Hintergrund
Laut Lehrbuch dauert eine Schwangerschaft 280 Tage bzw. 40 + 0 SSW. Mit dem Begriff
Terminüberschreitung (TÜ) wird der Zeitraum nach dem errechneten Geburts- bzw. Entbindungstermin
(ET) bis zur SSW 42 + 0 bezeichnet. Ab SSW 42 + 0 spricht man von einer Übertragung
[12].
In Deutschland sind im Jahr 2017 rund 37,6 % der Kinder nach SSW 40 + 0 geboren worden.
Bei 33,3 % davon wurde die Geburt aufgrund von Terminüberschreitung eingeleitet. Die
Einleitung der Geburt bei TÜ zählt damit zu den häufigsten Interventionen in der Geburtshilfe
in der BRD [17]. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG)
empfehlen, betroffenen Frauen die Geburtseinleitung ab SSW 41 + 0 anzubieten und ab
SSW 41 + 3 zu empfehlen [6].
Der Trend zur Geburtseinleitung bei TÜ wird kontrovers diskutiert. Tatsächlich gibt
es wenig Evidenz zur optimalen Dauer einer Schwangerschaft [20]
[24]
[23]. Der Zeitpunkt des natürlichen Geburtsbeginns hängt u. a. von neuro-hormonalen Kettenreaktionen
ab. Diese sind durch individuelle und genetisch programmierte Reifungsprozesse beeinflusst,
was sich in einer unterschiedlich langen Schwangerschaftsdauer von Frau zu Frau manifestiert
[3]
[30].
Ursachen für eine Überschreitung des errechneten Termins
Ursachen für eine Überschreitung des errechneten Termins
Parität und Alter der Schwangeren haben Einfluss auf die Schwangerschaftsdauer. Im
Vergleich zu Mehrgebärenden und jüngeren Schwangeren wurde bei Erstgebärenden und
älteren Schwangeren häufiger eine Überschreitung des Geburtstermins beobachtet [27]. Ebenso ist ein hoher Body-Mass-Index mit einer Überschreitung des errechneten Geburtstermins
assoziiert [16]
[21]. Bei Frauen, die in einer früheren Schwangerschaft den errechneten Geburtstermin
überschritten haben, besteht ein 30-40 % höheres Risiko für eine Terminüberschreitung
bei erneuter Schwangerschaft [27]. Studien zeigen außerdem, dass afro-amerikanische Frauen häufiger Frühgeburten (< 37 + 0)
erleben. Die statistisch gesehen kürzere Schwangerschaftsdauer in dieser Gruppe wird
jedoch eher mit sozioökonomischer Benachteiligung als mit ethnischer Herkunft in Verbindung
gebracht [35]. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Ursache für die Diagnose einer Überschreitung
des Geburtstermins auch in einer fehlerhaften Bestimmung desselben liegen kann [2]. Geburtstermine, die per frühem Ultraschall bestimmt werden, sind in der Regel akkurater
als die Berechnung nach der jüngsten Periode [46].
Abb. 1 Einordnung der Begriffe Termingeburt, errechneter Geburtstermin, Terminüberschreitung
und Übertragung laut S1 Leitlinie: Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung.
(Quelle: DGGG 2014 [6])
Risiko Totgeburt
Als häufigster Grund für eine Einleitung der Geburt bei TÜ wird das Vermeiden einer
Totgeburt genannt [6]
[11]
[12]
[34]. Eine Totgeburt nach Terminüberschreitung ist ein äußerst seltenes Ereignis. Abhängig
von der Berechnungsgrundlage liegt das Risiko in SSW 41 + 0 bei etwa 1,7 Totgeburten
je 1000 Geburten oder aber bei 1,3 Totgeburten je 1000 fortbestehenden Schwangerschaften.
In SSW 42 + 0 liegt das Risiko bei etwa 1,9 Totgeburten je 1000 Geburten oder aber
bei 1,6 Totgeburten je 1000 fortbestehenden Schwangerschaften [15]. Das Risiko für eine Totgeburt steigt ab SSW 37 + 0 leicht an, bleibt jedoch bis
SSW 42 + 0 relativ gering [31].
Erstgebärende, Raucherinnen und Schwangere mit hohem BMI sowie ältere Schwangere haben
ein erhöhtes Risiko für eine Totgeburt [14]
[37]. Die Reservekapazität der Plazenta zum Ende der Schwangerschaft ist ein weiterer
Einflussfaktor [38]
[43]. Wenn eine plazentare Ursache für eine Totgeburt ausgeschlossen werden kann, bleibt
die Ursache für das Versterben eines Kindes in utero nach ET oft unbekannt [7].
Durch die nach TÜ vorgesehenen CTG- und US-Kontrollen gelingt es nicht zufriedenstellend,
gefährdete Kinder zu identifizieren, die von einer Geburtseinleitung profitieren könnten
[34]. Überwachungsmodelle wie das Growth Assessment Programm und das Kick-Chart-Modell, deren Anwendung in England und in den Niederlanden zu einem signifikanten Rückgang
der Rate an Totgeburten geführt hat, konnten sich in Deutschland bisher nicht etablieren
[8]
[39].
Aktuelle Analysen zeigen, dass die Totgeburtenrate in Deutschland in den vergangenen
15 Jahren fast gleich geblieben ist, während der Anteil an Geburtseinleitungen von
16,5 % im Jahr 2005 auf 21,7 % in 2017 gestiegen ist [17]
[31]. Diese Evidenz spricht nicht klar für eine Senkung der Totgeburtenrate durch eine
routinemäßige Geburtseinleitung. Daher ist es wichtig, die Risiken einer Geburtseinleitung
im Vergleich zur Alternative, dem abwartenden Vorgehen, genau zu betrachten.
Abb. 2 Fetale Mortalität bei eingeleiteten und nicht eingeleiteten Einlingsschwangerschaften > 36 + 6
SSW in Schwangerschaften pro 100 Entbindungen. (Quelle: Schwarz C, Schäfers R, Loytved
C et al. Temporal trends in fetal motality at and beyond term and induction of labor
in Germany 2005-2012. Data from German routine perintal monitoring. Gynecology & Obstetrics
2016; 335-343 [31])
Risiken medikamentöser Geburtseinleitung
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hebt die Wichtigkeit des spontanen Geburtsbeginns
für den weiteren physiologischen Verlauf der Geburt hervor [47].
Grund hierfür ist, dass eine Geburtseinleitung, wie jede Intervention, die in den
natürlichen Ablauf der Geburt eingreift, zahlreiche Risiken mit sich bringt. Häufig
kommt es zu einer Interventionskaskade, die zu einem unbefriedigenden Geburtsverlauf
sowie zu einer längeren Latenzphase führen kann [33]
[42]. Eine Geburtseinleitung war in einigen Studien mit einer höheren Rate weiterer Geburtsinterventionen
und Risiken assoziiert. Insgesamt ist die Ergebnislage jedoch inkonsistent.
Zu den Interventionen gehören PDA und Oxytocininfusionen zur Anregung der Wehentätigkeit
[4]. Das Risiko einer Sectio bei Erstgebärenden nach einer Geburtseinleitung wurde aufgezeigt
[5]
[18]
[40]
[44], konnte aber in aktuellen Studien nicht bestätigt werden [25]
[36]
[29]. Weitere Risiken können eine höhere postpartale Blutungsrate [19]
[28], die Hyperstimulation mit fetaler pathologischer Herzfrequenzveränderung, vermehrte
Schmerzen bei der Gebärenden, eine Uterusruptur bei Gabe von vaginalem Prostaglandin
E2, vermehrter Mekonium-Abgang bei oraler Verabreichung von Misoprostol oder eine
Fruchtwasserembolie sein [1]
[22]
[26].
Warum Abwarten eine sinnvolle Alternative sein kann
Warum Abwarten eine sinnvolle Alternative sein kann
Die Wahrscheinlichkeit für spontane Wehentätigkeit im Zeitraum von SSW 41 + 0 bis
SSW 41 + 3 liegt bei etwa 60 %. Bis zur vollendeten 42. SSW liegt diese Wahrscheinlichkeit
bei etwa 90 %. Für Mehrgebärende ist der Prozentsatz sogar noch höher. Es ist also
sehr wahrscheinlich, dass die Geburt mit spontaner Wehentätigkeit vor der 42. vollendeten
SSW beginnt [5]
[9]
[15].
Wesentlich sind die Auswirkungen einer Geburtseinleitung auch auf das Geburtserleben
der Frau. Schwangere fühlen sich oft nicht adäquat in den Entscheidungsprozess für
eine Geburtseinleitung einbezogen und geben an, hierdurch das Gefühl der Autonomie
und Eigenverantwortung für ihre Geburt einzubüßen [4].
Beratung von Frauen
Ein positives Geburtserleben kann eine lebenslange Ressource für Frauen sein, während
negatives Geburtserleben im schlimmsten Fall traumatisieren kann [13]
[41]. Allerdings ist ein intrauteriner Fruchttod bei Terminüberschreitung ein ebenso
traumatisches Erlebnis, worüber Schwangere aufgeklärt werden sollten.
Es ist deshalb wichtig, dass die Hebamme die Frau dabei unterstützt, eine informierte
Entscheidung auf Grundlage von Evidenz und unter Berücksichtigung ihrer individuellen
Bedürfnisse zu treffen. Hierzu ist es notwendig, aber nicht ausreichend, dass Hebammen
mit den aktuellen Leitlinien und Empfehlungen vertraut sind.
Die S1-Leitlinie zum Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung der DGGG von 2010 wurde seit 2014 nicht mehr überarbeitet [6]. Da 80 % der Studien, auf die sich die Leitlinie bezieht, zehn oder mehr Jahre alt
sind, spiegeln diese Empfehlungen den aktuellen Wissensstand zum Thema Terminüberschreitung
nur unzulänglich wider. Um Frauen auf Grundlage aktueller Evidenz beraten zu können,
ist es daher wichtig, dass sich Hebammen mit dem aktuellen Forschungsstand zum Thema
Geburtseinleitung bei Überschreiten des errechneten Termins auseinandersetzen.
Ziel desvorliegenden integrativen Literaturreviews war es, Ergebnisse von aktuellen
und qualitativ hochwertigen Studien zusammenfassend darzustellen. Zum Thema Geburtseinleitung
bei physiologischer Schwangerschaft sollte ein evidenzbasierter und aktueller Überblick
zum Forschungsstand gegeben werden.
Das Integrative Literaturreview ermöglicht die Einbeziehung verschiedener Studiendesigns und empirischer Literatur
zur Beantwortung von Forschungsfragen [45]. Die Recherche wurde in den sechs gängigsten medizinischen Datenbanken durchgeführt.
Einschluss- und Ausschlusskriterien wurden genau definiert. So wurde u. a. nach physiologischen
und risikoarmen Einlingsschwangerschaften gesucht, bei denen die Einleitung ausschließlich
aufgrund von TÜ induziert war. Von 42 identifizierten Studien wurden nur 7 als relevant
mit hoher Qualität eingestuft und verwendet.
Daten der ausgewählten Studien wurden für mütterliches und kindliches Outcome getrennt
beschrieben und in Kategorien eingeteilt (u. a. perinatale Mortalität, neonatale Morbidität,
Geburtsmodus, Wehen, Analgesie, subjektives Erleben). Die Studien wurden anschließend
diskutiert, um einen Zusammenhang zwischen Terminüberschreitung und Totgeburtsrisiko
darzustellen.
Diskussion der Ergebnisse: Die Diskussion zeigt, dass Studien zu verschiedenen Ergebnissen bezüglich der Totgeburtenrate
ab SSW 41 + 0 kommen. Nur eine Metaanalyse konnte einen signifikanten Unterschied
in der Totgeburtenrate zugunsten der Geburtseinleitung feststellen. Auf diese Ergebnisse
bezieht sich auch die DGGG-Leitlinie. Es wird jedoch diskutiert, dass es andere Todesursachen
in der Gruppe des abwartenden Vorgehens gab – z. B. waren in dieser Gruppe auch Kinder
mit angeborenem Herzfehler oder anderen Anomalien, außerdem gab es echte Nabelschnurknoten
– und dass sich deshalb die Totgeburten nicht eindeutig auf die TÜ zurückführen lassen.
Insgesamt konnten bei steigender Rate von Geburtseinleitungen bei TÜ keine rückläufigen
Totgeburtenraten beobachtet werden [11]. Dies zeigen die Ergebnisse der deutschen Studie von Schwarz et al. [34]. Die Forscher werteten perinatal Daten von 5291011 Geburten in Deutschland aus den
Jahren 2005-2012 aus. Sie kamen in ihrer Analyse zu dem Ergebnis, dass die fetale
Mortalitätsrate fast gleich blieb, obwohl die Geburtseinleitung in diesem Zeitraum
von 16,5 % auf 21,9 % anstieg [31].
Obwohl in der Arbeit ein komplexes Thema umfassend betrachtet wurde, erscheint limitierend,
dass keine systematische Literaturrecherche zugrunde liegt ‒ wie etwa bei einem nach
Prisma-Leitlinien durchgeführten systematischen Review.
Verschiedene Denkmodelle
Häufig liegen der Erforschung der physiologischen Schwangerschaft und Geburt zwei
Denkmodelle zugrunde: das schulmedizinische Denkmodell und das Denkmodell der physiologischen
Betreuung, auf welchem die Hebammenwissenschaft basiert:
-
Das schulmedizinische Denkmodell betreibt in der Regel Forschung aus dem Blickwinkel des medikalisierten Geburtsmanagements.
In diesem Denkmodell wird der Körper als eine Art Maschine verstanden, in dem durch
aktives Management interveniert wird, um Schäden abzuwenden und Morbidität und Mortalität
zu verhindern.
-
Im Denkmodell der physiologischen Betreuung ist die Beziehungsebene im Kontext der Betreuung wichtig. Ein „gutes Outcome“ und
der Erhalt der Gesundheit stehen im Vordergrund [32].
Wird eine Terminüberschreitung bis SSW 42 + 0 aus dem Denkmodell der physiologischen
Betreuung betrachtet, so gilt diese Schwangerschaftsdauer als gesund und physiologisch.
Um Gesundheit und Wohlbefinden zu erhalten, würden demnach Interventionen vermieden
werden, um daraus entstehende Schäden zu verhindern. Ganz nach dem Prinzip von David
Steward:
„Wenn die Natur wirkt, lässt sie sich nicht verbessern. Technologie kann keinen funktionierenden
natürlichen Prozess verbessern ‒ höchstens beschädigen oder zerstören.“
David Steward [32].
Aus der Perspektive des medizinischen Denkmodells gelten Interventionen dagegen als
notwendig, um Schäden zu vermeiden und um mögliche Morbidität und Mortalität zu verhindern.
Sowohl das medizinische Denkmodell als auch Studien mit medizinischem Forschungsansatz
lassen also eine Wissenschaft entstehen, welche die Notwendigkeit von Interventionen
hervorhebt. Die Bedürfnisse und das Erleben von Frauen, die Geburtseinleitungen erleben,
waren bis dato nur von geringem Interesse in diesem Denkmodell und Forschungsansatz
[32].
Was für die Praxis bleibt
Was für die Praxis bleibt
Schwangere Frauen befinden sich im Falle einer TÜ in einer komplexen Entscheidungssituation.
Sie müssen u. a. Nutzen und Schaden für sich selbst sowie gegen die angenommene Gesundheit
ihres ungeborenen Kindes abwägen. Leider fehlen hier oft Entscheidungshilfen. Studien
(REF) zeigen, dass Frauen sich zudem auch durch das betreuende Fachpersonal verunsichert
fühlen.
Von ihrer Hebamme wünschen sich betroffene Frauen Unterstützung in der Entscheidungsfindung
zum individuellen Vorgehen nach TÜ. Zusätzlich wünschen sie sich Informationen über
Vor- und Nachteile der Geburtseinleitung und über die Möglichkeit des abwartenden
Verhaltens auf den natürlichen Geburtsbeginn [32]
[31].
Um Frauen im Rahmen eines partizipativen Entscheidungsprozesses bestmöglich zu unterstützen,
sollte die Hebamme die Frau umfassend und frühzeitig informieren. Dazu gehört, sie
sowohl über Risiken, Eventualitäten und Wahrscheinlichkeiten als auch über Überwachungsmöglichkeiten
und wahrzunehmende Kontrolluntersuchungen sowie über die verschiedenen Einleitungsmethoden
aufzuklären [12]. Die Eltern müssen einerseits über die Physiologie einer Terminüberschreitung und
mögliche Risiken informiert werden. Genauso benötigen sie Informationen über das gesteigerte
Risiko von Interventionen und über Risiken nach der Geburtseinleitung sowie über die
hohe Wahrscheinlichkeit für einen natürlichen Geburtsbeginn.
Betroffenen Frauen sollten auch alternative Möglichkeiten zur medizinischen Geburtseinleitung
angeboten werden, die den Geburtsbeginn anregen, jedoch geringe Interventionen und
Risiken mit sich bringen sollen. Die von Hebammen empfohlenen Maßnahmen reichen z. B.
von Wehentee, Ut-Öl, Geschlechtsverkehr und Nelkenöltampons über Brustwarzenstimulation
und Louwen-Diät bis hin zur Eipollösung. Wirksamkeit und Risiken dieser Methoden wurden
jedoch bisher nur unterschiedlich gut erforscht.
Ein bestmögliches Outcome für Mutter und Kind mit minimal notwendiger Intervention
sollte bei der Debatte um das richtige Vorgehen bei Terminüberschreitung stets im
Vordergrund stehen.