionsverletzung (Typ-B-Verletzung) deutlich
erhöht. Dies gilt vor allem für Verletzungen der Wirbelsäule im zervikothorakalen
und thorakolumbalen Übergangsbereich [8].
Pathophysiologie der Wirbelsäulenverletzung/Querschnittlähmung
Pathophysiologie der Wirbelsäulenverletzung/Querschnittlähmung
Die Pathophysiologie und das klinische Bild richten sich nach dem Ausmaß, der Instabilität
und der Höhe der Wirbelsäulenverletzung. Rückenmarkschädigungen resultieren aus Kompression,
Ischämie, Einblutung oder Durchtrennung. Sie können sich folgendermaßen äußern:
-
motorisch (betroffen sind efferente Bahnen),
-
sensorisch (betroffen sind afferente Bahnen) oder
-
vegetativ (betroffen ist der Sympathikus).
Eine detaillierte Differenzierung zwischen inkompletter und kompletter Querschnittlähmung
hat für das präklinische Management keine Konsequenz und tritt somit für die initiale
Notfallversorgung in den Hintergrund. Zu beachten ist lediglich die Unterteilung in
Tetra- und Paraparese bzw. Tetra- und Paraplegie, deren Ausprägung abhängig von der
Höhe und dem Ausmaß der Wirbelsäulenverletzung ist.
Definition
Nomenklatur motorischer Störungen bei vorliegender Querschnittlähmung
-
Tetraparese: inkomplette motorische Lähmung der 4 Extremitäten
-
Paraparese: inkomplette motorische Lähmung der unteren Extremitäten
-
Tetraplegie: komplette motorische Lähmung aller Extremitäten
-
Paraplegie: komplette motorische Lähmung der unteren Extremitäten
(nach [8], [9], [10])
Zusätzlich kann abhängig von der Höhe der Verletzung nicht nur die motorische Funktion
der Extremitäten, sondern auch die Gewährleistung einer suffizienten Atmung bei Verletzungen
der Hals- und Brustwirbelsäule oberhalb des 6. Brustwirbelkörpers betroffen sein.
-
Verletzungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule können durch Beeinträchtigung des
Atemzentrums in der Medulla oblongata eine Atemdepression verursachen.
-
Verletzungen im Bereich des 3. – 5. Halswirbelkörpers können eine insuffiziente Diaphragmainnervation
verursachen und damit die Atemmechanik beeinträchtigen.
-
Auch weiter kaudal gelegene Läsionen können durch eine gestörte Innervation der Atemhilfsmuskulatur
(Interkostalmuskulatur) Auswirkungen auf die Atmung haben, die notfallmedizinisch
kontrolliert und behandelt werden müssen.
Eine weitere gefürchtete Komplikation der akuten traumatischen Querschnittslähmung
in der Notfallmedizin ist der neurogene Schock.
Neurogener Schock und spinaler Schock
Cave
Die Begriffe „neurogener Schock“ und „spinaler Schock“ sollten vom professionellen
Notfallmediziner nicht verwechselt werden.
Definition
Neurogener Schock
Der neurogene Schock zählt zu den distributiven Schockformen mit einer hämodynamisch
relevanten Verteilungsstörung. Jede Wirbelsäulenverletzung oberhalb des 6. Brustwirbelkörpers
kann einen neurogenen Schock verursachen. Die pathophysiologische Grundlage hierfür
ist eine Imbalance zwischen dem Sympathiko- und Parasympathikotonus durch Verlust
der sympathikotonen Innervation [11]. Folge ist eine Vasoplegie mit Dilatation, dabei ist die Hypotonie klinisch mit
einer Bradykardie vergesellschaftet.
Definition
Spinaler Schock
Der spinale Schock beschreibt jede akute Rückenmarkläsion mit einem spinalen Ausfall
unterhalb einer Läsion, welche sich motorisch, sensibel und in einer Areflexie äußert
[8]. In der Initialphase des Querschnittsyndroms bieten die Patienten oft eine schlaffe
Muskellähmung und Areflexie im Rahmen des spinalen Schocks.
Untersuchung und Therapie von Patienten mit Wirbelsäulenverletzung
Untersuchung und Therapie von Patienten mit Wirbelsäulenverletzung
Die präklinische Beurteilung und Behandlung eines jeden Traumapatienten sollten standardisiert
nach dem ABCDE-Schema ([Abb. 2]) erfolgen [12]. Demnach erfolgt unter „E“ (Exposure/Environment) die orientierende Inspektion und
Palpation der Wirbelsäule.
Abb. 2 Das präklinische Vorgehen nach dem strukturierten ABCDE-Schema dient der schnellen
Untersuchung (U) und Therapie (T) von Schwerverletzten.
Merke
Bei bewusstlosen Patienten soll bis zum Beweis des Gegenteils von dem Vorliegen einer
Wirbelsäulenverletzung ausgegangen werden [13].
Bei kardiopulmonal stabilen Patienten werden anschließend im Rahmen des Secondary
Survey die Vervollständigung der Wirbelsäulenuntersuchung und Bestimmung der Verletzungshöhe
mitsamt der neurologischen Beteiligung durchgeführt.
Beginnend mit der Inspektion und anschließender Palpation wird auf Hämatome, Deformitäten,
Schwellungen, sichtbare oder tastbare Stufenbildungen, Muskelhartspann, Druck- oder
Klopfschmerz und Instabilitäten geachtet. Falls der Patient am Unfallort auf der Seite
liegend vorgefunden wird, kann bei stabilen Patienten die Untersuchung der Wirbelsäule
vorgezogen werden, um eine weitere Umlagerung zu vermeiden. Anschließend ist der orientierende
neurologische Status zu erheben, um die Höhe der Läsion zu evaluieren. In [Abb. 3] werden anatomische Landmarken als Hilfestellungen dargestellt und die Kennmuskeln
sowie Dermatome zur neurologischen Diagnostik aufgeführt.
Abb. 3 Anatomische Landmarken der Wirbelsäule.
a Anatomische Landmarken können zum Höhenvergleich von inspektorischen oder palpatorischen
Auffälligkeiten dienen.
b Für die Zuordnung der Verletzungshöhe sind Bewertung des motorischen Status der Kennmuskeln
sowie dermatombezogene sensorische Ausfälle zu überprüfen.
c Dermatome.(Quelle: Kreinest M, Goller S, Türk A. Präklinische Akutbehandlung von Wirbelsäulenverletzungen.
Notfallmedizin up2date 2015; 10: 117 – 132. doi:10.1055/s-0033-1358143)
)
Merke
Bei der Dokumentation wird das kaudalste gänzlich intakte Segment angegeben (Beispiel:
Paraplegie sub L3 bedeutet intakte Sensibilität an den ventralen Oberschenkeln beidseits
sowie volle Kniestreckung beidseits).
Das klinische Bild der Wirbelsäulenverletzungen variiert stark von bewegungsabhängigen
Schmerzen bei gehfähigen Patienten über sichtbare Deformitäten, Stufenbildungen bis
hin zum ausgeprägten neurologischen Defizit mit begleitender Blasen-Mastdarm-Störung
und Ateminsuffizienz. Ferner wird häufig ein dynamisches Bild mit progredientem neurologischem
Defizit beobachtet, weshalb die akkurate Dokumentation zu Ausprägung und Zeit wichtig
ist.
Zu den klinischen Leitsymptomen einer Wirbelsäulenverletzung zählen
-
Rückenschmerzen bei entsprechendem Unfallhergang,
-
Bewegungsschmerz bzw. -unfähigkeit,
-
sichtbare oder tastbare Stufenbildungen der Dornfortsatzreihe,
-
Hämatome oder paravertebrale Verhärtungen.
Verletzungen der Halswirbelsäule können mit einer Insuffizienz des Kopfhaltens sowie
Schluckbeschwerden bei prävertebralem Hämatom einhergehen.
Folgende differenzialdiagnostische Überlegungen sollten beim potenziell wirbelsäulenverletzten Patienten angestellt
werden:
-
Rückenschmerzen bei osteoporotischen oder degenerativen Veränderungen,
-
vorbekannte Myelopathien,
-
entzündliche Prozesse an der Wirbelsäule,
-
Vorliegen von Wirbelsäulenmetastasen.
Aber auch extravertebrale Ursachen wie die Aortendissektion oder der Myokardinfarkt
sollten bedacht werden, die durchaus auch Traumafolge (Aortendissektion bei Dezelerationstrauma)
oder sogar Auslöser (2,5% der Herz-Kreislauf-Stillstände ereignen sich in Fahrzeugen)
des eigentlichen Traumas sein können.
Fallbeispiel 1
Auf einer Baustelle ist ein Arbeiter aus ca. 2 Meter Höhe abgestürzt und mit dem Rücken
auf einer Baggerschaufel aufgeschlagen. Als das Rettungsteam eintrifft, erklärt der
Patient sofort, dass er seine beiden Beine kaum mehr spüre und auch nicht mehr bewegen
könne.
Ein Mitglied des Rettungsteams fixiert den Kopf des Patienten mit zwei Händen und
erklärt dem Patienten, dass zunächst eine standardisierte Untersuchung erfolgt. Die
strukturierte Untersuchung nach dem ABCDE-Schema bestätigt einen freien Atemweg sowie
eine gute Ventilation beider Lungen. Die Kreislauffunktion ist stabil. Die erste orientierende
neurologische Untersuchung (unter „D“) erhärtet den Verdacht auf eine Paraparese.
Die weitere Untersuchung zeigt außer einer mutmaßlichen Mittelhandfraktur rechts keine
weiteren Verletzungen.
Es erfolgt eine achsgerechte Umlagerung des Patienten zur Immobilisation mit begleitender
Inspektion der gesamten Wirbelsäule. Während des Transports in eine Klinik mit Wirbelsäulenzentrum
erfolgt der Secondary Survey. Es bestätigt sich eine Paraparese sub BWK 10 (taktile
Reize im Bereich des Bauchnabels spürt der Patient noch).
Präklinische Immobilisation
Präklinische Immobilisation
Indikationsstellung
Merke
Die Patientenrettung ist abhängig vom Zustand des Patienten und wird unterteilt in
-
sofortige Rettung,
-
schnelle Rettung und
-
schonende Rettung.
Die sofortige Rettung erfolgt bei akuter Lebensgefahr ohne Priorität der Immobilisation
der Wirbelsäule. Bei kardiopulmonal stabilem Patienten mit Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung
erfolgt eine zügige und schonende Rettung unter bestmöglicher Immobilisation der gesamten
Wirbelsäule. Die schnelle Rettung wird bei Patienten durchgeführt, deren Rettung einige
wenige Minuten Zeitverzögerung zugunsten einer zumindest teilweisen Immobilisation
der Wirbelsäule erlaubt. Vor allem die Manipulation an der Halswirbelsäule soll hierbei
minimiert werden.
Merke
Die Halswirbelsäule soll bei der schnellen und schonenden Rettung vor der eigentlichen
technischen Rettung immobilisiert werden [13]. Die Notwendigkeit zur Sofortrettung (z. B. Feuer, Explosionsgefahr, Reanimation)
stellt eine Ausnahme dar.
Bei der Behandlung von Traumapatienten erfolgen zunächst immer eine Immobilisation
der Halswirbelsäule ([Abb. 2]), sowie eine achsgerechte Lagerung der gesamten Wirbelsäule. Die Indikation, ob
die Immobilisation der Wirbelsäule nach der Rettung und nach der ersten Beurteilung
aufrechterhalten werden muss, soll anhand von Entscheidungsregeln erfolgen [13].
Die Anwendung der fünf NEXUS-Kriterien ([Tab. 1]) zur Entscheidungsfindung wird in den aktuellen Leitlinien empfohlen [13]. Demnach soll die Halswirbelsäule dauerhaft immobilisiert werden, sobald mindestens
ein Kriterium erfüllt ist. Die NEXUS-Studie [14] umfasste insgesamt 34 069 Patienten aus 21 amerikanischen Traumazentren und wies
eine Sensitivität von 99,6% auf.
Tab. 1 NEXUS-Kriterien.
Einteilung
|
Kennzeichen
|
1
|
Druckschmerz über der Mittellinie der Halswirbelsäule
|
2
|
fokal neurologisches Defizit
|
3
|
Vigilanzminderung: GCS (Glasgow Coma Scale) < 15
|
4
|
Hinweis auf Intoxikation
|
5
|
schwere Verletzung, die von einer Verletzung der Halswirbelsäule ablenken könnte
|
Die Studie zur Canadian C-Spine Rule ([Abb. 4]), welche 8924 Patienten aus 10 kanadischen Traumazentren eingeschlossen hat, zeigte
eine noch höhere Spezifität und Sensitivität [15].
Abb. 4 Flussdiagramm zur Indikationsstellung der Immobilisation der Halswirbelsäule nach
der Canadian C-Spine Rule (.(Quelle: Kreinest M, Goller S, Türk A. Präklinische Akutbehandlung
von Wirbelsäulenverletzungen. Notfallmedizin up2date 2015; 10: 117 – 132. doi:10.1055/s-0033-1358143)
)
In den letzten Jahren wurde die Praktikabilität der beiden genannten Entscheidungsregeln
häufig hinterfragt. In der Kritik standen die isolierte Anwendbarkeit bei Patienten
mit vollem Bewusstsein sowie die fehlende Berücksichtigung des kardiopulmonalen Zustands
des Patienten. Ferner werden Erkenntnisse der letzten Jahre im Zusammenhang mit der
Anlage einer Zervikalstütze nicht berücksichtigt.
Das E. M. S. IMMO Protocol ([Abb. 5]) ist eine aktuelle Entscheidungsregel speziell für die präklinische Immobilisation,
basierend auf der aktuellen wissenschaftlichen Literatur und den aktuellen internationalen
Leitlinien. Es basiert auf dem bekannten ABCDE-Schema und berücksichtigt so den kardiopulmonalen
Zustand des Patienten sowie die Besonderheiten eines Schädel-Hirn-Traumas. Nur bei
stabilen Patienten erfolgt die Indikationsstellung anhand eines Flussdiagramms.
Abb. 5 Das E. M. S. IMMO Protocol zur Indikationsstellung der präklinischen Wirbelsäulenimmobilisation
berücksichtigt anhand des ABCDE-Schemas den aktuellen Patientenzustand. Es wird nach
dem ABCDE-Schema vorgegangen und nur in Ausnahmefällen wie bei fehlenden personellen
Ressourcen auf die In-Line-Stabilisierung verzichtet. Bei instabilen Patienten wird
allenfalls eine minimale Immobilisation angewendet, ansonsten erfolgt der zügige Transport
in die nächste geeignete Klinik. Liegt eine herabgesetzte Beurteilbarkeit oder eines
der aufgeführten Risiken für Wirbelsäulenverletzungen vor, so wird die Vollimmobilisation
präklinisch angestrebt. Nur wenn der Patient adäquat beurteilbar ist, keines der aufgelisteten
Risiken der WS-Verletzungen vorliegt und die klinische Untersuchung bezüglich der
Wirbelsäule unauffällig ist, sollte auf eine Immobilisation verzichtet werden.(Quelle:
Kreinest M, Gliwitzky B, Grützner PA, Münzberg M. Untersuchung der Anwendbarkeit eines
neuen Protokolls zur Immobilisation der Wirbelsäule. Notfall Rettungsmed 2016; 19:
473 – 48 [rerif])
Durchführung der präklinischen Immobilisation
Auch bei der Durchführung der präklinischen Immobilisation von Traumapatienten ergaben
sich aufgrund neuer Erkenntnisse in den letzten Jahren gewisse Änderungen.
Bei der Immobilisation der Halswirbelsäule sollte beachtet werden, dass trotz adäquater
Anlage einer harten Zervikalstütze eine individuell unterschiedliche Restbeweglichkeit
verbleibt. Diese kann durch eine komplette Immobilisierung des gesamten Körpers in
Rückenlage mit vollständiger Fixation des Kopfes und anliegender harter Zervikalstütze
reduziert werden ([Abb. 6 a]).
Abb. 6 Immobilisation der Halswirbelsäule.
a Korrekte Immobilisation der Halswirbelsäule.
b Modifizierte Immobilisation ohne Zervikalstütze bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma mit
Hirndruckanstieg.
c Modifizierte Immobilisation ohne Zervikalstütze und mit 30°-Oberkörperhochlagerung
bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma mit Hirndruckanstieg.
Merke
Bei dem Verdacht auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma wird die Anlage einer Zervikalstütze
kontrovers diskutiert, da es zu einer Erhöhung des intrakraniellen Drucks kommen kann
[13], [16], [17].
Da schwere Schädel-Hirn-Traumata häufig mit Verletzungen der Halswirbelsäule assoziiert
sind, sollte aber dennoch eine Ruhigstellung der Halswirbelsäule erfolgen. Gibt es
bei einem Patienten Hinweise auf einen gesteigerten Hirndruck (s. Übersicht) sollte
eine alternative Immobilisationsmethode ohne Zervikalstütze erwogen werden. Als alternative
Immobilisationsmethode kann die 30°-Oberkörperhochlagerung in einer Vakuummatratze
mit zusätzlichen Headblocks (alternativ auch durch eine andere Art der Polsterung)
erfolgen ([Abb. 6 b], [Abb. 6 c]).
Übersicht
Hinweise auf eine Steigerung des intrakraniellen Drucks bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma
mögliche Hinweise
-
zunehmende Vigilanzminderung
-
Abfall der Glasgow Coma Scale um ≥ 2 Punkte
-
verzögerte Pupillenreaktion
-
Entwicklung einer Hemiparese
sichere Hinweise
-
beidseitig dilatierte Pupillen
-
Anisokorie bei Vigilanzminderung
-
Beuge- und Strecksynergismen, Krampfanfälle
-
Cushing-Trias:
-
Hypertension
-
Bradykardie
-
pathologische Atemmuster
In jedem Fall ist es essenziell, auf eine traktionsfreie In-Line-Immobilisation zu
achten.
Die Rumpffixation muss der Fixierung der Halswirbelsäule vorangehen, weil ansonsten
eine Manipulation der Halswirbelsäule möglich wäre.
Praxis
Immobilisation der „versteiften“ Wirbelsäule
Cave: Bei Vorliegen einer Fraktur der Wirbelsäule und begleitender ankylosierender
Erkrankung (z. B. Morbus Bechterew) kann die Immobilisierung auf dem Spineboard oder
die Anlage einer harten Zervikalstütze eine neurologische Symptomatik verschlimmern
[18] und sollte nicht erzwungen werden.
Etablierte Methoden der Ganzkörperimmobilisation sind die Vakuummatratze sowie das
Spineboard mit Gurtspinne und Headblocks. Das Spineboard ist durch seine starre Eigenschaft
und Leichtigkeit geeignet für eine Patientenrettung aus Gefahrensituationen, allerdings
aufgrund der obigen Nachteile wie Entwicklung von Druckstellen über eine längere Zeit
nicht geeignet für den Transport zur entsprechenden Klinik. Die Vakuummatratze hat
den Vorteil, dass eine Schädel-Hirn-Trauma-gerechte 30°-Oberkörperhochlagerung sowie
eine schmerzärmere und komfortablere Lagerung möglich sind. Ferner wird durch die
an den Körper angepasste Immobilisierung die Lendenlordose stabilisiert. In [Tab. 2] sind Vor- und Nachteile dieser beiden Immobilisierungsmethoden nochmals zusammengefasst.
Tab. 2 Vorteile (+) und Nachteile (−) von Spineboard und Vakuummatratze.
|
Spineboard
|
Vakuummatratze
|
LWS = Lendenwirbelsäule; SHT = Schädel-Hirn-Trauma
|
Patientenrettung
|
+
|
–
|
Patiententransport
|
–
|
+
|
LWS-Lordosenstabilisierung
|
–
|
+
|
SHT-geeignet
|
–
|
+
|
schmerzarme Lagerung
|
–
|
+
|
Verursachung von Druckstellen
|
+
|
–
|
Komfort
|
–
|
+
|
Merke
Für den Transfer eines liegenden Patienten können neben der Schaufeltrage auch das
Log-Roll-Manöver sowie die Lift-and-Slide-Technik eingesetzt werden. Beide Techniken
werden in der Fachliteratur bezüglich Personalaufwand und Manipulation der Wirbelsäule
umstritten diskutiert [19].
Wird die Intubation vor oder während des Transports notwendig, so sollte diese unter
Abnahme der Zervikalstütze unter manueller In-Line-Immobilisierung der Halswirbelsäule
erfolgen. Hilfsmittel wie beispielsweise die Videolaryngoskopie oder andere Intubationshilfen
sind in ihrer Verfügbarkeit regional unterschiedlich vorhanden, sollten aber genutzt
werden, um Manipulationen an der Halswirbelsäule auf ein Minimum zu reduzieren.
Fallbeispiel 2
Bei einem schweren Verkehrsunfall wird ein nachgefordertes Rettungsteam vom leitenden
Notarzt mit der Behandlung eines schwerverletzten Patienten betraut. Ein Ersthelfer
stabilisiert den Kopf des Patienten. Ein Guedel-Tubus wurde vom ersteintreffenden
Notarzt während der Triage eingelegt. Der Patient blutet am Kopf und zeigt Beuge-
und Strecksynergismen. Auf die Ansprache der Teammitglieder antwortet der Patient
nicht. Der Atemweg ist jetzt frei. Die Atmung ist verlangsamt und unregelmäßig. Beide
Lungen sind belüftet. Der Kreislauf erscheint stabil. Es besteht eine Anisokorie.
Das Rettungsteam entscheidet sich für die Einleitung einer Narkose mit Intubation
bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Aufgrund der Hinweise auf einen erhöhten Hirndruck
erfolgt die Immobilisation in der Vakuummatratze unter Stabilisierung des Kopfes mit
Einmaldecken und Tape. Dann erfolgt der zügige Transport in eine Klinik mit Neurochirurgie.
Weiterführende präklinische Behandlung bei Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen
Weiterführende präklinische Behandlung bei Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen
Bei vorliegendem Wirbelsäulentrauma sollten weitere Maßnahmen in die Therapie einfließen.
So steht nach dem ABCDE-Schema unter dem Punkt „E“ neben der weiteren Untersuchung
auch der Wärmeerhalt im Vordergrund. Zudem sollte neben einer bedarfsgerechten Schmerztherapie
an eine adäquate und dem kardiopulmonalen Status des Patienten angepasste Infusionstherapie
gedacht werden.
Die Applikation von Glukokortikoiden hat in der präklinischen Versorgung von Wirbelsäulenverletzten
keinen Stellenwert mehr.
Handelt es sich bei dem wirbelsäulenverletzten Traumapatienten auch um einen Polytraumapatienten
(mehrfachverletzter Patient, bei dem eine Verletzung oder die Kombination der einzelnen
Verletzungen lebensbedrohlich sind), so ändert sich der Behandlungsalgorithmus prinzipiell
nicht. Weiterhin erfolgt die Behandlung nach den PHTLS-Prinzipien unter Berücksichtigung
der Wirbelsäulenimmobilisierung. Es gilt jedoch das Prinzip
Merke
„Treat first what kills first“.
Dementsprechend treten Bemühungen zur wirbelsäulenprotektiven Behandlung vor dem Hintergrund
einer kardiopulmonalen Instabilität in den Hintergrund. Eine minimale Immobilisation
(beispielsweise Halskrause) kann in diesen Fällen angewendet werden, darf aber die
Behandlung potenziell lebensbedrohlicher Verletzungen oder den Transport des Patienten
keinesfalls verzögern.
Beim Vorliegen eines traumatisch bedingten Herz-Kreislauf-Stillstands ist die Diagnose
und Therapie einer möglichen Wirbelsäulenverletzung zumindest bis zur Stabilisierung
des Patienten obsolet [20].
Transport und Auswahl der Zielklinik
Transport und Auswahl der Zielklinik
Bei präklinisch festgestelltem neurologischem Defizit oder Verdacht auf eine Rückenmarkbeteiligung
ist der sofortige Transport in ein Wirbelsäulenzentrum bzw. überregionales Traumazentrum
mit Expertise auf dem Gebiet der Paraplegiologie indiziert. Hierzu kann die frühzeitige
Anforderung eines Rettungshubschraubers sinnvoll sein, wenn der Transport mit einem
bodengebundenen Rettungsmittel zu zeitintensiv ist. Zudem ist der luftgebundene Transport
schonender für den Patienten und bei Wirbelsäulentrauma zu empfehlen. Dennoch gilt
hier zu beachten, dass durch die Einbindung des Rettungshubschraubers keine Verzögerung
in der Verletztenversorgung auftritt.
Bei dem Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung ohne neurologisches Defizit sollte
der Transport in das nächstgelegene Krankenhaus mit Kapazität einer radiologischen
Bildgebung und operativen Versorgung angestrebt werden. Nach Möglichkeit sollte hier
zumindest ein regionales Traumazentrum anvisiert werden. Nach Primärversorgung und
eventueller Überschreitung der lokalen Kapazitäten kann eine zügige Sekundärverlegung
innerhalb des Traumanetzwerkes erfolgen.
Es ist generell zwischen einer Primärversorgung in einem überregionalem Traumazentrum
und einer Erstversorgung mit anschließender Sekundärverlegung abzuwägen. Faktoren,
die hier eine Rolle spielen, sind evtl. weitere Verletzungsmuster außerhalb der Wirbelsäule.
Zudem sollte beachtet werden, dass die frühzeitige („same day surgery“) operative
Dekompression bei vorliegender Neurologie im Vergleich zur späten operativen Behandlung
und konservativen Therapie mit einem deutlich verbesserten Outcome des Patienten verbunden
ist [21].
Kernaussagen
-
Rund 10% aller Unfallverletzten ziehen sich eine schwere Wirbelsäulenverletzung zu.
-
Beim polytraumatisierten Patienten ist das Risiko für eine Verletzung an der Wirbelsäule
deutlich erhöht.
-
Der neurogene Schock ist eine distributive Schockform, bei welcher es aufgrund eines
Verlusts des Symphathikotonus zu einer Hypovolämie und Bradykardie kommt.
-
Der spinale Schock beschreibt jede Rückenmarkläsion, welche zu einem sensomotorischen
Ausfall führt. In der Initialphase des Querschnitts ist der spinale Schock durch eine
schlaffe Muskellähmung und Areflexie gekennzeichnet.
-
Traumapatienten mit Verdacht auf Wirbelsäulenverletzung werden nach dem ABCDE-Schema
untersucht und behandelt.
-
Die neurologische Untersuchung steht der initialen Untersuchung und Erhaltung der
Vitalparameter immer hintenan.
-
Neurologische Defizite weisen häufig eine Dynamik auf, weshalb die kontinuierliche
Re-Evaluation essenziell ist.
-
Die Indikation zur präklinischen Immobilisation soll anhand einer Entscheidungsregel
(NEXUS-Kriterien, Canadian C-Spine Rule, E. M. S. IMMO Protocol) getroffen werden.
-
Die alleinige Verwendung einer Zervikalstütze ist für eine adäquate Immobilisation
der Halswirbelsäule nicht ausreichend. Eine ausreichende Immobilisation der Halswirbelsäule
ist nur durch die Ganzkörperimmobilisation zu erreichen.
-
Eine adäquate Immobilisation der Wirbelsäule kann nach aktuellem Standard nur durch
eine Ganzkörperimmobilisation in Rückenlage mit kompletter Fixierung des Kopfes und
des Rumpfes erreicht werden.
-
Bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma ist die Anlage einer Zervikalstütze
umstritten.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist PD Dr. Dr. Michael Kreinest, Ludwigshafen.