Ergotherapie für Pferde – eine Begriffsbestimmung
Der Begriff der Ergotherapie stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Gesundung
durch Handeln und Arbeiten. Im Humanbereich gehört die Ergotherapie zu den medizinischen
Heilberufen. Sie ist dort bereits seit Jahrzehnten fester Bestandteil des therapeutischen
Spektrums und wird erfolgreich als anerkanntes Heilmittel eingesetzt. Die Ergotherapie
geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus. Als Therapieform verfolgt sie vor allem
das Ziel, die Handlungsfähigkeit des Menschen im Alltagsleben präventiv zu fördern
oder wiederherzustellen.
In gewissem Rahmen und mit einigen Modifikationen können die Prinzipien der Ergotherapie
auch auf das Pferd übertragen werden:
Ergotherapie für Pferde oder Pferdeergotherapie unterstützt und begleitet Pferde jeden
Alters und jeder Rasse, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung
bedroht sind. Ziel ist es, sie bei der Durchführung von für ihre Gesundheit bzw. für
ihren Besitzer bedeutungsvoller Betätigungen im Pferdealltag zu stärken. Hierbei dienen
spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratungen des Besitzers dazu, dem Pferd
die Handlungsfähigkeit in ihm vom Besitzer vorgegebenen Alltag und eine Verbesserung
seiner Lebensqualität zu ermöglichen [1].
Es geht also darum, die Handlungsfähigkeit des Pferdes und damit den Pferdealltag zu verbessern. Während die Tierphysiotherapie eher einen funktionsorientierten Ansatz verfolgt,
geht es bei der Ergotherapie um einen handlungsorientierten Ansatz.
Dabei ist besonders die Rolle des Pferdebesitzers zu beachten. Er muss eine sogenannte
Compliance, also ein kooperatives Verhalten entwickeln, um die Probleme seines Pferdes akzeptieren,
angehen und ressourcenorientiert handeln zu können. So wird auch der Umgang des Pferdebesitzers
mit dem Pferd als Ausgangspunkt für Veränderungen genutzt. Schließlich liegt es in
seiner Verantwortung und Verpflichtung, den Pferdealltag und die Betätigungsbereiche
des Pferdes so zu gestalten, dass ein art- und tierschutzgerechtes Pferdeleben möglich
ist. Deshalb eruiert der Therapeut in enger Kommunikation mit dem Pferdebesitzer,
in welchen Lebens- und Alltagsbereichen des Pferdes Verbesserungen notwendig oder
wünschenswert sind.
Die Wahrnehmungsverarbeitung und die Basissinne beim Pferd
Den Grundstein für die ergotherapeutische Intervention am Pferd bildet die sogenannte
sensorische Integration. Die amerikanische Entwicklungspsychologin Jean Ayers hat diesen Begriff im Humanbereich
definiert:
Die sensorische Integration sortiert, ordnet und vereint alle sinnlichen Eindrücke
des Individuums zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion [2].
Vereinfacht ausgedrückt bedeutet sensorische Integration soviel wie „Wahrnehmungsverarbeitung“. Die Prinzipien der sensorischen Integration können auf Pferde übertragen werden:
Alle Informationen, die über die Sinnessysteme – die sogenannten Basissinne – aufgenommen
werden, werden integriert. Das heißt, sie werden im Nervensystem und Gehirn weitergeleitet,
verarbeitet und gedeutet, sodass Pferde in bestimmten Situationen auf eine bestimmte
Art und Weise handeln.
Die Existenz und das Zusammenwirken der Basissinne ermöglicht dem Pferd – über eine
entsprechende Reizaufnahme – eine Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit. Hierbei
gilt es zu beachten, dass der Organismus polymodal funktioniert, d. h. dass kein Basissinn
isoliert von den anderen funktioniert. Die 3 Basissinne, das taktile, das propriozeptive und das vestibuläre System, sind somit stets in
ihrem Zusammenwirken zu betrachten.
Das taktile System
Es ist als größtes Wahrnehmungssystem für die Wahrnehmung der Oberflächensensibilität
verantwortlich und umfasst den Körper mit seiner gesamten Hautoberfläche: Die Haut
schützt das Pferd als größtes Organ vor mechanischen, chemischen und thermischen Einflüssen.
Sensoren, die über die gesamte Hautoberfläche verteilt sind, nehmen die verschiedenen
Reize im Sinne der nervalen Informationsvermittlung auf und leiten sie weiter. Die
Informationen der taktilen Wahrnehmung vermitteln dem Pferd Kenntnis von der Ausdehnung
und den Grenzen des eigenen Körpers.
Das propriozeptive System
Das System ist für die Wahrnehmung der Tiefensensibilität verantwortlich. Mithilfe
der Propriozeptoren wird die Stellung der Glieder zueinander sowie die Gliederbewegung
und Muskelspannung registriert. Ebenso werden Bewegungen und Haltungen, die durch
die eigene Bewegung entstehen, wahrgenommen. So wird es dem Pferdekörper ermöglicht,
jederzeit die Stellung der Extremitäten zu erfassen und die Muskelkraft zu dosieren,
mit der einzelne Körperteile bewegt werden.
Das vestibuläre System
Das vestibuläre System oder Gleichgewichtssystem sorgt für die Aufrechterhaltung des
Körpers und die Orientierung im Raum. Das Vestibularorgan liegt im Innenohr am Felsenbein
und bildet eine anatomische Einheit mit dem Hörorgan. Dort werden z. B. Drehbeschleunigungen,
Richtungsänderungen und die Schwerkrafteinwirkung registriert. Das vestibuläre System
ermöglicht geordnete Körperhaltungen und -bewegungen.
Die Wahrnehmungsverarbeitung sorgt somit dafür, dass das Pferd durch das Zusammenspiel
der Basissinne ein hinreichendes Körperbewusstsein und eine entsprechende Körperwahrnehmung erlangt. Ist die Wahrnehmung über die Basissinne nicht adäquat möglich oder gibt
es Defizite in der Wahrnehmungsverarbeitung, können sich gewisse Fähigkeiten des Pferdes
wie etwa Balance, Koordination und Durchlässigkeit nicht im notwendigen Ausmaß entwickeln.
Diese Defizite äußern sich oftmals in Verhaltensweisen, die von vielen Pferdebesitzern
gerne als „Unart“ fehlinterpretiert werden.
Indikationen
Indikationen für eine ergotherapeutische Behandlung des Pferdes sind variationsreich
und können ganz unterschiedlich aussehen. Gemein ist ihnen allen, dass das Pferd in
den aufgeführten Situationen einer Stimulierung der Basissinne ausgesetzt ist. Somit
können alle Auffälligkeiten, die auf Defizite in der Wahrnehmung bzw. der Wahrnehmungsverarbeitung des Pferdes schließen lassen können, als Behandlungsindikationen gewertet werden.
Der Pferdealltag ist breit gefächert und kann in verschiedene Alltagssituationen gegliedert
werden.
Beispiele für Indikationen sind Auffälligkeiten …
-
im Stall: Das Pferd hat häufig kleinere, oberflächliche Verletzungen und Schürfwunden
an der Haut, weil es an Wänden, Türen, Futterraufen etc. anstößt.
-
im täglichen Umgang: Das Pferd lässt sich nicht oder nur schwer eindecken oder beißt
nach der Decke.
-
bei der Bodenarbeit: Beim Übertreten von Stangen stößt das Pferd sehr häufig mit den
Hufen an die Stangen.
-
beim Reiten: Sobald der Reiter Seitengänge abrufen will, zeigt das Pferd Koordinationsprobleme
und/oder widersetzt sich den Hilfen.
-
beim Tierarzt: Das Pferd lässt sich keine Wurmkur ins Pferdemaul verabreichen, weil
es den Kopf nach oben reißt oder steigt.
Übungen zur Schulung der Basissinne
In der Praxis muss der Therapeut eine therapeutische Situation und Reizangebote schaffen, die eine gezielte Schulung der Wahrnehmung ermöglichen. Dabei soll es weder
zu einer Reizüberflutung noch zu einer monotonen Stimulation kommen. Der Therapeut
muss also mithilfe von verschiedenen Therapiemedien, die schwerpunktmäßig einem Basissinn
zugeordnet sind, die Wahrnehmungsverarbeitung des Pferdes fördern und dabei stets
überprüfen, ob die Übung in der Ausführung, Dauer oder Schwierigkeit anzupassen ist.
Der Therapeut muss das Pferd präzise beobachten, um das therapeutische Setting stets
adaptieren zu können.
Stimulationsschwerpunkt taktiles System: Kombination Igelballroller und Balance-Pad-Klopfer
Material
Ein Igelballroller und ein Balance Pad.
Ausführung
Der Therapeut rollt das Pferd zunächst mit dem Igelballroller mit moderatem Druck
und mit dem Strich des Pferdefells ab, wobei knöcherne Stellen (vor allem die Wirbelsäule)
ausgespart werden. Die meisten Pferde sind es gewohnt, an der Schulter berührt zu
werden, insofern bietet es sich an, dort zu beginnen. Das Abrollen erfolgt rhythmisch
und für 2 Minuten [Abb. 1].
Abb. 1 Der Therapeut rollt mit moderatem Druck in Fellrichtung. Knöcherne Stellen werden
nicht abgerollt. © Yvonne Katzenberger, Ruth Katzenberger-Schmelcher
Im Anschluss wird das Balance Pad auf der Schulter aufgelegt und der Therapeut klopft
mit moderatem Druck für 2 Minuten mit den flachen Händen rhythmisch auf das Pad. So
arbeitet er sich bis zur Kruppe vor. Im Anschluss wird das Pferd wiederum für 2 Minuten
mit dem Igelballroller abgerollt [Abb. 2].
Abb. 2 Der Therapeut klopft mit den flachen Händen rhythmisch auf das Balance Pad. © Yvonne
Katzenberger, Ruth Katzenberger-Schmelcher
Funktion
Beim Abrollen mit dem Igelballroller werden hauptsächlich die sich in der Haut befindlichen
Merkelzellen und Ruffini-Körperchen stimuliert. Durch das Abrollen werden auch die
Vater-Pacini-Körperchen angeregt. Der Druck wird beim Abrollen großflächiger gegeben,
wohingegen er beim Abklopfen mit dem Balance Pad diffuser und auf kleineren Flächen
gesetzt wird.
Merkelzellen, Ruffini- und Vater-Pacini-Körperchen zählen zu den Mechanorezeptoren, die der Wahrnehmung mechanischer Reize dienen [1].
Sie werden funktionell klassifiziert und in folgende Reaktionsgruppen eingeteilt:
Die Lage der Rezeptoren in der Haut und die Innervationsdichte, d. h. die Zahl der
afferenten Fasern/cm2 in der Haut, bestimmen die Größe der rezeptiven Felder.
Die SA-I-Rezeptoren adaptieren langsam, sie bilden auf einen lang andauernden Reiz
kontinuierlich Aktionspotenziale. Hierzu zählen die Merkelzellen, die in der Epidermis und in den Sinushaaren vorkommen und hauptsächlich auf Druck
und Zugreize reagieren.
Die SA-II-Rezeptoren, die als Ruffini-Körperchen beschrieben werden und sich in der Dermis befinden, adaptieren hingegen langsam auf
Reize und reagieren hauptsächlich auf Dehnung der Haut.
Die Vater-Pacini-Körperchen (PC) sind rasch adaptierende Mechanorezeptoren in den tieferen Schichten der Haut,
die besonders gut Vibrationsempfindungen vermitteln.
Anwendungsbereiche
Diese Übung hilft Pferden, ihre Körpergrenzen besser einschätzen zu können. So legen
sich Pferde beim Wälzen seltener fest oder zeigen seltener kleine, oberflächliche
Hautverletzungen. Auch beim Sattel- oder Gurtzwang kann diese Übung sinnvoll sein.
Stimulationsschwerpunkt propriozeptives System: die Raute
Material
Sie benötigen 4 Bodenstangen (Länge 3 m) und 8 Pylonen. Die Bodenstangen werden als
Raute gelegt, jeweils 2 Pylonen werden mittig an 1 Stange gestellt, sodass zwischen
den Pylonen ca. 50 cm Abstand bestehen. In der Mitte der Raute wird eine Gymnastikmatte
aus Qualitätsschaumstoff ausgelegt [Abb. 3].
Abb. 3 Die Stangen werden in Form einer Raute gelegt, die Gymnastikmatte befindet sich in
der Mitte der Raute. © Yvonne Katzenberger, Ruth Katzenberger-Schmelcher
Ausführung
Der Therapeut führt das Pferd am lockeren Strick im Schritt durch die Pylonen über
die Bodenstange. Dabei zergliedert er die Bewegung so, dass das Pferd für jeweils
5 Sekunden angehalten wird, sobald 1 Vorderbein, 2 Vorderbeine und 1 Hinterbein über
die Stange gesetzt wurden. Anschließend führt er das Pferd über die Matte, hält es
für jeweils 10 Sekunden an, sobald beide Vorderhufe und anschließend alle 4 Hufe auf
die Matte gesetzt wurden. Danach führt er das Pferd ohne Unterbrechung über die gegenüberliegende
Stange. Nun geht er in einer großzügigen Volte eine der Bodenstangen an, die das Pferd
noch nicht überstiegen hat und wiederholt die Übung mindestens 6-mal [Abb. 4].
Abb. 4 Das Pferd wird am lockeren Strick geführt, sodass es die Möglichkeit hat, den Kopf
ohne Einwirkung gerade zu halten. © Yvonne Katzenberger, Ruth Katzenberger-Schmelcher
Funktion
Die kinästhetische Differenzierungs-, Kopplungs-, Balance- und Reaktionsfähigkeit
werden geschult. Die Rautenform sorgt dafür, dass die Stangen in unterschiedlichen
Winkelungen überstiegen werden müssen.
Anwendungsbereiche
Diese Übung empfiehlt sich insbesondere bei Pferden, die häufig an Bodenstangen anstoßen,
egal ob mit oder ohne Reiter. Sie ist auch geeignet für Pferde, denen es schwerfällt
innerhalb einer Gangart die Geschwindigkeit zu variieren. Durch diese Übung wird ein
gezieltes Auffußen der Pferdebeine angebahnt. Die exakt abgestimmten Teilkörperbewegungen
des Pferdes müssen sich stets einer veränderten Unterstützungsfläche anpassen. Das
Laufen über einen forminstabilen Untergrund (die Matte) fördert die Balancefähigkeit
und die Umstellungsfähigkeit.
Stimulationsschwerpunkt vestibuläres System: die Schaumstoffgassenbrücke
Material
Sie benötigen 3 Schaumstoffgassen und 1 Gymnastikmatte. Die 3 Gassen werden aneinander
und die Matte darübergelegt.
Ausführung
Der Therapeut führt das Pferd im Schritt am lockeren Strick über die Gymnastikmatte.
Die Übung wird 8-mal wiederholt [Abb. 5].
Abb. 5 Die über die Gassen gelegte Gymnastikmatte sorgt für einen forminstabilen und stark
nachgebenden Untergrund. © Yvonne Katzenberger, Ruth Katzenberger-Schmelcher
Funktion
Durch Betreten des forminstabilen und stark nachgebenden Untergrunds erhält das Vestibularorgan
vermehrt Reize aus der Peripherie. So werden auch unbekannte, nicht abgespeicherte
Vestibularreize adäquat in das Bewegungsrepertoir integriert. Durch die natürliche
Schrittfolge werden Reize des gewohnten Untergrunds (Reitplatzboden) mit Reizen des
ungewohnten Untergrunds (Schaumstoffgassenbrücke) kombiniert. Diese vestibulären Reize
müssen entsprechend verarbeitet und integriert werden.
Anwendungsbereiche
Diese Übung eignet sich vor allem für Pferde, die taktunklar laufen und viel stolpern.
Auch Pferde, die im Gelände Schwierigkeiten mit unterschiedlichen Bodenverhältnissen
haben oder die sich beim Longieren und unter dem Sattel besonders unausbalanciert
zeigen, profitieren von dieser Übung.
Zusammengefasst für die Praxis
Die Basissinne des Pferdes und damit die Fähigkeit zur Körperwahrnehmung können gezielt
gefördert werden. Ergotherapeutische Interventionen können damit andere Therapieformen
zielführend ergänzen und insbesondere dem Pferdebesitzer einen neuen Zugang zu seinem
Pferd eröffnen.
Ergotherapie für Pferde
Basissinne schulen – Koordination und Wahrnehmung verbessernRuth Katzenberger-Schmelcher, Yvonne Katzenberger 2019, ca. 190 Seiten, 200 Abbildungen, Georg Thieme Verlag KG ISBN Buch 978-3-13-242872-0 /ISBN
ePub 978-3-13-2428274-4 /ca. 59,99 €