Abkürzung
pDMS:
periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität
Grundlagen
Das Schultergelenk ist bei Luxationen das am häufigsten betroffene Gelenk. Die Hauptursachen
sind meist ein adäquates Trauma oder eine chronische Instabilität. Vor allem Wurf-
oder Vollkontaktsportler zeigen ein erhöhtes Risiko für diese Verletzung, aber auch
Snowboarder und Surfer sind nicht selten betroffen.
Mehr als 95% der Schulterluxationen erfolgen nach ventral [1]. Junge erwachsene Männer erleiden diese Verletzung am häufigsten nach einem adäquaten
Trauma im Sinne eines Gegnerkontakts bei abduziertem, außenrotiertem Arm ([Abb. 1]) oder im Rahmen eines Sturzes auf den ausgestreckten Arm.
Abb. 1 Durch Gegnerkontakt an Unterarm und Hand, beispielsweise in der Wurfbewegung, kann
eine vordere Schulterluxation ausgelöst werden.
Ein Sturz nach vorne, auf den ausgestreckten Arm, kann auch eine – mit 3% aller Schulterluxationen
deutlich seltenere – posteriore Luxation ([Abb. 2]) auslösen. Auch wenn die posteriore Schulterluxation sehr selten ist, sollte sie
nicht übersehen werden. Eine Chronifizierung bedeutet in den meisten Fällen eine operative
Therapie bis hin zur endoprothetischen Versorgung. Als Raritäten sind die superioren
Luxationen und die Luxatio erecta ([Abb. 3]) zu finden.
Abb. 2 Durch einen Vorwärtssturz auf den ausgestreckten Arm kann eine hintere Schulterluxation
provoziert werden. Analog kann ein Rückwärtssturz auf die ausgestreckten Arme eine
vordere Schulterluxation auslösen.
Abb. 3 Klinisches Bild einer Luxatio erecta. Der Patient kann durch die verhakte Situation
den Arm nicht mehr adduzieren.
Wann Schulter reponieren – und wann nicht?
Wann Schulter reponieren – und wann nicht?
Präklinische Diagnostik
Zur Erstdiagnostik sollte die Schulter inspiziert und im Anschluss eine Bewegungsprüfung
durchgeführt werden. Auffällig wird die Schulterluxation meist durch eine schmerzhafte
Bewegungseinschränkung. Die Gelenkkonturen sind im Seitenvergleich verändert und ggf.
das leere Glenoid palpabel. Bei offensichtlicher Fehlstellung und eingeschränkter
Beweglichkeit besteht somit der Verdacht auf eine Luxation. Es sollten orientierend
periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität (pDMS) der Extremität geprüft werden.
[3]
Take Home Message
Nur bei auffälliger pDMS (periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität) besteht
die Indikation zur sofortigen Reposition. In allen anderen Fällen ist ein zeitnaher
Transport unter ausreichender Analgesie in die nächste Klinik anzustreben.
Klinische Diagnostik
Innerklinisch wird erneut die oben genannte klinische Diagnostik durchgeführt und
durch Röntgen im anterior–posterioren und axialen oder Y-Strahlengang ergänzt ([Abb. 4], [Abb. 5]).
Abb. 4 Röntgenbild einer rechten Schulter in Y-Aufnahmetechnik mit Nachweis einer vorderen
Schulterluxation.
Abb. 5 Röntgenbild einer rechten Schulter in a.–p. Strahlengang mit Nachweis einer Schulterluxation
mit Tuberculum-majus-Fraktur und Glenoidfraktur.
Merke
Die Röntgenbildgebung dient zur Sicherung der Diagnose bzw. dem Ausschluss einer Fraktur
oder von Begleitverletzungen und ist somit nicht zuletzt aus forensischen Gründen
einer präklinischen Reposition vorzuziehen. Sie ist zudem wichtig, da 60% der dorsalen
Schulterluxationen bei initialem Arztkontakt übersehen werden und zu einer chronischen
Luxation führen können [4].
Die schonende Reposition erfolgt nach der Diagnosesicherung.
Take Home Message
Vor der Reposition sollte, abgesehen von wenigen Ausnahmefällen, immer eine Röntgendiagnostik
erfolgen.
Technik der Schulterreposition
Technik der Schulterreposition
Eine Vielzahl von Repositionstechniken ist beschrieben. Während Patienten mit Erstluxationen
häufig in Analgosedierung reponiert werden müssen, können Patienten mit rezidivierenden
Luxationen auch zur Selbstreposition, z. B. nach Stimson, angeleitet werden.
Tipp
Die Reposition lässt sich durch adäquate Analgesie und ggf. auch milde Sedierung zur
Muskelentspannung deutlich erleichtern.
Cave
Harsche oder ruckartige Repositionsversuche sind unbedingt zu vermeiden, um Folgeverletzungen
wie Plexusläsionen, Weichteilschäden oder Frakturen zu verhindern.
Schulterreposition nach Matsen
Schulterreposition nach Matsen
Schritt 1 Hilfsmittel anlegen
Sie können die Reposition allein oder mit Helfer durchführen. In jedem Fall legen
Sie sich ein Hilfsmittel (z. B. ein Tuch) ringförmig um das Becken und verknoten es
([Abb. 6]).
Abb. 6 Knoten Sie sich vor der Schulterreposition ein Hilfsmittel (z. B. eine Unterlage)
um die Taille.
Schritt 1a Helfermethode
Bei zu erwartender erschwerter Reposition sollten Sie einen Helfer hinzuziehen und
ein Tuch zum Gegenhalten einmal um den Thorax des Patienten legen ([Abb. 7]).
Abb. 7 Legen Sie eine weitere Unterlage für die Helfermethode um den Brustkorb des Patienten
für einen Gegenhalt.
Schritt 2 Arm des Patienten positionieren
Beim ausreichend analgosedierten Patienten führen Sie den Unterarm durch den umgelegten
Gurt und flektieren im Ellenbogen um 90°. Zusätzlich halten Sie den Arm leicht abduziert
([Abb. 8]). Übliche Dosierungen für häufig zur Schulterreposition verwendete Medikamente sind
in [Tab. 1] aufgeführt.
Abb. 8 Legen Sie für die Reposition den gebeugten Arm des Patienten in die Schlaufe und
greifen Sie zusätzlich das Handgelenk.
Tab. 1 Dosierungsvorschläge für gebräuchliche Medikamente bei einer Schulterreposition.
Präparat
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Dosis
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Richtdosis 70 – 80 kgKG
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Fentanyl
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0,6 – 2,5 µg/kgKG i. v.
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0,05 – 0,2 mg i. v.
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Propofol
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0,5 – 1 mg/kgKG i. v.
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60 mg i. v.
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Midazolam
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0,03 – 0,1 mg/kgKG i. v.
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1 – 2 mg i. v.
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Esketamin
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0,3 – 0,5 mg/kgKG i. v.
|
25 – 50 mg i. v.
|
Schritt 3 Zug ausüben
Durch langsames Verlagern des Körpergewichtes können Sie stetigen Zug auf den Arm
ausüben, bis die Schulter reponiert ist ([Abb. 9]).
Tipp
Die zusätzliche Außenrotation des Patientenarmes kann auch bei ausbleibender Reposition
noch zum Zurückspringen des Kopfes in die Pfanne führen.
Abb. 9 Verlagern Sie Ihr Körpergewicht langsam nach hinten, um gleichmäßigen, stetigen Zug
auf die Schulter auszuüben, bis die Schulterreposition erfolgt ist.
Schritt 3 a Helfermethode
Durch den Einsatz eines Helfers kann ein Gegenzug aufgebaut werden. Hierbei ist darauf
zu achten, keine übermäßige Gewalt einwirken zu lassen ([Abb. 10]). Sollte die Schulter nicht zu reponieren sein, ist ggf. die Analgosedierung zu
vertiefen. Auch eine Außenrotation der luxierten Schulter kann versucht werden. In
seltenen Fällen liegt ein Repositionshindernis vor.
Abb. 10 Der Helfer kann durch Gegenzug ein Verrutschen des Patienten auf der Unterlage verhindern.
Sollte die Schulterreposition trotzdem nicht erfolgreich sein, kann zusätzlich eine
Außenrotation der luxierten Schulter versucht werden.
Schulterreposition nach Hippokrates
Schulterreposition nach Hippokrates
Cave
Dieses Repositionsmanöver sollte nur als Notfallvariante betrachtet werden.
Aufgrund des vergleichsweise schmerzhaften und komplikationsträchtigen Ablaufs stehen
viele andere Repositionsmanöver im Vordergrund. Beschriebene Verletzungen nach brüsker
Reposition nach Hippokrates reichen über Gefäßverletzungen und Plexusschäden bis hin
zu Frakturen [5].
Schritt 1 Axialer Zug auf den Arm
Nach Analgesie bzw. milder Analgosedierung üben Sie axialen Zug auf den Arm aus ([Abb. 11]).
Abb. 11 Für die Schulterreposition lagern Sie den Patienten in Rückenlage und greifen den
Arm proximal des Handgelenks.
Schritt 2 Zug verstärken
Sie können den Zug auf den Arm verstärken, wenn Sie sich bei der Reposition am Thorax
oder in der Achsel des Patienten abstützen ([Abb. 12]). Ziehen Sie sich das Schuhwerk vor der Reposition aus.
Analog zur Repositionsmethode nach Matsen sollten Sie auf übermäßige Gewalteinwirkung
verzichten und, falls nötig, die Analgosedierung vertiefen, um ein Gegenspannen des
Patienten zu verhindern.
Abb. 12 Stellen Sie einen Fuß in die Achsel oder gegen den Thorax des Patienten, um bei gleichmäßigem,
axialem Zug ein Gegenlager zu erzeugen, bis die Schulter reponiert ist.
Selbstreposition nach „Davos“ (Boss-Holzach-Matter)
Selbstreposition nach „Davos“ (Boss-Holzach-Matter)
Schritt 1 Handgelenke zusammenbinden
Für Patienten mit habitueller Schulterluxation oder bei einer Reposition in schwierigem
Gelände ohne Hilfsmittel kann die Methode der Selbstreposition genutzt werden. Binden
Sie hierfür die Handgelenke des Patienten mit einer Binde locker zusammen ([Abb. 13]).
Abb. 13 Binden Sie die Handgelenke des Patienten locker zusammen.
Schritt 2 Handgelenke über das aufgestellte Knie legen
Applizieren Sie ggf. eine ausreichende Analgesie und lassen Sie den Patienten die
zusammengebundenen Handgelenke über das gebeugte Bein der verletzten Seite legen ([Abb. 14]).
Abb. 14 Lassen Sie für die Schulterreposition den Patienten seine zusammengebundenen Handgelenke
über sein Knie legen.
Schritt 3 Zug ausüben
Fordern Sie den Patienten auf, sich zunehmend rückwärts zu lehnen. Dieser kann so
selbst die Reposition angepasst an das Schmerzniveau durchführen. Eine schonende Reposition
wird somit erreicht. Durch Rückverlagerung des Kopfes kann der Zug auf den Arm langsam
gesteigert werden ([Abb. 15]).
Abb. 15 Fordern Sie den Patienten auf, sich zurückzulehnen, um so kontinuierlichen Zug auf
die Schulter auszuüben, bis die Schulter reponiert ist.
Tipp
Wenn Sie den Fuß des gebeugten Beines fixieren, kann der Patient langsam mehr Zug
aufbauen.
Nach der Reposition
Nach erfolgreicher Reposition sollte erneut eine Überprüfung und Dokumentation der
pDMS erfolgen. Die Ruhigstellung erfolgt mittels einer Bandage in Innenrotation. Ebenfalls
obligat ist die erneute Röntgenbildgebung des Schultergelenks in a.–p. und axialem
Strahlengang, um die erfolgreiche Reposition zu bestätigen und eventuell aufgetretene
knöcherne Läsionen insbesondere am Glenoid auszuschließen.
Fazit
Eine Schulterluxation stellt eine gut therapierbare Verletzung dar. Sie kann ganz
ohne oder mit einfachen Hilfsmitteln durchgeführt werden. Folgende Punkte sind bei
der Schulterreposition zu beachten:
-
Eine präklinische Schulterreposition sollte nur bei eingeschränkter pDMS oder nicht
absehbarer Transportzeit in die nächste Klinik erfolgen, da ein Frakturausschluss
vor Ort schwierig ist.
-
Eine ausreichende Analgesie oder Analgosedierung erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit
und minimiert das Auftreten von Begleitverletzungen bei der Reposition.
-
Brüske Repositionsversuche sind zu vermeiden.
-
Bei ausbleibendem Erfolg ist an eine ausreichende Analgesie oder ein Repositionshindernis
zu denken.
Koordination der Rubrik „Schritt für Schritt“
Dr. med. Felix Girrbach, Leipzig